Fall 1: Was Susanne Simon (Name geändert) am Abend des 4. November 2009 passiert ist, wird sie später in der polizeilichen Vernehmung so beschreiben: „Fünf oder sechsmal habe ich dem Täter eindeutig gesagt, dass ich am Tattag auf keinen Fall mit ihm Sex haben wollte.“ Dennoch habe der Mann, mit dem sie eine Beziehung hatte, ihr an diesem Abend nach einem Streit „hektisch Strumpfhose und Schlüpfer heruntergezogen“, sie „gewaltsam unter sich gebracht“ und penetriert. Susanne Simon wehrt sich nicht. Jedenfalls nicht so, wie die Justiz es für erforderlich hält. Sie erstarrt.
Die 47-Jährige wurde als Kind vom Großvater missbraucht und als junge Frau zweimal vergewaltigt. Jetzt tut sie das, was in der Traumaforschung „Freezing“ genannt wird – das Einfrieren von Körper und Seele in einer bedrohlichen Lage.
Diesmal wagt Susanne Simon, was sie sich früher aus Angst nicht getraut hat: Sie zeigt den Täter an. Dieses Mal will sie sich wehren. Aber die Staatsanwaltschaft erklärt: Selbst wenn Susanne Simon „zum Zeitpunkt der Vornahme der sexuellen Handlungen nicht einverstanden mit diesen war, so kann aufgrund ihrer Aussage aber der Tatbestand der sexuellen Nötigung oder Vergewaltigung nicht festgestellt werden.“ Zwar sei sie „wie betäubt“ und „wie gelähmt“ gewesen, habe „gegen die Wand gestarrt und den Geschlechtsverkehr über sich ergehen lassen“. Doch aufgrund der Tatsache, dass die Frau sich „nicht körperlich gewehrt, sondern nur mündlich geäußert hat, dass sie dies nicht wünsche“, ließen sich „keine strafrechtlich relevanten Geschehnisse zu ihrem Nachteil entnehmen“. Das Verfahren wird eingestellt.
Fall 2: Katharina Müller (Name geändert) ist Doktorandin an einer deutschen Universität. Ihr Doktorvater ist Dekan der Fakultät. Er bestellt sie für Besprechungen zu ungewöhnlichen Tageszeiten zu sich nach Hause, abends und am Wochenende. Es gehe ihm schlecht, erzählt er seiner Studentin. Seine Freundin, ebenfalls eine Studentin, trenne sich gerade von ihm. Sie hört ihm zu.
Er sagt, dass er mehr von ihr will. Das ist nichts Neues. An der Fakultät ist bekannt, dass der Professor seinen Studentinnen nachsteigt und Sex mit ihnen hat. Dabei ist er alles andere als diskret, obwohl sexuelle Beziehungen mit Abhängigen selbstverständlich verboten sind. Eine Zeugin wird später von einer Nummer mit einer Studentin im Fahrstuhl berichten, die der Mann auch dann nicht abbricht, als sie zusteigt.
An einem der Abende beginnt der Professor auf seine Doktorandin, die seine Annährungsversuche ablehnt, zu onanieren. Er sei C4, sagt er, und ohne ihn würde sie „bei Lidl an der Kasse sitzen“. Sie, die beruflich auf sein Wohlwollen angewiesen ist, wagt nicht, den Skandal öffentlich zu machen. Schließlich vergewaltigt er sie. Sie befürchtet, dass die Polizei ihr nicht glaubt, schließlich hat sie „nur blaue Flecken an den Schultern“. Nach der dritten Vergewaltigung begreift sie endgültig, dass er nicht aufhören wird. Sie zeigt ihn an. Bei der polizeilichen Vernehmung wird sie gefragt, ob sie eigentlich „alles für ihren Doktortitel“ täte. Die BeamtInnen müssen sich später entschuldigen.
