Der §218-Skandal wird immer größer!

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Wir fahren nicht mehr nach Holland! erklären Frauenzentren nach jahrelangen Erfahrungen mit Rat und Lebenshilfe für ungewollt Schwangere. Auch pro familia zieht den Schluss: Wir dürfen das Problem nicht länger über die Grenze schieben! Welche Steine und Hindernisse in der BRD heute noch auf dem Weg zur Selbstbestimmung von Frauen liegen, beschreiben Betroffene.
"Man ist so ausgeliefert"
Renate L. hat eine 12jährige Tochter, ist verwitwet und voll berufstätig. In einer „Pillenpause" wurde Renate ungewollt schwanger, und bei dieser Untersuchung entdeckte man so viele Myome (Gewulste) in ihrer Gebärmutter, dass der Arzt dringend zur Entfernung des Uterus riet. Außerdem war es klar, dass sie kein zweites Kind wollte:
Um Komplikationen aus dem Wege zu gehen, sollte ich mir auf Anraten meines Arztes zusätzlich die soziale Indikation bestätigen lassen. Ich bin also in eine Pro Familia-Stelle gegangen und habe dort erfahren müssen, dass mir zwar eine sehr freundliche Beratung zugute kam, aber dass die Einstellung der Sozialarbeiterin katastrophal war, weil sie versucht hat, mich umzustimmen. Sie hat versucht, mich zu überreden, dass ich doch sehr leicht in der Lage sei, meine Arbeit niederzulegen, um nur für meine beiden Kinder da zu sein. Mir würde doch alles Geld, was ich zum Leben brauchte, für mich und dann meinen beiden Kindern, von staatlichen und städtischen Stellen gegeben werden. Auf meine Frage, ob sie genau wüsste, wie viel es sei, ob sie die Fälle nicht kenne, wo die Kinder und die Mütter in völlig desolatem Zustand von Sozialfürsorge leben müssen, zuckte sie immer nur mit den Achseln.
Dann hat sie mich beschworen, daran zu denken, dass dieser Stress nur drei Jahre dauert, bis Kinder einfach in den Kindergarten abgegeben werden könnten, und sie glaubte, dass damit Probleme aller Art eigentlich hinfällig würden.
Nun gut, ich habe dann die Bescheinigung über die soziale Indikation doch bekommen. Ich war, wie gesagt, am Tag danach morgens um 7 Uhr 50 in die Uniklinik bestellt und dachte, es wird eine kurze, knappe Untersuchung.
Ich habe, glaube ich, insgesamt zwei Stunden gewartet und war sehr entnervt, als ich dann in das Behandlungszimmer gelassen wurde und ein Arzt mich empfing, der nicht identisch war mit dem, dem ich vorgestellt werden sollte. Ich habe dann gesagt: „Ich bin hier verabredet mit einem Doktor Sowieso." Mit wurde gesagt: „Das spielt keine Rolle, setzen Sie sich dahin." Der Arzt wedelte durch meine Unterlagen und sagte: „Alles, was sie da haben, das ist ja alles nichts. Ihr Frauenarzt hat die Myome erfunden, um den Schwangerschaftsabbruch zu legitimieren." Und: „Sie machen sich das sehr leicht. Wir sind es, die Ihr Kind töten müssen, und das ist ja alles Unsinn, was da in Ihren Papieren steht."
Dann wurde ich überhaupt erst untersucht. Ich lag also heulend auf dem Untersuchungsstuhl und nachdem die Untersuchung stattgefunden hatte, wurde der Arzt kleinlauter. Er war dann wohl überzeugt, dass die gesundheitliche Situation doch prekär war, und er verließ dann wortlos das Zimmer und kam nach einiger Zeit zurück und sagte: „Ich habe telefoniert, wir machen es."
Ich war inzwischen so fertig, dass ich nur noch den einen Wunsch hatte, da rauszukommen und nah mehrfach gebeten, dass meine Unterlagen wieder zurückgegeben würden, und ich wollte hier in dieser Klinik überhaupt nichts mehr. Dann ging also die Schikane in anderer Weise los, dass man sagte: „Jetzt haben wir Ihnen mehrfach gesagt, wir machen es, und jetzt stellen Sie sich nicht so an. Was glauben Sie eigentlich, Sie können uns hier nicht aufhalten, um dann irgendwelchen Mist zu erzählen." Man zwang mich geradezu, diese Einwilligung zur Operation zu unterschreiben.
Ich bin rausgestürzt aus diesem Untersuchungszimmer und habe völlig entnervt meinen Gynäkologen angerufen, bin noch in dieser Aufnahmestation gewesen und hab darum kämpfen müssen, dass meine Unterlagen rausgerückt wurden. Ich bin dann zu meinem Frauenarzt zurückgefahren.
Man ist dem so ausgeliefert, dass man nur schreien kann vor Wut, und ich habe mich über mich selbst gewundert, wie hilflos ich in dieser Situation geworden bin, weil mir einfach die Kräfte versagten. Ich habe danach beschlossen, dass mir ähnliche Situationen nur noch in Begleitung einer Person meines Vertrauens passieren dürfen.
