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Zwischen den Geschlechtern

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Adele Neuhauser ist einem breiten Publikum als Kommissarin Bibi Fellner im Wiener „Tatort“ bekannt. Die 1959 in Athen geborene und in Wien mit ihrem Vater aufgewachsene Schauspielerin ist eine der charaktervollsten und eigenwilligsten ihrer Branche. Die 65-Jährige hat auch keine Angst vorm Älterwerden. Jetzt verkörpert sie differenziert und überzeugend eine Transfrau, die 37 Jahre später in ihr bayerisches Heimatdorf zurückkehrt. Die einst Verstoßene kommt als Alleinerbin auf den stattlichen Hof – und begegnet den Menschen ihres ersten Lebens wieder: der Ehefrau (störrisch gespielt von Eva Mattes) und dem Jugendfreund. Der Film lässt uns erleben, wie auch bei einem zutiefst transsexuellen Menschen wie Josefa das erste Leben, das im Geburtsgeschlecht, nicht Vergangenheit ist, sondern Teil des Heute. Hellsichtig und anrührend.

Adele Neuhauser, wie fühlt es sich an, wenn ich Sie „Wurzelsepp“ nenne?
Adele Neuhauser (lacht schallend) Das war mein Spitzname in der Schule. Ich hatte als Kleinkind und Jugendliche recht widerspenstige Locken und kleidete mich ein bisschen burschikos, nachlässig. Und so war ich in den Augen manch anderer das Rumpelstilzchen oder eben der Wurzelsepp. Keine schmeichelhafte Bezeichnung, noch dazu für ein Mädchen. Es war verletzend gemeint. Ich versuchte, es nicht an mich heranzulassen, was meist gelang. Ich halte generell viel aus. Das ist oft gut, aber manchmal auch nicht, weil ich früher dadurch noch tiefer in den Schmerz ging und mich manchmal darin verlor. Jedenfalls lachte ich den Wurzelsepp meist weg. Das war meine Strategie. Ich konnte schon immer spontan und herzhaft lachen, was mir oft half. 

Als Sie mit 16 Jahren begannen, Schauspiel zu studieren, sagte Ihre Rhetoriklehrerin wegen ihrer tiefen, rauen Stimme: „Man weiß ja gar nicht, ob Sie ein Manderl oder Weiberl sind.“ Haben Sie da auch gelacht?
Das weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr. Als Jugendliche suchte ich intensiv nach mir selbst. Heute weiß ich, dass wir alle mindestens duale Wesen sind. Wir tragen beide Seiten in uns und entscheiden uns meist irgendwann für eine, doch die andere verschwindet nicht, sie bleibt ein Teil von uns. Je nach Bedarf oder Wunsch dominiert mal die eine, mal die andere. So habe ich es immer empfunden. 

Sie lebten viele Jahre mit Ihrer tiefen Stimme, die Ihnen fremd vorkam. Dennoch war sie Ihr Markenzeichen. Am Telefon hielt man Sie oft für einen Mann. Wurden Sie wegen dieser männlich klingenden Stimme oft gecastet?
Ja, auch deshalb. Doch ich sah mich immer als Schauspielerin, die verschiedene Facetten eines Charakters zeigen wollte. Wenn eine Stimme, die keine Modulation zulässt, einen zunehmend einschränkt, ist das deprimierend. Ich fragte mich: Bin ich jetzt nur noch Stimme oder was bin ich eigentlich?

Wie weit reichte der Zweifel? Fühlten Sie sich zwischen den Geschlechtern hin- und hergerissen?
Ich empfand mich zuerst als Mensch. Lange war ich mir nicht sicher, ob ich mehr Mann oder mehr Frau bin. Nicht in sexueller Hinsicht, sondern in Bezug auf mein Lebensgefühl, meine Ausstrahlung, meine Wirkung auf andere. Übrigens wollte mein Vater immer eine Dame aus mir machen. Eine elegante, wohlerzogene griechische Dame. Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich neun war. Fortan lebte ich bei ihm, was manchmal fast wie eine platonische Ehe war. Nach der Schule wartete ich darauf, dass er aus dem Büro kam. Er schenkte mir schöne Kleider. Trotzdem gelang ihm das mit der Dame nur bedingt, sagen wir mal so.