Katharina Müller gibt zu Protokoll, dass der Beschuldigte nach ihrer Kenntnis in psychiatrischer Behandlung sei und triebsenkende Mittel einnehme. Er wird das später in einer staatsanwältlichen Vernehmung zugeben. Die sexuellen Nötigungen beginnen zu dem Zeitpunkt, als er die Behandlung abgebrochen hatte.
Inzwischen hat die Universität ein Disziplinarverfahren gegen den Professor eröffnet. Aber die Staatsanwaltschaft erklärt: Es habe eine „freundschaftliche Beziehung“ zwischen Professor und Doktorandin bestanden. Das Verfahren wird eingestellt.
Der Kongress: Es sind Fälle wie diese, die den „Bundesverband der Frauennotrufe und Frauenberatungsstellen“ (bff) dazu brachten, Alarm zu schlagen. „Wir stellen fest, dass vergewaltigten Frauen heute wieder verstärkt mit Vorbehalten begegnet wird“, erklärt bff-Sprecherin Katja Grieger. „Meinen Sie wirklich, ich sollte anzeigen? Mir glaubt doch sowieso niemand!“ So lautet der Standardsatz, den die Beraterinnen an den Notruftelefonen jetzt wieder häufiger hören. Und das nicht erst, seit die mediale Zerpflückung der Ex-Freundin von Jörg Kachelmann begonnen hat. Die allerdings, so berichten Beratungsstellen einhellig, habe vergewaltigte Frauen schon jetzt, noch vor der Urteilsverkündung, weiter entmutigt. Genau so wie die deprimierende Aussage des pensionierten Berliner Generalstaatsanwalts Hansjürgen Karge bei Anne Will: „Meiner Tochter würde ich im Zweifel raten, nicht zur Polizei zu gehen.“
„Nicht Entschlossenheit zur Anzeige, sondern ausgeprägte Zweifel sind momentan das große Thema von vergewaltigten Frauen in unseren Beratungsstellen“, berichtet Grieger. Diese Zweifel scheinen durchaus begründet. Im Jahr 2008 zeigten 7292 Frauen eine Vergewaltigung an. Nur jede siebte Anzeige endete mit einer Verurteilung des Täters. Der Löwenanteil der Anzeigen landet gar nicht erst vor Gericht: Rund drei Viertel der Vergewaltigungs-Verfahren werden von den Staatsanwaltschaften eingestellt, knapp die Hälfte davon nach Aktenlage, sprich: ohne dass die Frau überhaupt angehört wurde.
Und kommt es zum Gerichtsprozess – meist erst nach anderthalb bis zwei Jahren Wartezeit – ist die Verhandlung für die Opfer oft eine Tortur. „Wenn Frauen sich zu einer Anzeige durchringen, hören unsere Beraterinnen während oder nach dem Verfahren oft den Satz ‚Das würde ich nie wieder tun!’“ Die Folge: Deutschland hat bei Vergewaltigungen eine der niedrigsten Anzeigenquoten in Europa.
Jede siebte Frau wurde seit ihrem 16. Lebensjahr Opfer einer Vergewaltigung oder einer schweren sexuellen Nötigung. Das ergab eine so genannte Dunkelfeldstudie des Bundesfrauenministeriums. Aber nur acht Prozent dieser Frauen gehen nach der Tat zur Polizei. Das heißt: 92 Prozent der Täter bleiben völlig unbehelligt. Nimmt man die hohe Zahl der eingestellten Verfahren dazu plus die Tatsache, dass so mancher Prozess mit einem Freispruch endet, rückt die 100-Prozent-Marke in bedrückende Nähe. Vergewaltigung scheint in Deutschland ein quasi strafloses Verbrechen.
„Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke“ hat der Dachverband der rund 150 Notrufe und Beratungsstellen deshalb die Fachtagung genannt, zu der er Anfang September nach Berlin lud. Die Resonanz war beachtlich: Rund 200 Beraterinnen und Prozessbegleiterinnen, StaatsanwältInnen und RichterInnen, RechtsmedizinerInnen und TraumatherapeutInnen kamen ins Rote Rathaus, um über die so dringliche Frage zu beraten: Wie kann die „Gerechtigkeitslücke“ geschlossen werden?
