Juchacz: Rede an das Volk!
19. Februar 1919. In Berlin toben die letzten Wellen des Bürgerkriegs, weshalb die verfassungsgebende Nationalversammlung der neuen Republik nicht in der Hauptstadt tagt, sondern im vergleichsweise beschaulichen Weimar. Vor dem Nationaltheater, das in diesen Wochen als Parlamentssitz dient, wachen Goethe und Schiller. Drinnen amüsieren sich die Abgeordneten köstlich, zumindest die männlichen. Dabei hat Marie Juchacz gerade erst vier Worte gesagt: „Meine Herren und Damen!“ Letzteres lässt die Herren in schallendes Gelächter ausbrechen.
In Wahrheit finden es die meisten von ihnen allerdings gar nicht lustig, dass die jetzt in ihren Reihen sitzen: diese 37 Damen. Noch vor wenigen Monaten hatte das Parlament (mal wieder) abgelehnt, dass Frauen das Wahlrecht erhalten sollen – mit Ausnahme der SPD. Begründung: Die Frau gehöre nun mal „nicht in die Öffentlichkeit“. Aber jetzt ist der Kaiser weg und die Frauen sind da. Auf jedem elften Stuhl des Weimarer Nationaltheaters sitzt nun ein weiblicher Abgeordneter. Erst wenige Wochen zuvor, am 12. November 1918, hatte der „Rat der Volksbeauftragten“ das Frauenwahlrecht beschlossen.
Alleine der Satz "Meine Herren und Damen" ließ die Herren noch in schallendes Gelächter ausbrechen.
Die Abgeordnete Juchacz lässt sich von der männlichen Übermacht nicht irritieren und fährt mit ihrer Rede fort: „Es ist das erste Mal, dass in Deutschland die Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf.“ Diese erste Frau, die Sozialdemokratin und Schneiderin Juchacz, richtet in dieser historischen Rede klare Worte an ihre Kollegen: „Was diese Regierung getan hat, war eine Selbstverständlichkeit: Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist.“ Dennoch gilt bis heute das Frauenwahlrecht in der Geschichtsschreibung nicht selten als „Geschenk“ der Sozialdemokraten an die Frauen. Doch die Wahrheit ist: Die deutschen Frauenrechtlerinnen hatten 70 Jahre hart um dieses Recht gekämpft!
Erst spät waren auch die „Gemäßigten“ zur Front der Frauenstimmrechts-Kämpferinnen gestoßen. Die hatten sich mit der Forderung nach dem Frauenstimmrecht lange schwergetan, im Gegensatz zu den Radikalen, für die das Wahlrecht stets eine zentrale Forderung gewesen war. Doch nachdem die Frauen im Krieg immer mehr „Männerjobs“ übernommen hatten, nachdem sie Straßenbahnfahrerinnen, Schornsteinfegerinnen und Schweißerinnen geworden waren, forderte schließlich 1917 auch der Bund Deutscher Frauenvereine „die volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Frau auf allen Ebenen“.
Gemeinsam machen die Frauen aller politischen Couleur den Politikern in den letzten Kriegswochen die Hölle heiß: „Die Versammlung erklärt die politische Rechtlosigkeit für unvereinbar mit einer demokratischen Regierung“, verkündet eine breite Frauenfront in einer Resolution am 4. November den Revolutionären für den Fall, dass die – wie nach der 1848er-Revolution – die Frauenrechte mal wieder vergessen sollten. Flankiert wurde die Stimmrechts-Petition von „bedeutend großen Kundgebungen“ in Berlin, Hamburg und München. Die Männer haben verstanden.
Nun macht sich hektische Betriebsamkeit breit. „Kein Saal in den Großstädten ist groß genug, um die Massen der Frauen zu fassen, die sich politisch unterrichten wollen“, berichtet die Zeitschrift Die Frau im Staat. Aber auch die Parteien müssen jetzt aktiv werden. Bis zum 4. Januar 1919 müssen sie ihre Listen einreichen. „Unser Weg in das Parlament entbehrte nicht der Komik. Je näher die Möglichkeit rückte, durch die Aufstellung von Kandidatinnen Stimmen für die Wahl und damit den Männern Mandate zu gewinnen, umso werbekräftiger wurden Reden, Zeitungsartikel, Aufrufe usw. an die Frauen“, erinnert sich die Juristin und Frauenrechtlerin Marie-Elisabeth Lüders, die damals für die liberale DDP kandidierte. „Es war äußerst belustigend, die unverfrorenen Tiraden zur Kenntnis zu nehmen, mit denen man nun versicherte, ‚schon lange die Bedeutung der Frau für das politische Leben erkannt zu haben’.“
Erschwert wurde die Kandidatinnensuche der Parteien dadurch, dass es so gut wie keine weiblichen Parteimitglieder gab. Frauen durften erst 1908 überhaupt Mitglied einer politischen Partei werden. Und so ist die einzige Partei, die 1919 eine nennenswerte Zahl weiblicher Mitglieder aufweisen kann, die SPD. Sie hatte das Frauenwahlrecht 1891 in ihr Wahlprogramm aufgenommen.
Dennoch gab es eine Menge Frauen, die in politischer Arbeit reichlich Erfahrung hatten, weil sie sich in Gewerkschaften oder kirchlichen Gruppen und vor allem in der Frauenbewegung engagiert hatten. Die Frauenverbände bombardieren die Parteien nun mit Vorschlägen für geeignete Kandidatinnen.