Inwiefern?
Nun ja, ich war und bin recht burschikos. Geradeheraus, wenig damenhaft. Das hatte den Vorteil, nicht verletzlich zu wirken. Ich konnte mich dahinter verstecken, stark sein und mir etwas herausnehmen. Frech sein, ohne zu verletzen – obwohl ich mit meiner Art bestimmt auch viele vor den Kopf gestoßen habe. Gleichzeitig liebte ich das Zarte, zum Beispiel Ballett. Mein Ballettmeister sagte: „Du bist eine Athletin, keine Ballerina.“ Mein Körper, meine Stimme, meine Art: Alles fühlte sich für mich nicht filigran und weich genug an. Eine Spur zu grob, die Adele. Gleichzeitig half mir diese „Grobheit“, mich zu behaupten. Die Schauspielerei bot mir später die Möglichkeit, die Dame, die mein Vater aus mir machen wollte, in meinen Rollen zu spielen.

Mit 49 Jahren haben Sie sich einer Stimmband-OP unterzogen und fühlten sich erst nach diesem Eingriff, wie Sie in Ihrer Biografie beschreiben, „ganz und gar weiblich“. Ihr Selbstbewusstsein wuchs sprunghaft.
Ich habe mich lange Zeit wie das Negativ einer Fotografie gesehen: unscharf und farblos. Immer im Negativ. Doch durch diese OP wurde ich plötzlich sichtbar – für mich selbst. Plötzlich war ich da, klar und prägnant. Ich wurde eins mit mir. Nach der Stimmveränderung bekam ich interessantere Rollen, solche, die besser zu mir passten und in die ich mehr von mir einbringen konnte. Und wenn mich heute jemand casten möchte, weiß ich: Er will Adele Neuhauser. Er will mich. Nicht nur eine außergewöhnliche, aufregende Stimme.

Fiel es Ihnen deshalb leicht, die Transfrau Josefa im Fernsehfilm „Ungeschminkt“ zu verkörpern?
Der Zugang zu meinem eigenen Gefühl der Diskrepanz hat mir dabei geholfen, und ich mochte Josefa von Anfang an sehr. Das Drehbuch von Uli Bree ist wunderbar. Eine Geschlechtsangleichung gehört jedoch in eine andere Liga als eine Stimmband-OP. Für den Film habe ich viele Gespräche mit Transpersonen geführt, Dokumentationen geschaut und Fachliteratur gelesen. In meinem Umfeld habe ich auch zwei transgeschlechtliche Freunde. Eine Geschlechtsangleichung ist ein tiefgreifender Eingriff. Doch fast immer überwiegt danach die Freude, sich endlich so zu sehen, wie man sich immer gefühlt hat. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ja, die Rolle liegt mir. Nach dieser intensiven Recherche konnte ich mich ihr voll und ganz widmen.

„Ungeschminkt“ erzählt Transidentität aus der Sicht einer älteren Frau. Der Schwerpunkt liegt auf ihren Beziehungen zu Geliebten und Freunden vor der Geschlechtsangleichung, zu denen sie viele Jahre ­keinen Kontakt hatte. Es geht darum, wie wir mit ­gravierenden Veränderungen und den damit einher­gehenden Verletzungen leben.
Das ist das Kluge an diesem Drehbuch. Es geht um die Menschen, denen wir Schmerz zugefügt haben. Ich glaube, jeder wird irgendwann damit konfrontiert. Was tun wir dann? Der Film erzählt das auf eine feine, versöhnliche Art. Es geht ums Zuhören und Verzeihen. Und den Mut, den es manchmal braucht, hinzuhören und das Leid anderer zu sehen. 