Ich habe das dann auch mit meinem Krankenhausaufenthalt so hinkriegen können, dass ich mit einer Freundin zusammen in die Klinik ging, bei der auch eine gynäkologische Operation vorgenommen werden musste. Ich kann nur allen Frauen empfehlen, solche Dinge nicht mehr allein über sich ergehen zu lassen, weil das Ausgeliefertsein an die eigenen Ängste über diese medizinischen Fragen, über die Krankheit oder die Schmerzen, die man jeweils hat, einem so den Mut nehmen können, das man nicht mehr richtig reagieren kann.
"Spirale wider Willen eingesetzt"
Karin ist 30 und hat ein abgeschlossenes Studium als Diplom-Pädagogin. Sie ist arbeitslos. Karin fiel der Entschluss schwer, sie war dann jedoch sicher, dass sie kein Kind wollte:
Der Arzt, der mir die „Soziale Indikation" ausstellte, verfuhr mit mir in sachlicher und angenehmer Weise, so dass mir erste Beklemmungen und Ängste genommen wurden. Er vermittelte mich dann an den zuständigen Arzt (Dr. A., Frankfurt), der den Abbruch vornehmen sollte.
Im zweiten Gespräch mit Dr. A. sollte ich nochmals im Einzelnen begründen, warum ich eine Abtreibung wollte; „wir wollen uns doch besser kennenlernen, nicht wahr...". Ich erklärte, dass ich wegen Thrombosegefahr die Pille absetzen musste, dann in der Uniklinik einen vergeblichen und schmerzhaften Versuch hatte, mir die „Spirale" einklemmen zu lassen, und danach mit Präservativen und chemischen Schaums zu verhüten suchte.
Dr. A. meinte, dass doch für mich nur noch die Spirale in Frage käme, um eine weitere Schwangerschaft zu verhindern. Meine Antwort darauf war, dass ich auf keinen Fall eine Spirale haben möchte, dann noch lieber die Pille in Kauf nehmen würde. Dr. A. wurde wütend und konterte, dass es eine Zumutung für einen Arzt sei, eine Abtreibung vornehmen zu müssen, außerdem könne er es nur mit seinem Gewissen vereinbaren, wenn er weiß, dass die Frauen anschließend „anständig verhüten" würden, und dessen müsse er sich genau vergewissern.
Auf meine Frage, ob er glaube, dass die Abtreibung mir Spaß machen würde, wusste er nichts zu sagen. Ich betonte nochmals, dass mir die Spirale zu große Ängste bereitet (ich hatte aus meinem näheren Bekanntenkreis fast ausschließlich negative Erfahrungen gehört), und ich kann beschwören, dass dies der letzte Diskussionsstand zwischen mir und Dr. A. war. Dann wurde ich nochmals gynäkologisch untersucht und auf Verlangen von Dr. A. durch seine Sprechstundenhilfe ein Schwangerschaftstest vorgenommen. (Ich hatte zwar eine schriftliche Bestätigung meiner Schwangerschaft dabei, die allerdings schien nicht zu gelten. Außerdem musste ich zusätzlich 20 DM bezahlen.)
Dann wurde mir über die Sprechstundenhilfe Ort und Zeit bekanntgegeben und ich meldete mich dann einige Tage später im X-Krankenhaus, Frankfurt. Dort traf ich dann auch Dr. A. morgens um 7 Uhr 30 wieder: Ich: Breitbeinig auf dem OP-Tisch liegend, benommen durch die Beruhigungsspritze und bereits die Kanüle für die Narkose im linken Arm; an meiner Seite die wartende Narkoseärztin. Er: schwungvoll, von mehreren Schwestern umgeben, meinte, sich seinen OP-Kittel überstülpen lassend: „Na, Frl. S., das ist doch klar mit der Spirale." Ich war so verdattert, dass ich nachfragen musste, was er meine, worauf er nochmals betonte, dass er mir gleich nach der Abtreibung die Spirale einsetzen wolle.
Entsetzt sagte ich ihm, dass ich doch ausreichend in seiner Praxis begründet hätte, warum ich keine Spirale möchte, woraufhin Dr. A. plötzlich anfing zu schreien: „ ... wissen Sie eigentlich, was Sie mir da zumuten",  „...wir haben doch ausführlich darüber gesprochen", „ ... Ihr Verhalten ist unverschämt", ,, .. .das kann ich mit meinem ärztlichen Gewissen nicht vereinbaren ..." usw. Dann gab mir Dr. A. fünf Minuten Bedenkzeit und schwebte hinaus; ich war so verwirrt, dass ich nicht mehr wusste, was ich machen sollte. Einige Schwestern fragten mich, warum ich denn eigentlich vor der Spirale Angst hätte; ich solle es doch machen lassen, das wäre doch alles gar nicht so schlimm.
Dr. A. kam dann wieder und fragte mich, wie ich mich entschieden hätte; ich stotterte herum und sagte, dass ich keine Spirale möchte, ich hätte es ihm doch schon gesagt... woraufhin Dr. A. wieder losbrüllte: „ ... Schluss aus... ich mache nichts"; mich vom OP-Tisch losbinden und hinausfahren ließ.
Ich heulte wie verrückt, und die Schwestern versuchten mich zu trösten, allerdings immer mit der Frage, warum lassen Sie sich nicht die Spirale einbauen, das tut doch gar nicht weh. Kurze Zeit später rief mein Freund an, um sich nach der „(miss)glückten" Abtreibung zu erkundigen, ich erzählte ihm das Vorgefallene, worauf er sich sofort mit dem Arzt, der mir die Indikation ausstellte, in Verbindung setzte. In der Zwischenzeit bekam ich dann noch zu allem Überfluss einen Kreislaufkollaps.
