Es geht um mehr als den §219

Für das Recht auf sexuelle und körperliche Selbstbestimmungen protestierten auch diese Frauen von Profamilia in Action (pia).
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In über 30 Städten haben Kundgebungen stattgefunden. Und das nicht nur in Berlin, wo rund 600 Menschen zusammen kamen. Auch in kleineren Städten wie Kiel, Landau oder Wuppertal gingen die Menschen auf die Straße. Das „Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung“ hatte zu dem Aktionstag aufgerufen. Und nicht nur sie.

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In Köln kamen über 400 Menschen auf der Domplatte zusammen, organisiert hatte die Kundgebung eine junge Wissenschaftlerin namens Cristina Remes. "Irgendjemand muss es ja tun", sagte sie und lachte. Remes macht gerade ihren Postdoc in Molekularer Biophysik. Dass es ausgerechnet im liberalen Deutschland keine Fristenlösung gibt, kann die gebürtige Rumänin gar nicht glauben. "Es geht hier ja nicht nur um den Paragrafen 219a, es geht auch um den Paragrafen 218", so Remes. Denn der gibt Frauen in Deutschland bis heute nicht das Recht auf Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft, er gewährt nur die Gnade.

Cristina Remes spricht in Köln.
Cristina Remes spricht in Köln.

Unterstützung bekam Remes von einem Mann, dem Neurowissenschaftler Jenia Jitsev. "Wir haben hier eine Ärztin (Anm. d. Red: Kristina Hänel), die vor Gericht gekommen ist. Und auf der andere Seite haben wir Seiten im Internet, die Ärzte wüst beschimpfen. Die sogar zum Mord aufrufen. Die Leute dazu verleiten, vor den Praxen rumzutingeln und die Frauen zu belästigen. Was sind das denn für Umstände? Das ist doch Mittelalter", rief er ins Mikrofon und erntete dafür viel Applaus.

Auch die frauenpolitische Sprecherin der Grünen, Ulle Schauws, griff in Köln zum Mikrofon: "219a ist mittlerweile ein Symbol geworden, wo es gar nicht mehr nur um diesen einzelnen Paragrafen geht", erklärte sie. "Wollen wir ein Land sein, in dem Frauen selbsbestimmt Leben können oder wollen wir es nicht sein? Und dazu gehört das, was auch schon das Motto des Referendums in Irland war: Trust women! Vertraut Frauen!"

Und dann ergriff auch eine Genossin das Wort, und nicht irgendeine! Die Ex-Spitzenpolitikerin Ingrid Matthäus-Maier, ganz früher mal FDP, aber seit Jahrzehnten SPD. Sie forderte, das Thema zu "einer Gewissensentscheiung" zu erklären. "Dann sind alle Abegordneten frei, dann haben wir die Mehrheit im Deutschen Bundestag für die Streichung des §219a - und dann ist dieser alte Nazi-Paragraf weg!", rief Matthäus-Maier.

Ob das wohl ihren Parteigenossinnen Giffey und Barley zu Denken gibt? Die beiden hatten nämlich überraschenderweise zu Jahresende plötzlich nicht mehr die Streichung des §219a gefordert, sondern mit der CDU/CSU einen sehr faulen Kompromiss ausgehandelt. Doch die definitive Entscheidung steht noch bevor - kann also noch beeinflusst werden.

Im 170 Kilometer entfernten Gießen, der Stadt, in der Kristina Hänel ihre Arztpraxis hat und in der sie vom örtlichen Amtsgericht im November 2017 verurteilt wurde, war die Stimmung ebenso kämpferisch. Zu der Demo aufgerufen hatte hier ein breites Bündnis: vom Asta Gießen bis zu den „Omas gegen Rechts“ von der Initiative „Alarm! Gegen Sexkauf und Menschenhandel“ bis hin zum „Frauenausschuss des Evangelischen Dekanats Gießen“; vom Kreisverband der Grünen bis zur Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen (AsF), die offenbar – wie viele Frauen an der SPD-Basis – keineswegs einverstanden sind mit dem faulen Kompromiss ihrer Parteispitze in Berlin.


Zu einer symbolischen Uhrzeit, um fünf vor zwölf, setzte sich der Gießener Demonstrationszug mit rund 500 TeilnehmerInnen in Bewegung. Als er eine Stunde später am Ziel, dem Kirchplatz in der Innenstadt, angekommen war, sprach Kristina Hänel - die Frau, die mit ihrer mutigen Weigerung, die Informationen darüber, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführt, von ihrer Website zu nehmen, die neue §219-Bewegung überhaupt ausgelöst hatte.