Wie weit diese Lücke klafft, belegte Prof. Barbara Krahé von der Universität Potsdam mit einer Zahl aus der Polizeilichen Kriminalstatistik: In den Jahren 2000 bis 2003 stieg die Zahl der Anzeigen wegen Vergewaltigung in Deutschland um ein Viertel an. Gleichzeitig sank die Zahl der Verurteilungen – um fast die Hälfte. In keinem anderen Deliktbereich gibt es eine solche Diskrepanz: Bei Raub und Körperverletzung zum Beispiel stieg die Verurteilungsquote exakt in dem Maß wie die Zahl der Anzeigen zunahm.
Einen der Gründe für diese Schere hat Sozialpsychologin Krahé erforscht: die so genannten „Vergewaltigungsmythen“. Eine Vergewaltigung, so das gängige Bild, geschieht durch einen Fremden, der nachts aus dem Gebüsch springt. Er bedroht die Frau und wendet massive Gewalt an, sie wehrt sich entschlossen. Sie trägt starke Verletzungen davon. Anschließend zeigt sie die Tat sofort an.
Soweit das Klischee. Die Realität sieht völlig anders aus. Nur jede siebte Frau wird von einem Fremden vergewaltigt. Jeder zweite sexuelle Übergriff passiert durch den eigenen Freund oder Ehemann beziehungsweise Ex-Mann. Jeder fünfte Vergewaltiger ist ein Bekannter oder Nachbar, jeder zehnte ein Familienmitglied. In 69 Prozent der Fälle ist der Tatort die eigene Wohnung. Körperliche Verletzungen sind nur in jedem dritten Fall vorhanden. Am häufigsten und härtesten verletzen Ex-Partner.
Barbara Krahé legte 129 GerichtsreferendarInnen fiktive Vergewaltigungsfälle vor, die sie auf die Schuld des Täters prüfen sollten. Zuvor fragte sie die Zustimmung der JuristInnen zu 16 Aussagen ab. Zum Beispiel: „Viele Frauen neigen dazu, eine nett gemeinte Geste zum ‚sexuellen Übergriff‘ hochzuspielen.“ Oder „Frauen bezichtigen Männer häufiger der Vergewaltigung in der Ehe, um sich für eine gescheiterte Beziehung zu rächen.“
Ergebnis: In jedem der fiktiven Fälle hatte das Opfer klar „Nein“ gesagt. Dennoch bezweifelten die JuristInnen die Schuld des Täters umso stärker, je besser der das Opfer kannte. Wendete er zudem keine Gewalt an, sondern nutzte die starke Alkoholisierung der Frau aus, sank in den Augen der Probanden seine Schuld noch einmal. Und: Je stärker die Gerichtsreferendare den Klischee-Sprüchen zugestimmt hatten, desto stärker gaben sie dem Opfer eine Mitschuld am Geschehen.