Am Nachmittag teilte mein Freund mir mit, dass der Arzt mit Dr. A. telefoniert habe und ihm gesagt hätte, dass er sein Verhalten mir gegenüber nicht richtig fand und Dr. A. dazu brachte, doch die Abtreibung an mir vorzunehmen. Am nächsten Tag wurde ich zu einem wortlosen Dr. A. gerollt, in ungeheurer psychischer Belastung und wachte einige Zeit später in meinem Krankenbett mit starken Schmerzen auf. Dr. A. sah ich dann wenige Stunden später nochmals kurz, als er sich nach meinem Befinden erkundigte und wieder verschwand. Ich hatte beschlossen, die Nachuntersuchung nicht von ihm vornehmen zu lassen, sondern von meinem Arzt in der Uniklinik. Dieser Arzt stellte dann mit großer Verwunderung fest, dass ich eine Spirale (Kupfer-T) mit mir herumtrage.
"Viele Mütter wären heute dankbar"
Andrea ist 27 Jahre alt, verheiratet und Mutter zweier Kinder. Ein drittes Kind wollte sie nicht, unter anderem auch, weil sie an einer Erbkrankheit leidet:
Ich will mein Erlebnis in der Uniklinik in Baden-Württemberg so kurz wie möglich schildern. Wir leiden in der Familie an einer Erbanlage, die man Trichterbrust nennt. Seit zwei Generationen tritt diese Thoraxdeformierung bei jedem Familienmitglied auf. Leider wusste ich bis vor kurzem nicht, dass es sich um eine Erbanlage handelt. Dies veranlasste uns auch nach reifer Überlegung, unser drittes Kind nicht auszutragen. Meine sechsjährige Tochter hat schon ein Korsett (das ist ein Panzer von der Halswirbelsäule bis zum Po), der sie in ihrem täglichen Leben sehr einschränkt. Ganz abgesehen von der psychischen Belastung. Die Kleinere bekommt demnächst ein Gipsbett. Der Oberarzt in der Ambulanz war auch offenen Ohres und meinte, ich hätte einen sachlichen Grund zur Schwangerschaftsunterbrechung. Es wurde ein Gutachten des Chefarztes der Chirurgie beantragt, was positiv ausfiel. Außerdem musste ich sämtliche Röntgenaufnahmen von meinen Geschwistern und mir, die fast zwanzig Jahre zurücklagen, beschaffen.
Daraufhin wies mich der Oberarzt der Klinik stationär ein. Meinen viertägigen Krankenhausaufenthalt erlebte ich als Schock und ich hätte vorher niemals geglaubt, dass die Entscheidung einer erwachsenen Frau so wenig respektiert würde. Über die unnötigen wiederholten Untersuchungen, sowie die x-mal schriftlich niedergelegten Fragen habe nicht nur ich mich aufgeregt. In meinem Fall war es so, dass ich schon am nächsten Morgen kein Frühstück bekam, also dachte ich, dass ich auch bald drankäme. Was nicht der Fall war. Am Abend kam der Anästhesist, um meine Daten aufzunehmen. Ich sagte ihm, dass ich bestimmt nicht an der Reihe bin, aber er meinte, ich stehe bei ihm auf der Liste und das gab mir wieder neuen Mut. Als danach noch die Nachtschwester mit Valium und einem Einlauf kam, war alles klar.
Anderntags auch kein Frühstück- aber abgeholt wurde ich nicht. Um elf Uhr, als die Visite kam, musste ich erfahren, dass noch gar nichts entschieden war, und dass einer der fünf Ärzte immer nicht aufzutreiben wäre. Auch müssten mich noch mindestens drei Ärzte konsultieren unter anderem auch die Psychologin, die meistens auf der Seite der Frauen stünde. Im Übrigen hätte ich schon zwei positive Stimmen und es wäre so gut wie gelaufen. Inzwischen hatte ich schon die schrecklichsten Storys meiner Zimmerkolleginnen gehört, die schon länger lagen. Frauen würden so erniedrigt, dass sie heulend ihre Koffer packten und nach Hause gingen. Am Ende des dritten Tages wollte ich dann auch mit aller Gewalt nach Haus, doch der Stationsarzt beruhigte mich und meinte, dass heute Abend die Chefvisite wäre und danach hätte auch die Psychologin für mich Zeit und Herr Professor X.
Der aufregende Moment kam dann auch. Der ganze Stab Ärzte beguckte mich und meine Trichterbrust (von der man heute nicht mehr viel sieht, da ich mir nach vielen Jahren voller Hemmungen und Komplexen zwei Brustprothesen einpflanzen ließ). Die Frage, ob ich Sport treibe, bejahte ich lebhaft, woraus man mir in der darauf folgenden Besprechung sofort einen Strick drehte. Kaum kam der Chefarzt ins Sprechzimmer, schnauzte er m ich an, wie ich mir das vorstellen würde. Wir wären doch nicht mehr in der Hitlerzeit, er habe lange genug gesessen, weil er weiß Gott wie viele missgebildete Kinder umgebracht hätte. Von Zigeunern, die er kastriert habe, hat er auch was gesagt. Auf meine Antwort, dass ein lebendiges Geschöpf doch was anderes wäre, als ein Embryo in der neunten Schwangerschaftswoche, und dass ich ganz alleine die Verantwortung übernehme (weil es schließlich mein Körper und mein Gewissen sei), meinte er, was ich eigentlich wolle. Eine so hübsche Frau, dazu noch so sportlich, würde doch spielend ein vielleicht geschädigtes Kind verkraften. Danach strich er mir liebevoll über den Kopf und verschwand.