Zum Beispiel: Helene Weber (1881 – 1962). Die Tochter eines alleinerziehenden Volksschullehrers aus Elberfeld war zunächst selbst Volksschullehrerin geworden. Als sich die Universitäten auch für Frauen öffneten, studierte sie Romanistik, Philosophie und Volkswirtschaft. 1911 trat sie dem Frauenstimmrechtsbund bei. Weber engagierte sich leidenschaftlich in der katholischen Frauenarbeit und leitete ab 1916 die Soziale Frauenschule des Katholischen Deutschen Frauenbundes.
1919 tritt sie als Kandidatin für die katholische Zentrumspartei an, obwohl das „Zentrum“ die Frau eher als Hüterin von Heim und Herd sieht und daher stets gegen das Frauenwahlrecht gestimmt hatte. Helene Weber wird genau 50 Jahre nach ihrem Einzug in den Reichstag in die (Frauen)Geschichte eingehen: als eine der vier „Mütter des Grundgesetzes“, die den Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ in der Verfassung der BRD erkämpfen.
Auch Marie-Elisabeth Lüders (1878 – 1966) wird eine epochale Reform durchsetzen, allerdings schon kurz nach ihrem Einzug in den Reichstag für die liberale DDP. Die Berliner Beamtentochter und eine der ersten deutschen Juristinnen sorgt mit einer historischen Rede vor dem Reichstag dafür, dass das Parlament 1922 beschließt, Frauen als Richterinnen, Staats- und Rechtsanwältinnen zuzulassen. Lüders hatte sich schon früh für die Rechte von Dienstmädchen und Prostituierten eingesetzt; ein Kampf, den sie auch in der Weimarer Republik fortführen würde. 1926 wird sie den Deutschen Akademikerinnenbund gründen, der bis heute existiert.
Die Kandidatinnen der SPD stammen meist aus Arbeiterfamilien. Wie Louise Schroeder (1887 – 1957), Tochter eines Bauarbeiters und einer Gemüseverkäuferin, die 1947 kommissarische Oberbürgermeisterin von Berlin werden wird.
Und natürlich Marie Juchacz (1879 – 1956), die Zimmermannstochter, die als Dienstmädchen, Fabrikarbeiterin und Krankenpflegerin arbeitet, bevor sie ihre Schneiderlehre absolviert. Mit 27 tut Juchacz etwas für die damalige Zeit Ungewöhnliches: Sie trennt sich von ihrem Mann und zieht mit ihren beiden Kindern von Landsberg an der Warthe nach Berlin. Dort tritt sie in die SPD ein, wo sie schon bald zur gefragten Rednerin und 1917 zur „Frauensekretärin“ im Parteivorstand wird. Juchacz wird im Dezember 1919, noch im Jahr ihrer Wahl als Abgeordnete, die Arbeiterwohlfahrt gründen.
Doch noch stehen die Wahlen am 19. Januar 1919 bevor. Die Wahlbeteiligung der Frauen ist sensationell: 82 Prozent stürmen die Wahllokale und müssen in langen Schlangen warten, bis sie zum ersten Mal in ihren Leben ihren Stimmzettel in die Urne werfen können (zum Vergleich: 2017 wählen 76 Prozent der Frauen).
Zur Wahl stehen: 1.310 Männer und 308 Frauen, die meist auf den hinteren Listenplätzen landen. Auch einige der radikalen Frauenrechtlerinnen kandidieren, wie Lida Gustava Heymann für die USPD oder Anita Augspurg, die sich, ebenfalls für die Unabhängigen Sozialdemokraten, für den Bayerischen Landtag aufstellen lässt. Doch ihre Aufrufe an das weibliche Wahlvolk, nur weibliche Kandidaten zu wählen, verhallen. Ausgerechnet zwei der unerschrockensten Kämpferinnen für das Frauenwahlrecht werden nicht gewählt.37 von ihnen schaffen es ins Parlament, plus vier Nachrückerinnen. Damit hat die Nationalversammlung einen Frauenanteil von knapp zehn Prozent.
Es ist anno 1919 der mit Abstand größte in einem Parlament weltweit. Und: Dieser Frauenanteil wird im Deutschen Bundestag erst sechs Jahrzehnte später, nämlich 1983(!) wieder erreicht werden. Im ersten Parlament der Bundesrepublik werden 1949 nur knapp sieben Prozent weibliche Abgeordnete sitzen – doch in der DDR-Volkskammer dreimal so viele: 23 Prozent.
Hätten sie gewusst, wie viele Gesetzte bestand haben würden, hätten sie sich die Haare gerauft.
Und 100 Jahre nach 1919? Beklagt Justizministerin Katarina Barley ein „Meer von grauen Anzügen“, auf das sie von der Regierungsbank aus blicke. Auf knapp 31 Prozent ist der Frauenanteil im Bundestag nach der letzten Wahl gesunken, in der Union ist nur noch jeder fünfte Abgeordnete weiblich. Die AfD schickt gar nur zehn Prozent Frauen ins Parlament. Die Forderung nach einer Reform des Wahlgesetzes wird gerade allerorten laut, eine Verfassungsklage ist in Karlsruhe bereits anhängig.
Anno 1919 hatten die Frauenverbände schon die ersten Quotendebatten geführt – und verloren. Resultat: Das katholische „Zentrum“, das bei der Wahl am 19. Januar 1919 am stärksten von Frauen gewählt worden war, schickt ganze sechs Frauen ins Parlament – von insgesamt 110 Abgeordneten. Die – relativ und absolut – meisten weiblichen Abgeordneten hat die SPD, nämlich 19 von 162.
Diese 41 Frauen machen sich nun ans Werk, Gesetze und Gesellschaft zu verändern. Hätten sie gewusst, wie lange so manches frauenentmündigende Gesetz noch Bestand haben würde, hätten sie sich vermutlich die Haare gerauft. (...)
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Artikel "Abgeordnete Juchacz: Rede an das Volk!" aus der Januar/Februar EMMA. Ausgabe bestellen