Die Gießener Ärztin berichtete noch einmal anschaulich, was das sogenannte „Werbeverbot“, das in der Realitat ein Informationsverbot ist, für Frauen bedeutet: „Ich erlebe, dass Frauen dadurch, dass ihnen Informationen vorenthalten werden, oft in Arztpraxen und auch in Beratungsstellen desinformiert, gedemütigt und nicht entsprechend aufgeklärt werden. Sie finden dann den Weg zum Abbruch manchmal kaum, sie kommen Wochen später, haben schon mehrere frustrierende Anrufe in Arztpraxen oder Kliniken hinter sich, die sie beschimpfen und ihnen nicht weiterhelfen", berichtet Hänel. "Wir erleben das in unserer Praxis hier in Gießen jede Woche. Dabei hat der Staat den Auftrag, ein flächendeckendes Netz an ambulanten und stationären Möglichkeiten zum Schwangerschaftsabbruch zur Verfügung zu stellen. Aber das Gegenteil ist der Fall.“

Kristina Hänel auf der Demo in Gießen.
Kristina Hänel auf der Demo in Gießen. - Foto: epd/Imago

Und schließlich forderte auch Hänel, nicht nur den §219a zu reformieren, sondern auch den §218, also auch in Deutschland endlich die Fristenlösung einzuführen, wie es fast in der ganzen westlichen Welt Gesetz ist. Hänel wies darauf hin, dass auch Deutschland das UN-„Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung von Frauen“, kurz: CEDAW, unterzeichnet hat. Darin verpflichten sich die Vertragsstaaten, „den Zugang zu sicherem Schwangerschaftsabbruch sicherzustellen, ohne der Frau eine verpflichtende Beratung und eine dreitätige Wartezeit aufzuerlegen, und gewährleistet, dass solche Eingriffe von der Krankenversicherung übernommen werden“.

„Davon sind wir meilenweit entfernt“, klagte Hänel. Der §218 schreibt eine verplichtende Beratung vor und der Weg zu einer medizinisch sicheren Abtreibung ist oft weit. Vor allem in katholischen Bundesländern, wo auch öffentlich finanzierte, konfessionelle Krankenhäuser sich weigern, Hilfe suchenden Frauen beizustehen. Die Ärztin fordert: „Die Regierung soll endlich machen, was ihre Aufgabe ist, und die Empfehlung der Vereinten Nationen, die sie unterzeichnet hat, umsetzen! Schluss mit Heuchelei, Doppelmoral und fundamentalistischem Irrsinn!“

Die Forderung nach einer Reform des §218 flackerte auf fast allen Kundgebungen auf. Wird der von christlichen Fundamentalisten angezettelte Versuch, abtreibende ÄrztInnen einzuschüchtern und zu bedrohen, zum Bumerang? Wachen die Frauen in Deutschland jetzt auf und erkennen die Gefahr, die von frauenverachtenden, weil bevormundenden Gesetzen wie dem §219a und §218 drohen?

Es sieht ganz so aus.

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Alice Schwarzer schreibt

Abtreibung: Es ist eine Schande!

Horst Seehofer, Helge Braun, Katarina Barley und Franziska Giffey auf der Pressekonferenz: Es soll alles beim Alten bleiben..
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Die vier traten am späten Mittwochabend vor die Kameras. Rechts standen zwei blasse, stumme Frauen; links zwei aufgeräumte, gesprächige Männer. Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) verkündete den „Kompromiss“ zum Informations-Verbot (genannt „Werbeverbot“) für Ärztinnen. Innenminister Horst Seehofer (CSU) begrüßte den Vorschlag der Regierung. Und die beiden SPD-Frauen? Die Ministerinnen Katarina Barley und Franziska Giffey schwiegen, zunächst. Mit Grund.

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Denn das, was da nach monatelangen Verhandlungen von Regierungsmitgliedern der CDU/CSU und SPD vorgetragen wurde, ist schlicht eine Schande! Ursprünglich ging es darum, das 1933 von den Nationalsozialisten eingeführte Gesetz, das Frauen entmündigt und ÄrztInnen bedroht, endlich abzuschaffen. Schließlich war es auch seit Jahrzehnten nicht angewendet worden. Den Vorschlag zur Streichung des Gesetzes hatte SPD-Chefin Andrea Nahles vor Monaten eingebracht. Grüne, FDP und Linke pflichteten ihr bei. Aber als die SPD dann doch in die Regierung einstieg, zog Nahles die Forderung zur Streichung des §219a wieder zurück.

Angezeigte
Ärztinnen
sind "entsetzt".

Sodann wurde monatelang geschwiegen. Und zuletzt hinter verschlossenen Türen verhandelt. Heraus kam: Nichts. Oder fast nichts. Es soll alles beim Alten bleiben: Dass die ÄrztInnen selbst nicht öffentlich darüber informieren dürfen, ob sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Ungewollt Schwangere sollen sich in Zukunft an die Bundesärztekammer oder „Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung“ wenden, um zu erfahren, ob es in ihrer Region Ärzte gibt, die bereit wären, ihnen zu helfen.

Man ahnt, wie einschüchternd das wäre – und was für ein Eingriff in die Intimsphäre einer Frau. Sie soll sich statt an einen Arzt, eine Ärztin ihres Vertrauens in Zukunft an eine Behörde/Institution wenden. Klar, dass viele Frauen sich gar nicht trauen würden – und in der Illegalität, bei Kurpfuschern bzw. „EngelmacherInnen“ landen. Sie würden wieder riskieren, bei illegalen Abtreibungen steril zu werden oder sogar ihr Leben zu verlieren.