Und es ist ein Film mit zwei starken Rollen für ältere Frauen: Ihre und die von Eva Mattes, die Josefas Jugendliebe Petra spielt. Sind solche Angebote rar?
Eva spielt das sensationell! Mit welcher Klugheit und mit welcher Fallhöhe sie in die Geschichte reingeht, ist grandios. Ich bin in letzter Zeit wirklich beschenkt mit interessanten Rollen, ich kann mich nicht beschweren. Aber ein Buch wie „Ungeschminkt“ ist selten. Darüber hinaus habe ich das Gefühl, das Publikum geht mit mir als älter werdender Schauspielerin freundlich um. Es nimmt mich an, was vielleicht auch an meiner Rolle als Tatort-Kommissarin Bibi Fellner liegt. Man kennt mich gut, sieht mir beim Altern zu, vielleicht ist das so. Ich habe da wirklich großes Glück und bin einer der wenigen Einzelfälle. Viele Kolleginnen haben es nicht leicht. 

Viele Schauspielerinnen und Schauspieler sehen ihre Filme nicht gerne selber an. Wie ging es Ihnen mit ­dieser Rolle?
Ich schaue mich ebenfalls sehr ungern an und brauche manchmal Jahre, um einen Film endlich unvoreingenommen zu sehen. Bei „Ungeschminkt“ war das anders, weil er mich sofort fesselte. Ich hatte lange überlegt, wie ich diese Figur verkörpern soll. Es gab mehrere Möglichkeiten: den männlichen Anteil körperlich zu betonen oder den weiblichen Anteil in einem unbeholfenen männlicheren Körper zu zeigen. Ich entschied mich, beides nicht zu tun. Ich wollte, dass die Zuschauer Josefa selbst entdecken. Das war mir wichtig, weil so die Tatsache, dass eine Transfrau sich ihrer Vergangenheit stellt, verschwimmt und fast zweitrangig wird. Es geht nicht nur um das Thema Transidentität, sondern allgemein um Zumutungen und Verletzungen, die wir einander zufügen. Und wie wir hoffentlich in der Gegen0eine Zukunft zu haben.

Ist Adele Neuhauser privat ein verständnisvoller Mensch?
Ich hoffe und bilde mir ein, dass es mir immer besser gelingt. Vielleicht auch mit zunehmendem Alter, weil ich das, was ich in meinen Geschichten erzähle, auch von mir selbst verlange. Ich kann nichts propagieren, was ich nicht zumindest teilweise lebe, auch in meiner Arbeit. Es wird mir immer wichtiger, im Film gute Inhalte zu vermitteln: Menschlichkeit, Respekt, Empathie. Das ist für mich entscheidend. Angesichts der Weltlage ist es extrem wichtig, dass wir gut miteinander umgehen. Der Platz für den Einzelnen wird knapper, unsere Umwelt verändert sich, es gibt viele Konflikte. Umso mehr müssen wir Rücksicht aufeinander nehmen. Wenn wir nicht verzeihen können, bleibt es bei Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wie die vielen Krisen auf der Welt zeigen, ist das kein Weg. Um nicht missverstanden zu werden: Ich möchte auch unterhalten. Aber wenn, dann niveauvoll und ehrlich. Es soll Hand und Fuß haben, was ich mache. Ich will, dass das, was ich sage und spiele, mit mir übereinstimmt.

Das Thema Transidentität ruft teilweise heftige negative Reaktionen hervor: Ablehnung, Aggression, Hetze bis hin zu Gewalt. Was löst das in Ihnen aus?
Im Film spricht mein fiktiver Jugendfreund sinn­gemäß davon, dass das Angleichen des Geschlechts ja jetzt eine Art Mode geworden sei …

… wobei es auch eine Art Mode geworden ist, diesen Vorwurf zu äußern. Warum musste der ins Drehbuch?
Ich finde, man muss diese Stimme und Meinung zulassen. Darf man nicht eine gewisse Aufgeschlossenheit von jedem erwarten? Gendern ist ein gutes Beispiel. Es bedeutet, dass Frauen in der Sprache mehr Präsenz bekommen, etwa wenn wir über Bereiche oder Berufe sprechen, die für sie früher tabu waren. Haben die Gender-Gegner keine Töchter und Nichten, denen sie ein gleichberechtigtes Leben wünschen? Ach, ich steigere mich da etwas rein. Ich will keine Oberlehrerin sein. Ich wünsche mir nur, dass Menschen einfach mal versuchen, durch die offenen Türen zu gehen, die sie umgeben.