Als ich danach bei der Psychologin ankam, wusste ich schon bald nicht mehr, was ich noch reden sollte. Sie meinte auch nach einstündiger Unterhaltung, dass ich das Kind nicht ablehne. Darin musste ich ihr Recht geben, denn auf die Müllkippe hätte ich es bestimmt nicht gekippt, sondern hätte versucht, auch dem dritten Kind die beste Mutter der Welt zu sein. Das Resultat war, dass auch sie mich psychisch stark genug fanden, das Kind anzunehmen. Meine letzte Besprechung war dann mit einem gewissen Professor Y, der mich auch wohlwollend musterte und meinte, wenn meine Mutter mich auch abgetrieben hätte... und viele Mütter, die er hier schon nach Hause geschickt hätte, wären ihm heute dankbar. Auch wäre ich doch kein hässliches Entlein und hätte einen Mann gefunden. Für mich war jetzt klar, dass ich keine Chancen hier hatte und ich ging am nächsten Morgen nach der Visite (vorher wurde zwei zu drei gegen mich gestimmt) nach Hause. PS. Die Frau kam anschließend in eine Beratungsstelle der Pro Familia. Sie konnte andernorts in der Bundesrepublik ihr Recht durchsetzen.
So wird das Gesetz noch mehr eingeengt!
Am Beispiel der Praktiken in dem Bundesland Baden-Württemberg zeigt Marliese Dobberthien, Frauenreferentin des Deutschen Gewerkschaftsbundes, das Komplott auf, dass sie gegen die Frauen verschworen hat: Politiker, Beratungsstellen, Ärzte und Apotheker - sie alle versuchen, das miese Reformgesetz noch mehr einzuschränken, Frauen noch mehr zu entmündigen und zu demütigen.
Wie die bisherigen Erfahrungen mit der Neuregelung des § 218 StGB beweisen, ist es in Baden-Württemberg besonders schwierig, legal einen Schwangerschaftsabbruch zu erhalten. Die Richtlinien der Landesregierung interpretieren das Gesetz zum Nachteil der Frauen, Ärzte scheuen sich, eine Notlagenindikation zu bescheinigen, Kreistage beschließen, dass in den kommunalen Krankenhäusern Eingriffe bei einer Notlagenindikation nicht vorgenommen werden dürfen.
Zahlreiche Krankenhäuser verweigern einen Eingriff, konfessionelle Beratungsstellen raten von jedem Eingriff ab, überkonfessionelle Beratungsstellen stehen vor Finanzschwierigkeiten, ausreichende flankierende Maßnahmen zur sozialen Hilfe fehlen. Die Bundesregierung schätzt, dass etwa 50 000 bis 60 000 Frauen jährlich sich gezwungen sehen, ins Ausland zu fahren.
Einschränkende Gesetze
Mehr als 11 000 Schwangerschaftsabbrüche wurden im Bundesgebiet im ersten Quartal 1977 gemeldet. Vermutlich sind diese Zahlen jedoch zu niedrig. Schwangerschaftsabbrüche werden statistisch nicht erfasst, wenn Ärzte den Eingriff als eine andersartige medizinische Leistung deklarieren. Jede zweite Schwangerschaft wurde nach der Notlagenindikation abgebrochen, bei jeder dritten lag eine allgemeinmedizinische, bei jeder zehnten eine psychiatrische, bei jeder 20. eine eugenische Indikation vor. Der Anteil der sogenannten Notlagenindikation weist eine steigende Tendenz auf.
Seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des § 218 StGB ist in Baden-Württemberg ein legaler Schwangerschaftsabbruch mit demütigenden und teilweise unüberwindlichen bürokratischen Hindernissen verbunden. Am 1. März 1977 traten die Richtlinien des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung über die Beratung Schwangerer nach § 218 b Abs. l Nr. l StGB in Kraft. Diese Richtlinien schränken die Geltung des Gesetzes ein, da der Schutz des werdenden Lebens einseitig in den Vordergrund gerückt wird und demgegenüber der Anspruch der Frau auf Hilfe in einer Notlage zurücktritt. Straffreiheit tritt für die Frauen nur dann ein, wenn sie sich sozial beraten lassen. Jedoch wird die Beratungsstelle durch die Pflicht zur Beratung schnell zur Kontrollinstanz. Dadurch wird ihr eigentlicher Zweck, Beratung und Hilfe zu gewähren, eingeschränkt.
Kontrollierende Berater
Durch eine zusätzliche Verfügung vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung soll die bereits in den Richtlinien den Beratungsstellen zugewiesene Kontrollfunktion noch verschärft werden. Von den Berater (innen) werden detaillierte Angaben über Inhalt und Form der Beratung sowie Daten der Schwangeren zur Weitergabe an das Ministerium gefordert! Bis jetzt gibt es noch zu wenige neutrale Beratungsstellen. Im Juni 1977 waren in Baden-Württemberg 89 Beratungsstellen anerkannt, davon sind 45 konfessionell, nur sechs überkonfessionell, der Rest entfällt auf die Gesundheitsämter. Die neutralen Beratungsstellen sind jedoch unzureichend finanziell abgesichert. Sie verfügen nicht über einen vergleichbar finanzkräftigen Träger wie die konfessionellen Beratungsstellen.