Doch in genau diese Richtung wurden jetzt von der schwarzroten Regierung die Weichen gestellt. Im Laufe des Januars will die Große Koalition den genauen Text der „Reform“ vorstellen – und sodann entscheidet der Bundestag. Das heißt: Es gibt noch Hoffnung!

Nazi-Gesetz:
SPD-Spitze
knickt ein!

Der 1933 von den Nationalsozialisten verabschiedete §219a war jahrzehntelang gar nicht beachtet und überhaupt nicht mehr angewandt worden. Bis so genannte „Lebensschützer“ ihn entdeckten: Sie begannen, die ÄrztInnen anzuzeigen. In den vergangenen Monaten wurden daraufhin mehrere Ärztinnen vor Gericht gezerrt und verurteilt – nur weil sie auf ihrer Homepage die Information stehen hatten, dass sie Abbrüche vornehmen. Das sei „Werbung“ für Abtreibung, lautet das Argument. Als wäre Information gleich Werbung - und als könne eine Schwangere mit „Werbung“ dazu angestiftet werden, abzutreiben.

Jetzt protestieren drei dieser Ärztinnen gegen den faulen Kompromiss der Großen Koalition. „Wir sind entsetzt und empört“, schreiben sie. Darüber, dass sie weiterhin nicht informieren dürfen, sondern in Zukunft die Frauen an staatliche Stellen verweisen müssten.

Auch das „Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung“, in dem u.a. die SPD-Frauen (AsF) und die Jusos organisiert sind, kritisiert das "Eckpunktepapier aufs Schärfste“. Es weist darauf hin, dass das Papier „leider deutlich zeigt, dass sich christliche Fundamentalist*innen und selbsternannte Lebensschützer*innen in der Bundesregierung durchgesetzt haben“.

So ist es. Von der CDU/CSU war in dieser Beziehung darum nichts zu erwarten. Die C-Parteien sind in Deutschland seit Jahrzehnten streng auf Vatikanlinie. Und nicht nur fundamentalistische Christen (Evangelikale etc.) sondern auch Papst Franziskus hat abtreibende Frauen bekanntermaßen noch jüngst des „Auftragsmordes“ bezichtigt. Für diese Leute steht ihr Glaube, bzw. ihre Ideologie über den Menschenrechten und dem Gebot der Humanität.

Regierung
kuscht vor
Vatikan

Die Grünen, die FDP und Die Linke sind für die Streichung des §219a. Sie haben bereits gegen den faulen Kompromiss der großen Koalition protestiert. Alle drei fordern weiterhin die ersatzlose Streichung des §219a.

Und die Sozialdemokraten? Die sind – mal wieder! – eingeknickt. Und das bei einer Frage, die nicht zufällig vor einem knappen halben Jahrhundert in der gesamten westlichen Welt zum Auslöser für die Frauenbewegung wurde. Zumindest die SPD-Spitzen sind eingeknickt. An der Basis aber rumort es.

Florian Post (SPD): Paragraph 219a StGB verachtet betroffene Frauen!
SPD-Abgeordneter Florian Post: Der Paragraph 219a verachtet betroffene Frauen!

So kritisierte der Münchner SPD-Abgeordnete Florian Post die SPD-VerhandlungsführerInnen für ihre „mangelnde Durchsetzungsfähigkeit“ und die bekennend gläubige Katholikin und SPD-Chefin Nahles für deren „vorauseilenden Gehorsam“. Der 37-Jährige Post veröffentlichte jetzt aus Protest gegen seine eigene Partei auf seiner Internetseite eine Liste aller bayerischen Kliniken, die einen Schwangerschaftsabbruch anbieten (Viele sind es nicht, die meisten sind in katholischer Hand).

In quasi allen westlichen europäischen Nachbarländern ist das Recht von Frauen, eine nicht gewollte Schwangerschaft in den ersten drei Monaten abzubrechen, seit Jahrzehnten selbstverständlich. Auch in einem katholischen Land wie Italien. Sogar das ultrakatholische Irland führte jüngst die Fristenlösung ein. Nur in Deutschland scheint die Stimme des Vatikan und seiner Gefolgsamen schwerer zu wiegen als die der Bürgerinnen.

Frauen wissen
selber, was
sie fühlen!

Doch das Tollste ist, dass der scheinheilige „Vorschlag der Bundesregierung zur Verbesserung der Information und Versorgung in Schwangerschaftskonfliktlagen“ unter Punkt 5 eine „wissenschaftliche Studie“ ankündigt: zur Gewinnung von „Informationen zur Häufigkeit und Ausprägung seelischer Folgen von Schwangerschaftsabbrüchen“. Als würde über diese Fragen nicht seit Jahrzehnten eine Flut von nationalen und internationalen Erkenntnissen vorliegen! Vor allem aber: Als wären ungewollt schwangere Frauen, die nicht Mutter werden wollen, Kinder! Kinder, die nicht wissen, was sie tun und denen man sagen muss, was sie selbst zu fühlen haben.

Alice Schwarzer

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