Was uns zu dem zurückführt, was Sie vorhin sagten: In „Ungeschminkt“ gehe es stark ums Verzeihen. Können Sie das privat ebenso gut wie Josefa im Film?
Ich habe rechtzeitig erkannt, dass Verzeihen gut tut und wichtig ist. Ich habe meiner Mutter verziehen, aber Details möchte ich aussparen. Es ist sehr privat.

Vielleicht können wir es anreißen?
Ich sprach lange mit ihr, und uns wurde klar, wie tief wir einander verletzt hatten. In diesem Moment konnte ich ihr verzeihen und sie mir. Als wir das taten, fiel eine große Last von uns ab. Ich möchte das nicht missen und bin stolz auf uns, dass wir es schafften. Es war schwierig, aber notwendig. Ein anderes Beispiel: Ich wurde in meinem Leben auch verlassen. Ich hätte nachtragend sein können, aber das hätte mein Leiden nur vergrößert. Was bringt es? Nichts. Ich tue so, als würde ich den anderen bestrafen, aber ich bestrafe mich nur selbst. Indem ich offen und ehrlich sagte, dass es sehr weh tut, fand ich meinen Frieden.

In Ihrer Biografie schreiben Sie, dass Sie lange Schuldgefühle gegenüber Ihrer Mutter hatten. Nach der Scheidung lebten Sie bei Ihrem Vater und fühlten sich, als hätten Sie sie verraten. Konnten Sie damit Ihren Frieden machen?
Ja, und das hatte ich ehrlich gesagt nicht erwartet. Lange sah es so aus, als würde es nicht gelingen und als ob ich sie vielleicht erst kurz vor ihrem Tod erwische, um dann in Panik zu versuchen, noch etwas geradezubiegen. 

Halten wir fest, Adele Neuhauser empfiehlt: „Tu es. Nimm Dir ein Herz. Spuck’s aus!“
Ja, sobald man spürt, dass etwas notwendig ist, sollte man es sofort erledigen. Nicht aufschieben, sondern gleich handeln. Das ist, wie eine hohe Rechnung sofort zu bezahlen: Das Geld ist weg, aber egal. Oft hält uns vieles zurück, und mit der Zeit wächst dieser Widerstand. Plötzlich weiß man nicht mehr, was man verzeihen soll oder worum es eigentlich ging. Es wird diffus und übermächtig, wie ein Geschwür. Das will ich nicht mehr. Also ja, alles lieber sofort erledigen. Weg damit. Weg. Weg. 

Eine der letzten Fragen, die Ihre Mutter Ihnen stellte, war: „Adele, wo ist denn jetzt dein Glück?“ Können Sie mir sagen, wo es ist?
Man glaubt oft, man habe Dinge überwunden, aber wenn Sie diese Worte sagen, höre ich wieder ihre Stimme. Das berührt mich sehr. Es war, als fragte sie aus einer anderen Welt. Sie war eigentlich nicht mehr da, schon woanders. Und sie stellte diese Frage so liebevoll. Wo mein Glück heute ist? Ich fühle mich beschenkt, besonders dieses Jahr, weil ich doppelte Großmutter bin und meine Liebe wunderbar über meine Enkelkinder ausschütten kann. Ich bin sehr stolz auf meinen Sohn. Ich habe viele Preise erhalten, wunderschöne Rollen gespielt und mit großartigen Kolleginnen und Kollegen gearbeitet. Ich beschäftige mich mit sinnvollen Stoffen. Ich lebe mein Glück.  

Das hier leicht gekürzte Gespräch führte Peter Gaide. Es erschien zuerst in Galore. – „Ungeschminkt“ ist bis zum 6.11.2025 in der ARD-Mediathek zu sehen.

 

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