Reaktionäre Ärzte
Konfessionelle Beratungsstellen sehen als wichtigstes Prinzip der Beratung den Schutz des werdenden Lebens an. Indem sie der Schwangeren von einem Eingriff grundsätzlich abraten, versuchen sie, so viele Schwangerschaftsabbrüche wie möglich zu verhindern. Diese Beratungspraxis schränkt die Gültigkeit des Bundesgesetzes erneut ein und bedeutet zusätzlich, dass vorliegende Indikationsfeststellung nachträglich infrage gestellt wird. Viele Ärzte tendieren in ihren politischen Ansichten zur CDU und stützen daher weitgehend die CDU-Politik der Landesregierung zu § 218 StGB. Oft misstrauen sie den Angaben der Patientinnen und halten deshalb Rücksprache mit der vorher oder nachher besuchten Beratungsstelle, bevor sie bereit sind, eine Indikation zu stellen. Einige Ärzte verdächtigen ihre Kollegen, die eine soziale Indikation bescheinigen, der Gefälligkeitshandlung.
Schmerzlicher Kompromiss
Durch dieses Ausweichen der Ärzte werden Frauen gezwungen, andere Gründe für einen Schwangerschaftsabbruch vorzuschieben, z. B. schwere Depressionen. Ein psychiatrisches Gutachten, das eine Lebensgefährdung der Frau bescheinigt, kann jedoch beispielsweise bei einer späteren Beamtung gegen die Frau verwendet werden.
Darüber hinaus gelingt es nur wenigen redegewandten Frauen, einen Arzt zu einem Ausweichen auf eine medizinische Indikationsfeststellung zu bewegen. Somit werden gerade sprachlich unbeholfenere Frauen benachteiligt.
Ferner ist bekanntgeworden, dass die Bescheinigung einer Indikation bzw. die Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs oft mit einer Einwilligung der Schwangeren für eine anschließende Sterilisation gekoppelt wird. Zugemutet wird ihr auch, das Kind auszutragen und zur späteren Adoption freizugeben!
Das neue Gesetz ist das Ergebnis eines weitreichenden und für die betroffenen Frauen schmerzlichen Kompromisses. Es ist jedoch ein Skandal, wenn nunmehr nicht einmal das Kompromissgesetz über die Indikationsregelung praktisch eingehalten wird. Im Laufe des Spätsommers 1976 wurde zum Beispiel in folgenden CDU-geführten Kreistagen wie im Ostalbkreis, in Biberach, Ravensburg und im Frühjahr 1977 auch in Tuttlingen der Beschluss gefasst, in den Kreiskrankenhäusern keinen Schwangerschaftsabbruch bei Vorliegen einer Notlagenindikation durchzuführen; auch in Sigmaringen und Friedrichshafen verweigern Kreiskrankenhäuser den Eingriff. Konfessionelle Kliniken lehnen im Allgemeinen einen Eingriff ab. Ein derartiges Verhalten ist als der Versuch zu werten, durch die Hintertür nachträglich politische Vorstellungen zur Geltung zu bringen, die konservative und kirchliche Kräfte im Bundestag nicht durchzusetzen vermochten.
Sittliche Ordnung?
Für die katholische Amtskirche schwächt „die neue Regelung das ethische Bewusstsein" und gefährdet „die sittliche Ordnung". Eine Beteiligung an einem Schwangerschaftsabbruch beinhaltet „sittliche Verwerflichkeit und Sündhaftigkeit" (Die deutschen Bischöfe, zur Novellierung des § 218, Empfehlungen für Seelsorger und Religionslehrer nach der Änderung des § 218 StGB, Bonn, 7. Mai 1976). Der Ständige Rat der Deutschen Bischofskonferenz kennzeichnete am 5. Februar 1976 Schwangerschaftsabbrüche als „verabscheuungswürdiges Verbrechen". Der Kardinal-von-Galen-Kreis will den Abbruch als Mord gewertet sehen (November 1976), Ulmer Kirchenvertreter erwarten eine „Massentötung" (Neu-Ulmer-Zeitung vom 23. Juli 1976). Die Verurteilung des Schwangerschaftsabbruchs sei die für kirchentreue Katholiken „konstante Lehre". Deshalb stehe fest, dass die Verfassung der Bundesrepublik einen verbrecherischen Charakter trage, da „das Bundesverfassungsgericht die sehr schweren Verbrechen für verfassungskonform erklärt hat". Die Bundesregierung, die Mehrheit der Parlamentarier und die Justiz werden sogar mit Nazis und deren Judenmord-Ideologie verglichen. Die katholische Kirche bedroht Ärzte und Schwestern, die sich an einem Schwangerschaftsabbruch beteiligen, mit einem „Ausschluss aus der sakramentalen Gemeinschaft".
Ärztliches Gewissen ...
