Kalte Asche
Die in Deuschland aufgewachsene Journalistin dachte eigentlich, sie hätte das alles längst hinter sich: das Türkische, das Beten, die Diskriminierung. Und dann hat es sie eingeholt von der kalten Asche von Solingen.
Die Sonne schien, am Vortag des 29. Mai 1993. In dieser Nacht sollte sich vieles verändern. Ich sollte erwachsen werden. Ich war 23 Jahre alt, in zwei Wochen würde mein Geburtstag sein der sechste. Seit ich mit 18 von Zuhause weglief, zähle ich meine Geburtstage anders. Die Jahre der Freiheit sind meine neue Zeitrechnung. Doch dann passierte es, knallte in mein neues Leben. Ganz unerwartet. Über Nacht. So nah.
Vier Skinheads zündeten das Haus der türkischen Familie Genc in Solingen an. Der Samstag war gerade ein paar Stunden alt, als die Männer zwischen 16 und 24 Jahren Benzin in das Haus an der Unteren Wernerstraße 81 gossen. 19 Menschen schliefen. Um 2 Uhr 47 traf die Feuerwehr ein aber da stand das alte Fachwerkhaus schon vom Erdgeschoss bis zum Dachstuhl in Flammen. Bis zu dieser Nacht war die Stadt Solingen nur bekannt für seine scharfen Klingen. Die Flammen machten die Kleinstadt unrühmlich berühmt.
Ich bekam vom Feuertod in der Nacht zunächst nichts mit. Nicht, wie ein 18-jähriges Mädchen und drei kleine Kinder im Feuer starben; nicht, wie eine 27-jährige Frau aus dem zweiten Stock in den Tod sprang; nicht, wie Mevlüde Genc ihren Enkel mit ihrer Schürze auffing und auch nicht, wie drei weitere Mitglieder der Familie brennend auf dem Pflaster aufschlugen. Ich goss gerade Sambuca in kleine Gläser, schmiss eine Kaffeebohne rein, zündete ihn an und prostete den Gästen zu. Ich kellnerte damals in einer Diskothek.
Erfahren habe ich von der Solinger Nacht erst am nächsten Tag. Es war Pfingstsamstag, ich schlief lang. Schockiert starrte ich immer wieder auf die Fernsehbilder, die in Zeitlupe an mir vorbeizogen. Hörte Namen, die mir so vertraut waren: Hatice, Hülya, Gürsun, Saime, Gülüstan. Mevlüde Genc. Vielleicht fühlte ich mich ihr so nah, weil sie aussah wie meine Mutter. Mevlüde band ihr Kopftuch genau wie sie, mit zwei Knoten unterhalb ihres Kinns. Mir wurde schlagartig klar, die Toten hätten meine Geschwister sein können.
Der Schmerz lähmte mich. Was tun? Wenn ich schnell fuhr, konnte ich in knapp einer Stunde von Duisburg aus in Solingen sein. Es wurde eine anstrengende Fahrt. Ich hatte Angst vor dem, was ich erleben würde. Damals war ich noch keine Journalistin. Es war nicht mein Job, über etwas zu berichten. Ich fuhr nach Solingen als Betroffene.
Ein halbes Jahr zuvor, am 23. November 1992, hatte es schon einmal einen Brandanschlag auf ein türkisches Familienhaus gegeben in Mölln. Doch zu der Zeit war ich in New York. Ich hörte die Nachricht im amerikanischen Fernsehen, die US-Medien ließen wieder die Nazis in Deutschland aufmarschieren, eine New Yorker Boulevard-Zeitung brachte Neonazis auf der ersten Seite, Titel: Deutschland wieder in der Hand der Nazis. Ich rief bei meiner Familie an. Sie beruhigten mich: Es war nur ein Anschlag, sagte mein Vater. Ich schämte mich ein bisschen dafür, dass ich geglaubt hatte, die Nazis könnten so einfach die Macht in Deutschland wieder übernehmen. In Mölln starben Bahide, Yeliz und Ayse. Neun weitere wurden schwer verletzt.
An der Unteren Wernerstraße in Solingen hatten sich an diesem Pfingstsonntag Hunderte von Menschen versammelt. Ich sah die Balken des Dachstuhls, die wie ein Mahnmal in den Himmel ragten, als ich die Straße zum Haus hinunter lief. Vor der Ruine brannten Mahnfeuer, türkische Männer standen wütend an der Brandruine und skandierten: Rache, auf Türkisch. Ich tastete mich Meter für Meter heran und mit jedem Schritt wurde mir klarer: Ich gehöre zu ihnen.
Genau das hatte ich doch nicht mehr gewollt. Ich hatte sie verlassen, lebte jetzt mein eigenes, freies Leben. Endlich kein Kopftuch mehr! keine mahnenden, bevormundenden Eltern! keine Koranschule! kein Gebet!
Vor dem Blumenmeer blieb ich stehen, sank in die Knie und öffnete meine Arme zum Gebet. Nach fast fünf Jahren betete ich zum ersten Mal wieder. Freiwillig, ohne dass mein Vater mich zwang. Ich sprach die auswendig gelernten Suren aus dem Koran, von denen ich dachte, dass ich sie bereits vergessen hätte. Raunte Amin. Hatte Allah mich wieder?