Krahés Fazit: „Auch professionelle Juristen werden in ihren Urteilen durch stereotype Vorstellungen über Vergewaltigungen beeinflusst.“ Eine Schlussfolgerung, die durch Studien ihrer Kollegin Dr. Friederike Eyssel von der Uni Bielefeld mit anderen Personengruppen bestätigt wird. Krahés Forderung: „Das Thema gehört in die Aus- und Fortbildung von Juristen. Und in den Sexualkundeunterricht an den Schulen. Wir können nicht früh genug damit beginnen, diese Mythen zu entlarven.“
Ein Mythos macht Vergewaltigungsopfern besonders schwer zu schaffen, nämlich dieser: Eine Vergewaltigung ist nur dann eine „richtige“ Vergewaltigung, wenn die Frau sich heftig gewehrt hat. „Die angeblich mangelnde Gegenwehr der Frau ist ein häufiger Grund, ein Verfahren einzustellen“, weiß Susanne Hampe von der Frauenberatungsstelle Leipzig. „Und die Botschaft, die von dieser Haltung ausgeht, ist: ‚Du bist selbst schuld!‘ Das ist für die Frauen unbegreiflich. Die sagen fassungslos: ‚Ich habe doch Nein gesagt‘!“
Aber Nein! sagen reicht nicht. Das hat der Bundesgerichtshof mehrfach höchstrichterlich festgeschrieben, zuletzt in einem Urteil aus dem Jahr 2006. Dort heißt es in der Begründung für die Einstellung des Verfahrens: Dass „der Angeklagte der Nebenklägerin die Kleidung vom Körper gerissen und gegen deren ausdrücklich erklärten Willen den Geschlechtsverkehr durchgeführt hat“, belege „nicht die Nötigung des Opfers durch Gewalt. Das Herunterreißen der Kleidung allein reicht zur Tatbestandserfüllung nicht aus.“
„Es kann doch nicht sein, dass Frauen ihre sexuelle Selbstbestimmung mit Gewalt verteidigen müssen“, klagt Etta Hallenga vom „Bundesverband der Frauennotrufe und Frauenberatungsstellen“ und Mitarbeiterin der Frauenberatungsstelle Düsseldorf. Offenbar doch. Auch in einem ihrer aktuellen Fälle war die Staatsanwaltschaft der Ansicht, dass der Betreuer in einer Wohngemeinschaft für psychisch Kranke schließlich nicht ahnen konnte, dass die 18-jährige Bewohnerin mit schweren Missbrauchserfahrungen – deren Abwehrreaktion darin bestand, völlig zu erstarren – keinen Sex mit ihm wollte. Verfahren eingestellt.
Dabei besagt der §177 des Strafgesetzbuches, dass sich der Vergewaltigung auch schuldig macht, wer eine andere Person „unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist“ zu sexuellen Handlungen nötigt. Aber: „Ich habe noch kein einziges Verfahren erlebt, das über die ‚schutzlose Lage‘ gelaufen ist“, sagt Etta Hallenga.
Das kann Ulrike Stahlmann-Liebelt nur bestätigen. „Die Voraussetzungen für eine schutzlose Lage, so wie sie die Rechtsprechung verlangt, kann ein Opfer kaum erfüllen“, sagt die Flensburger Oberstaatsanwältin, die in Schleswig-Holstein ein Modellprojekt für Zeuginnen in Vergewaltigungsprozessen initiiert hat (siehe Seite 43). „Grundsätzlich gilt: Für den Täter muss ernsthafter Widerstand erkennbar sein. Wenn eine Frau Nein sagt und weint, reicht das nicht.“ Seit Jahren fordert der Bundesverband deshalb, dass der §177 erweitert wird. Strafbar sollte sich auch machen, wer „eine Person gegen deren Willen nötigt“. Bisher waren die Vorstöße der Expertinnen erfolglos.
Dabei hat auch die Traumaforschung längst erkannt, dass die gewaltsame Gegenwehr eines Opfers eher die Ausnahme ist als die Regel – besonders bei Frauen, die einen sexuellen Übergriff auf ihren Körper nicht zum ersten Mal erleben. „Es ist eine völlig normale Reaktion, dass sie sich in dieser unerträglichen Situation wegblendet“, erklärt Dr. Julia Schellong, Psychotraumatologin an der Uniklinik Dresden. Dieses wissenschaftlich längst bewiesene „Freezing“ wird aber von deutschen JuristInnen im Strafverfahren nicht als Abwehrreaktion erkannt. Geschweige denn bestimmte Folgen der Traumatisierung, die die Frau vor Gericht unglaubwürdig erscheinen lassen (siehe Seite 44). Zu unrecht, wie all jene wissen, die sich auf den neuen Kenntnisstand gebracht haben. RichterInnen gehören in der Regel nicht dazu.