Eine vorsichtigere Haltung nimmt die evangelische Kirche ein. Die grundsätzliche Verweigerung eines Eingriffs könne schuldig machen (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 12. November 1976). Abweichend von dieser Grundeinstellung reagierten 24 Landessynodalen. Sie lehnen jeden Schwangerschaftsabbruch ab - ohne Frauen die geringste alternative Hilfe anzubieten. Man könne einem Menschen niemals helfen, „indem man ihn veranlasst, das eigene Kind zu töten".
Unterstützung findet die Landesregierung auch durch eine Reihe von Chefärzten und Ärzten, die auf ihr „Kollektivgewissen" pochen. Neben den Krankenhäusern konfessioneller Träger verweigern zahlreiche Krankenhäuser in Baden-Württemberg, die an keine Kreistagsbeschlüsse gebunden sind, trotz Nachweises der Notlagenindikation den Schwangerschaftsabbruch. Es ist ebenfalls bekannt geworden, dass in einigen konfessionell gebundenen Krankenhäusern sich auch das Pflegepersonal weigert, an Schwangerschaftsabbrüchen mitzuwirken. Wenn viele Ärzte nicht bereit sind, die Notlagenindikation zu stellen, kann dies nicht mit mangelndem Wissen erklärt werden. Seitens der Ärztekammern und Bundesregierung wurde ihnen ausführliches Informationsmaterial zur Verfügung gestellt. Sofern nicht echte Gewissensgründe vorliegen, deutet dieses Ärzteverhalten auf den Boykott der neuen gesetzlichen Regelung. Baden-Württemberg bekommt es mit der Angst zu tun; „Sterben die Schwaben aus?" Diese besorgte Frage ist die Schlagzeile eines Artikels in einer „Informationsbeilage der Landesregierung". Sie wurde im April allen Tageszeitungen im „Ländle" des musterhaften Ministerpräsidenten Filbinger beigefügt. Die Statistiker in Stuttgart haben nämlich „das Jahr 1973 schwarz angestrichen: in diesem Jahr starben in Baden-Württemberg mehr Menschen als Kinder geboren wurden".
"Aktion Familie"
Wenn das so weitergeht, so haben die Bevölkerungs-Beobachter hochgerechnet, wären „die Südweststaatler, die Eingeborenen" im Jahr 2220 tatsächlich ausgestorben. Zwar nehmen die Propheten ihre düstere Prognose selbst nicht so ernst, denn schon im nächsten Absatz tröstet der Autor, „dass sich in den nächsten 242 Jahren gar manches ändern kann -vielleicht sogar die Lust am Kinderkriegen", aber trotzdem glauben der christdemokratische „Landesvater'' und seine Sozialministerin Annemarie Griesinger, ein bisschen nachhelfen zu müssen. Nicht weniger als zwei Millionen Mark wollen sie ausgeben, um die Gebärfreudigkeit anzukurbeln und die ins Wanken geratene, dem Weibe „angeborene" Mütterlichkeit aufrecht zu erhalten. Der Landtag hat im Nachtragshaushalt 77/78 bereits die Kosten für den „landespolitischen Schwerpunkt" genehmigt. Auch den Parlamentariern ist die „Aktion Familie" soviel wert.
Was sind die Ziele? Annemarie Griesinger: „Die Herausstellung und Vertiefung von Ehe und Familie als Leitbilder einer partnerschaftlichen und lebenslangen Gemeinschaft" - einer Institution, von der bisher vor allem die Männer profitiert haben. Und damit sie dies weiterhin ungestört tun können, werden die Frauen zurückgepfiffen und an ihre „natürliche" Bestimmung erinnert. Zurück zu Kochtopf und Kinderbett!
Werbe-Fische...
„Ich mag Kinder. Du auch?" Wer einen solchen Auto-Aufkleber haben will, kann ihn bei Familienverbänden, kirchlichen Stellen oder Wohlfahrtsverbänden beziehen. Und nicht nur das. Dort gibt es auch Wasserbälle, T-Shirts, Golfmützen und Luftballons. Die kleinen (Wer-be-)Fische einer Aktion, die ihre Netze tief durch das Bewusstsein der Bevölkerung ziehen will. Entsprechend intensiv ist, beziehungsweise wird sie vorbereitet. Bereits im Oktober vergangenen Jahres fand eine Tagung für die Meinungs-Multiplikatpren, die Journalisten, statt. Im April dieses Jahres erhielten alle Haushalte die in zwei Millionen Auflage gedruckte Beilage der Landesregierung, die nicht nur Preisausschreiben, Tests, Fragespiele und Broschüren-Gutscheine enthielt, sondern vor allem die Familien-Ideologie der CDU. Geplant sind landesweite Anzeigen-Kampagnen in der Tagespresse, gekoppelt mit dem Bestreben, „dass Motto und Signet (Zeichen) von den Zeitungen für ihre Berichterstattung im redaktionellen Teil übernommen werden". (Frau darf gespannt sein, welche Zeitung sich zum Sprachrohr Filbingers machen lässt.)