In den Stunden darauf erlebte ich, wie Türken und Deutsche über Ausländerhass diskutierten. Die einen beklagten sich, dass sie nicht akzeptiert werden; die anderen warfen ihnen vor, sich nicht genug anzupassen. Ein kleiner Junge mit blutüberströmtem Gesicht kam mir entgegen. Der Stein eines Demonstranten hatte ihn getroffen. Ich sah junge Türken, die randalierend durch die Innenstadt von Solingen zogen und Fensterscheiben einschlugen; Türken, die von Polizisten eingekreist waren, rechtsextreme Türken und linksextreme Deutsche, die den Anschlag nutzten.
Es war schon dunkel, als ich nach Duisburg zurückfuhr. Zu Hause suchte ich nach einem weißen Bettlaken, nahm einen dicken Pinsel, rote Farbe und schrieb: Trauer um die Opfer von Solingen. Die Os liefen ein bisschen runter, wie Tränenrinnsale. Ich öffnete mein Fenster und klemmte das Laken zwischen die Rahmen. Am nächsten Morgen sagte meine deutsche Nachbarin: Na, das Ding da verunstaltet aber die Häuserwand. Ich schämte mich ein wenig und sagte nichts.
Fünf Tage nach dem Anschlag versammelten sich über 8.000 Menschen vor der Kölner Hauptmoschee zur Trauerfeier. Die Särge der fünf Opfer waren im Innenhof aufgebahrt, in die türkische Fahne gehüllt, mit roten, gelben und rosa Nelken bedeckt. Später zogen viele von ihnen schweigend durch die Solinger Innenstadt. In ganz Deutschland bildeten Tausende Menschen Lichterketten, die ins Dunkel leuchteten.
Zehn Jahre sind seither vergangen. Heute erinnert am Tatort in Solingen-Gräfrath eine Gedenktafel an den Brandanschlag. Wo das Fachwerkhaus stand, sind die Namen von Hatice, Hülya, Gürsun, Saime und Gülsutan in Kupfer gestochen: Opfer eines rassistischen Brandanschlags. Die Ruine des Hauses ist schon lange abgetragen, die Asche ist erkaltet.
13 Jahre wohnte Familie Genc an der Unteren Wernerstraße 81. Bis zu jener Nacht. Die vier jugendlichen Täter Felix K., Christian B., Christian K., Markus G. wurden wegen fünffachen Mordes, 14-fachen Mordversuchs und besonders schwerer Brandstiftung zu jeweils 10 und 15 Jahren Haft verurteilt. 45 Jahre Haft für fünf tote Frauen. Bei der Urteilsverkündung saßen die einen reglos da, die anderen schrien und tobten.
Im Laufe des Jahres 1993 wurden 300 weitere ausländerfeindliche Anschläge verübt. Etliche neonazistische Verbände und Vereinigungen wurden verboten. Mölln, Solingen, Hoyerswerda, Singen, Wangen. Das sind nur ein paar der Orte, die durch rassistische Angriffe auf Ausländer bekannt wurden. Die Liste der Orte, die im verborgenen bleiben, ist lang.
2002, am zehnten Jahrestag vom Möllner Brandanschlag, warfen Unbekannte in der Kleinstadt mehrere Brandsätze in eine Moschee. Es kam niemand zu schaden, die Scheiben sind drahtverstärkt, die Brandsätze prallten an ihnen ab. Im Gebäude waren zu dem Zeitpunkt der Imam mit seiner Frau und den zwei Kindern.
Dass sich die Täter für ihren Anschlag eine Moschee ausgesucht haben, sei nicht nur reine Ausländerfeindlichkeit, betonte die Polizei. Die Stimmung gegen Muslime habe sich negativ verändert, besonders nach dem 11. September.
Familie Genc ist nicht aus Solingen weggezogen. Mevlüde Genc und die Überlebenden des Brandanschlags wohnen in einem neuen Haus, das sie dank der Spendengelder bauen konnten. Die Lage des dreistöckigen Hauses haben sie sorgfältig ausgesucht. Es sollte bloß nicht abseits gelegen sein und ist gesichert wie eine Festung. Die Familie lebt hinter einem hohen Stahlzaun und mit 24-stündiger Videoüberwachung. Ein paar Jahre nach dem Anschlag lud Mevlüde Genc deutsche Jugendliche in die Türkei ein, um ihnen die Schönheit und Gastfreundlichkeit ihrer Heimat zu zeigen, denn: Wir müssen Freunde werden. Der Bundespräsident hat Mevlüde 1996 das Bundesverdienstkreuz verliehen.
Mich haben die Bilder von Solingen nie mehr verlassen. Ich sehe das abgebrannte Fachwerkhaus, die Menschen, die kniend beteten. Und dann, ein paar Tage später, Mevlüde Genc, die auf der Trauerfeier vor den fünf Särgen am Mikrofon steht, ihre Tränen wegwischt und mit gebrochener Stimme sagt: "Wir müssen vergessen, die Trauer überwinden und gemeinsam eine andere Art des Umgangs miteinander finden." Und die Enden ihres Kopftuches nicken dazu.
Hatice Akyün, EMMA Mai/Juni 2003