„Wir sind eine Laienspielschar“, gibt Dr. Klaus Haller unumwunden zu. Der Vorsitzende Richter am Bonner Landgericht muss es wissen. Er sitzt am nordrhein-westfälischen „Runden Tisch Opferschutz“ und schult RichterInnen und StaatsanwältInnen. „Und die haben das Wort Posttraumatische Belastungsstörung noch nie gehört!“ Um die Bildungslücke seiner KollegInnen zu schließen, fordert Haller „verpflichtende Fortbildungen“.
Das würde den Opfern zweifellos helfen. Denn die so genannte „menschengemachte“ Gewalt hat erheblich öfter Posttraumatische Belastungsstörungen zur Folge als Unfälle oder Naturkatastrophen. Und von dieser menschengemachten Gewalt löst die Vergewaltigung am häufigsten psychische Probleme aus. Jedes zweite Opfer sexueller Gewalt leidet unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung, aber nur jedes 13. Unfallopfer. „Und die psychischen Folgestörungen sind stärker, wenn die Gewalt von einer Person verübt wird, die man kennt und mochte“, erklärt Traumatherapeutin Schellong. „Denn das bedeutet den Verlust des Vertrauens in die gesamte bisherige Beziehungserfahrung mit Menschen.“
Damit eine Frau, die eine Vergewaltigung angezeigt hat, nicht noch ein zweites Mal vom Gerichtsverfahren traumatisiert wird, macht Susanne Hampe das, was im Juristenjargon „Prozessbegleitung“ heißt. Sie bereitet die meist „unglaublich nervöse und ängstliche“ Frau darauf vor, was im Gerichtssaal auf sie zukommen kann. Sie erklärt, wer laut Strafprozessordnung welche Rechte hat. Sie versucht, ihr die Angst vor der Begegnung mit dem Täter zu nehmen. „In so einem Verfahren passiert vieles, was die Frau an den Rand der Fassungslosigkeit bringen kann“, weiß die Sozialarbeiterin von der Frauenberatungsstelle Leipzig.
Zum Beispiel Fragen wie diese: „Warum rasieren Sie sich eigentlich Ihre Schamhaare? Sie haben doch behauptet, Sie hätten momentan gar kein Sexualleben.“ So eine Frage müsste „eigentlich gerügt werden“, findet Hampe. „Aber viele Richter sind da leider sehr zurückhaltend, weil die Verteidiger schnell mit Verfahrensfehlern drohen, wenn man ihr Fragerecht beschneidet.“
Überhaupt beobachtet Hampe, dass „die Strafverteidiger zunehmend aggressiv darauf reagieren, wenn das Opfer sich im Prozess begleiten lässt. Und ich habe den Eindruck, dass die Aggression in dem Maße gestiegen ist, wie sich der Opferschutz verbessert hat.“
Und das hat er, keine Frage. 1973 – gerade hatte sich die Frauenbewegung zu einer schlagkräftigen gesellschaftlichen Kraft formiert und die dunkle Gewalt gegen Frauen ans Licht gezerrt – wurden die „Verbrechen gegen die Sittlichkeit“ umbenannt in „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“. Seither ist viel passiert. Die Vergewaltigung in der Ehe ist allerdings erst seit 1997 strafbar. 25 Jahre lang wurden über diesen Straftatbestand halluzinante Debatten geführt. Schließlich setzte eine Frauenkoalition aller Parteien im Schulterschluss die Gesetzesänderung durch.