Die Standesämter schließlich sollen Informationsbroschüren über „Hilfen für die Familien" verteilen. Die Kirchen und freien Verbände, die übrigens vom Land bezuschusst werden, sind ebenfalls aufgerufen, sich zu beteiligen. Denn die Aktion — darüber macht sich die Landesregierung keine Illusionen - kann ihr Ziel nur erreichen, wenn sie „von der gesamten Bevölkerung aktiv mitgetragen und mitgestaltet wird". Ein neuer Aufwand für eine alte Absicht. 3000 Einzelaktionen sind geplant. Der „Maßnahmenkatalog" umfasst unter anderem Tage der offenen Tür bei Beratungsdiensten, Vorträge, Podiumsdiskussionen, Seminare, Vorbereitungskurse auf Ehe und Familie, Spiele und Wettbewerbe, Familien-Olympiaden und Wandertage, Feste in Schulen und Kindergärten. Für „alleinerziehende Elternteile" sollen nicht nur pädagogisch begleitete Freizeiten arrangiert, sie sollen auch selbst zum gegenseitigen Babysitting und gemeinsamen Debattier- und Ausspracheabenden motiviert werden. „Familienfreundliche" Orte, Gaststätten und Spielplätze will die Landesregierung auszeichnen. Sogar die Einführung von „Familienpässen" für kinderreiche Familien, alleinerzieherische Elternteile und Eltern mit behinderten Kindern, die zu finanziellen Vergünstigungen und Sonderangeboten verhelfen sollen, wird erwogen. Es lebe die Familie!
Abbau der Rechte?
Kein Zweifel: Filbingers CDU wittert Gefahr. Würde sie sich sonst so ins Zeug legen? Sinkende Heirats- und steigende Scheidungszahlen signalisieren, dass das konservative Leitbild von der Familie als Keimzelle der Gesellschaft immer mehr seinen Glanz verliert, dass vor allem Frauen immer stärker an der Notwendigkeit der ehelichen Bande zu zweifeln beginnen. Grund genug für die CDU, „die arrogante Haltung anzuprangern, die sowohl Feministinnen als auch manche Männer einer Gesellschaftsschicht gegenüber einnehmen, von der sie allesamt in einem ungeahnten Maß abhängig sind" (gemeint sind die Hausfrauen).
Die Hauptverantwortung schiebt die CDU aber natürlich der „familien- und kinderfeindlichen Politik der Bonner Linksregierung" zu. Wie schreibt Landtagsabgeordneter Alois Schätzte im „BW-Kurier", der kostenlos verteilten CDU-Zeitung für Baden-Württemberg? „Die natürliche Autorität der Familie, ihre prägende Kraft für die Entwicklung und Erziehung der Menschen wird auf gesetzgeberischem Weg zunehmend ausgehöhlt, den eheähnlichen Formen des Zusammenlebens staatlicher Segen zuteil. Dies verdeutlicht drastisch der Abbau der Elternrechte und deren teilweise Übertragung auf staatliche Stellen, die starke Bonner Förderung zur außerfamiliären Erziehung, die Liberalisierung des § 218 und das neue Ehe- und Familienrecht."
Schuld an diesen Veränderungen sind nach Ansicht des Ministerpräsidenten „schädliche Leitbilder". Sie müssen, sagte Filbinger in einer Landtagsdebatte, so korrigiert werden, „dass man wieder als Hausfrau zur Mitte des Lebens zurückfinden und Mutter sein darf, ohne als rückständig belächelt und bedauert zu werden". In die bereits erwähnte Informationsbeilage der Landesregierung ließ er die „Betrachtungen einer Betroffenen" einrücken, Stil:
„Durch die Hände der Hausfrau fließt der größte Teil des Volksvermögens, und in ihren Händen liegt das, was man die Pflege der Volksseele nennen könnte, da sie die Kinder, also die nächste Generation, formen." Das haben wir doch schon mal gehört...
Gleichwertige Frauen?
Wo die „natürlichen" Pflichten beginnen, da hat der Freiheitsdrang zurückzustehen. Gleichberechtigung ist sowieso ein Wort, mit dem die CDU sich schwer tut. Sie ersetzt es in ihrem politischen Wörterbuch nur zu gerne durch den diffusen, vielfältig auslegbaren Begriff „Gleichwertigkeit". Mann und Frau, so wird argumentiert, haben in der Familie zwar verschiedene, aber doch gleichwertige Aufgaben zu erfüllen. Er hat das Geld ranzuschaffen, sie hat dafür zu sorgen, dass zuhause alles klappt. Ihr Platz in der Gesellschaft soll zwar „dem Grundsatz der Gleichberechtigung", aber auch „ihrem besonderen Lebenslauf" entsprechen.
Das heißt: die biologische Fähigkeit, zu gebären, neun Monate lang schwanger zu gehen, wird gleichgesetzt mit der sozialen Verantwortlichkeit für Kinder, mit 20 Jahre Mutterschaft. Wer Kinder gebärt, hat sie auch zu erziehen, Basta! Wer trotzdem glaubt, außerdem auch noch einem Beruf nachgehen zu müssen, der ist es selber schuld und hat die Doppelbelastung zumindest diskret zu bewältigen. Entsprechend mildern die CDU-Programme die Doppelbelastung, heben sie aber nicht auf.
Im Grunde passt die Berufstätigkeit jedoch nicht so richtig in die von der CDU propagierte „partnerschaftliche Familie", sie wird nur wohl oder übel hingenommen. So heißt es in einem vom Parteitag 1971 verabschiedeten Papier: „Die Stellung der Hausfrau und Mutter ist derjenigen der berufstätigen Frau in jeder Hinsicht gleichwertig. Die Frau muss frei entscheiden können, ob sie sich ausschließlich der Aufgabe in Familie und Haushalt zuwenden oder außerdem ganz oder teilweise berufstätig sein will." In der Zwischenzeit haben sich die Partei-Herren sogar bereit erklärt, dafür zu zahlen... In der Opposition nämlich kam der CDU jetzt die Einsicht, dass wohl nur ein Erziehungsgeld den Selbständigkeitsdrang vieler Frauen für eine Weile aufhalten könne.