Im gleichen Jahr stellten die Gesetzgeber die orale und anale Vergewaltigung der vaginalen gleich. Die Polizei wurde geschult, Sonderdezernate wurden eingerichtet. Und auch die Rechtsmedizin hat inzwischen begriffen, dass sie eine entscheidende Rolle bei der Strafverfolgung sexueller Gewalt spielen kann: Zumindest in Großstädten haben vergewaltigte Frauen inzwischen die Möglichkeit, Spuren der Tat anonym sichern zu lassen, damit später – falls sie sich zur Anzeige entschließen – gerichtsfeste Beweise vorliegen. Anders als die Polizei, die das Offizialdelikt Vergewaltigung von Staats wegen verfolgen muss, können die Rechtsmediziner die Proben lagern, bis die Frau entschieden hat, ob sie es wagen will, den Vergewaltiger anzuzeigen und das Verfahren durchzustehen.
Und: Das Opfer hat inzwischen das Recht, als Nebenklägerin aufzutreten – wie es ja auch das mutmaßliche Opfer im Fall Kachelmann tut – also mit eigenem Anwalt oder eigener Anwältin, Fragerecht inklusive, besonders wichtig, Akteneinsicht. Damit ist Deutschland neben Schweden heute europäischer Vorreiter in Sachen Opferrecht. Zumindest auf dem Papier.
Folgt auf diese Fortschritte jetzt der Rückschlag? Die schwedischen Erfahrungen sprechen dafür. Nirgendwo werden zur Zeit so viele Vergewaltigungen angezeigt wie im Vorzeigeland der Emanzipation – und nirgendwo werden so viele Verfahren eingestellt. Offenbar klafft nicht nur in Deutschland eine Lücke zwischen einem gesellschaftlichen Klima, das Frauen zur Anzeige ermutigt, und einer Justiz, die nicht fähig oder willens ist, dieser Entwicklung zu folgen. Hinzu kommt die Propaganda maskulistischer Männerbünde in Internet und Medien, die sexuelle Gewalt verharmlosen und Opfer diffamieren.
Da ist es nicht überraschend, dass ausgerechnet jetzt der Versuch gestartet wird, auch die Traumaforschung gesamt zu diskreditieren. Auslöser: der Fall Kachelmann. Der erste Traumatologe im Visier des Backlash: der international renommierte Heidelberger Psychotraumatologe Prof. Günter Seidler. Der ist seit einigen Monaten auch der Therapeut des mutmaßlichen Opfers von Kachelmann.
Er hatte dem Gericht in einer Expertise bestätigt, dass die Frau unter einer „schweren posttraumatischen Belastungsstörung“ leide und zweifelsfrei „Todesangst“ gehabt habe. Wenn sie sich nur bruchstückhaft an die Tat erinnern könne, könnte das eine Folge dieses Traumas sein. Mit dieser Auffassung steht Seidler keineswegs allein. Auch die Bremer Aussagepsychologin Luise Greuel hatte in ihrem Glaubwürdigkeitsgutachten über das mutmaßliche Opfer bereits erklärt, es sei typisch, dass Vergewaltigungsopfer „in eine Art Schockstarre verfallen“.
Ausgerechnet Sabine Rückert erklärte nun in der Zeit diese Feststellung, die für jeden Traumatologen eine Binsenweisheit ist, für äußerst fragwürdig. Sie ging noch weiter und befand im Handstreich die gesamte Disziplin der Traumaforschung für irrelevant: „Viele forensische Sachverständige halten allerdings wenig von der Traumatologie.“ In einem zweiten Text ging die Zeit-Autorin noch weiter und erklärte die „Zunft der Traumatologen“ zur „Glaubensgemeinschaft“.
Als einen Kronzeugen für diese Aussage beruft sie den seit Jahren hochumstrittenen Berliner Aussagepsychologen Prof. Max Steller, der mit seinen Gutachten im „Fall Pascal“ oder den Wormser Missbrauchs-Prozessen entscheidend zum Freispruch der Angeklagten beigetragen hatte. Auch im Fall Andreas Türck kippte Steller die Anklage: Die Glaubwürdigkeit der Frau, die angab, Türck habe sie auf einer Brücke zum Oralsex gezwungen, stand zunächst völlig außer Frage. Der übliche Vorwurf der Rachegelüste stand nicht zur Debatte, denn die Bankkauffrau hatte Türck gar nicht angezeigt, sondern einem Freund am Telefon von dem Vorfall berichtet. Dieses Telefonat hatte die Drogenfahndung abgehört und Anzeige erstattet. Es sah schlecht aus für den TV-Moderator. Erst Stellers Gutachten konstatierte eine „Wahrnehmungsverzerrung“ bei der Zeugin, die einen „einvernehmlichen Sexualverkehr“ als nicht einvernehmlich umdeute. Türck wurde freigesprochen.