Mutter und Kind
Es gehört zu den Widersprüchen konservativer Sozialpolitik, dass ihre Maßnahmen - obwohl sie generell frauenfeindlich sind - im Einzelfall Frauen zunächst nützen können.
Beispiel: der Modellversuch „Mutter und Kind", der in einigen Stadt- und Landkreisen Baden-Württembergs erprobt wird. Die „öffentliche Hand" zahlt „alleinerziehenden" Müttern, die ihren Beruf aufgeben und stattdessen an regelmäßigen Säuglings- und Erziehungskursen teilnehmen, in den ersten drei Jahren nach der Geburt ein monatliches Netto-Einkommen bis zu 1000 Mark! Dies ist jedoch kein uneigennütziges Geschenk. Der Modellversuch soll nämlich auch Beweismaterial für die CDU-These liefern, dass das Kleinkind auf jeden Fall zur Mutter gehört, und dass nichts und niemand die Mutter ersetzen kann. Dass Frauen zu Kindern, Küche und Kirche gehören, soll auch mit Hilfe der Psychologie plausibel gemacht werden (die sich damit nicht zum ersten Mal zu diesem Zweck missbrauchen lässt). Berufstätigen Müttern wird da nach altbewährter Methode mit der Schuld an missratenen Kindern gedroht... Ungeachtet zahlreicher Gegenbeweise, erschienen unter anderem schon 1975 im zweiten Familienbericht der Bundesregierung, in dem „der Kenntnis Rechnung getragen (wird), dass eine gegen die Wünsche der Mutter erzwungene Aufgabe der Berufstätigkeit und die damit einhergehende Unzufriedenheit mit der ausschließlichen Rolle als Hausfrau für die Sozialisation (Entwicklung) der Kinder sich negativer auswirken kann als eine die Mutter befriedigende Berufstätigkeit".
Dass diese „Aktion Familie" gerade jetzt gestartet wird, ist alles andere als ein Zufall. Schon immer wurden Frauen als Reserve-Armee des Arbeitsmarktes betrachtet, die man je nach Bedarf gerufen oder heimgeschickt hat. Im Augenblick werden sie gerade mal wieder nicht gebraucht. Die Leiterin der Abteilung Frauen beim DGB Baden-Württemberg, Marliese Dobberthien, hat darauf hingewiesen, „dass die Arbeitschancen der Frauen in Baden-Württemberg erheblich eingeschränkt sind". Die Gewerkschafterin weiß auch, dass das Ausmaß weiblicher Arbeitslosigkeit erheblich höher ist, als amtlich angegeben wird.
Die Statistiken trügen, denn viele Frauen, die weder Aussicht auf Vermittlung noch Unterstützung haben (oder zu haben glauben), melden sich erst gar nicht arbeitslos. Eine ähnliche Situation wie in den fünfziger Jahren. Mit den gleichen Konsequenzen. Wie damals herrscht keine Vollbeschäftigung. Wie damals ist die Familienpolitik eine Folge der wirtschaftlichen Lage. Und wie damals müssen die zunehmend aufmüpfig werdenden Frauen in ihre Schranken verwiesen werden. In den fünfziger Jahren wollten wir Frauen vergessen lernen, dass wir in den ganzen Kriegs- und Nachkriegsjahren unseren „Mann" gestanden hatten. Und heute? Heute ist es die Emanzipation, die uns „zu Kopfe steigt".
Emanzipation ade?
Und wie damals wird bei all dem nicht danach gefragt, was die veränderte Einstellung zu Ehe und Kindern tatsächlich hervorgerufen hat, was in den Köpfen der Frauen vor sich gegangen ist. Wie in vielen anderen Bereichen der Sozialpolitik wird an Symptomen kuriert, ohne den Krankheitsherd selbst zu behandeln. Familienfreundliche und erschwingliche Wohnungen zum Beispiel werden bisher mehr gefordert als gebaut. Mit steigender Kinderzahl wachsen die Probleme. Noch immer sind die Kinderzimmer in Neubauten die kleinsten der Wohnung, noch immer haben mehrere hunderttausend Kinder kein eigenes Bett, und Jahr für Jahr werden mindestens 176 000 Kinder schwer misshandelt! Wie viele es tatsächlich sind, lässt sich nur vermuten. Experten schätzen die Dunkelziffer jedenfalls auf über eine Million.
Den Tatsachen, dass Kinder ihre Mütter heute noch abhängiger machen, und dass ein Ehering noch lange keine Garantie für besonderes pädagogisches Geschick ist, wird wenig Bedeutung beigemessen. Sie könnten das idyllische Wunschbild der heilen Familie trüben. Die Position des Familien-„Oberhauptes" steht schon überhaupt nicht zur Debatte. Wenn sich an der Familie etwas ändern soll, dann ist es die Einstellung der Frau. Ein viel strapaziertes „weibliches Wesen", an dem das konservative Leitbild der Familie wieder genesen soll. Im Ländle wie auch in den übrigen Bundesländern — Emanzipation ade?
HEDWIG LÖSINGER, EMMA 7/1978

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