Dieser Gutachter, der seit Jahren die „Zeitgeist“-Manie geißelt, „überall sexuellen Missbrauch finden zu wollen“, bezweifelt nun die Aussagekraft einer Disziplin, die Phänomene wie Abspaltung und Dissoziation seit Jahrzehnten an Holocaust-Überlebenden und Vietnam-Veteranen und später an Opfern sexueller Gewalt nachgewiesen hat.
Warum ausgerechnet Rückert? Nicht nur, weil die Zeit-Reporterin bereits das eigentlich noch unter Verschluss liegende Gutachten der Aussagepsychologin Luise Greuel über das mutmaßliche Kachelmann-Opfer so selektiv zitiert und interpretiert hatte, dass die Gutachterin empört protestierte. Sondern auch, weil die Journalistin dem Kachelmann-Anwalt ein „Zusammenkommen“ angeboten hatte, allerdings unter der Bedingung, dass Kachelmanns Verteidigung „professionalisiert“ werde. Rückert disqualifizierte sich mit diesem Vorgehen, das die Süddeutsche Zeitung noch vor Prozessbeginn öffentlich gemacht hatte, aber keinesfalls für die weitere Kachelmann-Berichterstattung, sondern durfte nun mit ihren absurden Attacke auf die wissenschaftlich seit Jahrzehnten etablierte Traumaforschung noch einmal nachlegen.
Dies geschieht just in dem Moment, wo Frauennotrufe und Frauenberatungsstellen dabei sind, sich mit Justiz und Traumatologen zu vernetzen. Zum Beispiel in Heidelberg, wo der Frauennotruf Ende 2008 StaatswanwältInnen, RichterInnen, OpferanwältInnen, RechtsmedizinerInnen, GynäkologInnen und TraumaexpertInnen an einen Runden Tisch gerufen hat. „Wir versuchen zu vermitteln: Wie erlebt das Opfer die Situation?“ erklärt Birgit Dannegger vom Frauennotruf. „Unser Ziel ist, dass fortgebildete Richter und Staatsanwälte Vergewaltigungsfälle in Sonderkammern bearbeiten.“
Denn zu oft landen Fälle bei unerfahrenen StaatsanwältInnen oder vor Amtsrichtern, die „nur einmal in ihrer Berufslaufbahn einen Vergewaltigungsfall auf dem Tisch haben.“ Und das, obwohl laut Opferschutzreform Vergewaltigungsprozesse grundsätzlich vor Landgerichten verhandelt werden sollen. „Das wird aber de facto nicht eingehalten“, klagt Dannegger.
Susanne Simon, deren Fall noch nicht einmal vor ein Gericht gekommen ist, ist wütend. „Es ist für mich unfassbar, dass meine Willensäußerung, nämlich ein mehrfaches ‚Ich will nicht!‘, in diesem Rechtsstaat nichts bedeutet.“
Katharina Müller hat vielleicht noch eine Chance. Ihr Anwalt hat mit einem Klageerzwingungsverfahren erreicht, dass der Fall wieder aufgenommen wird. Das Oberlandesgericht hat nun ein Gutachten in Auftrag gegeben. Einer Begutachtung stellen muss sich allerdings nicht der Professor, der sich bereits in therapeutischer Behandlung befand. Sondern Katharina Müller – sein Opfer.
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www.frauen-gegen-gewalt.de
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