Adornopreis für Judith Butler: Was
Am 11. September 2012 hat die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Judith Butler den renommierten Adorno-Preis der Stadt Frankfurt entgegengenommen. Im Vorfeld gab es viel Rummel. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hatte Butler als Antisemitin bezeichnet und gegen die Preisverleihung protestiert. Zahlreiche Intellektuelle hatten dagegen gehalten: Die Preisträgerin habe lediglich Kritik an der Politik des Landes Israel geübt, sie verdiene den Preis.
Wer also ist Judith Butler? Messen wir sie an ihren Arbeiten. Für welche Thesen steht Butlers bisheriges Werk? An welchen Problemen arbeitet sie? Butler ist eine Pionierin der feministischen Theorie und hat vor allem die US-amerikanische Debatte der 1990er Jahre enorm vorangebracht. Akademisch wie politisch machte ihr Buch „Gender Trouble“ (Das Unbehagen der Geschlechter, 1990) weltweit von sich reden. Für die einen handelt es sich um ein Theoriebuch, um eine glänzende Kritik des unglücklichen Gegensatzes von Sex (das biologische Geschlecht) und Gender (die soziale Geschlechterrolle). Andere lesen es als Plädoyer für einen neuen Politikstil, als feministische Provokation und einen der Startschüsse der Queer-Bewegung. Hoch abstrakter Diskurs oder handfest politischer Vorstoß? Beides zugleich.
So deutlich wie bereits vor ihr die - in den USA kaum gelesene – Simone de Beauvoir, die frühe Kristeva, Irigaray oder Monique Wittig weist Butler jegliche biologische Natur der Geschlechter zurück. Es gibt kein Sex, nur Gender. Geschlechterdifferenzen sitzen weder „im“ Körper noch werden sie „an“ ihm festgemacht. Sondern wir lernen sie, indem wir einüben, was überhaupt ein „normaler“ Körper ist und was die Gesellschaft an Körpern wichtig und wahrnimmt. Diese antrainierte Geschlechterrolle inszenieren, praktizieren und bekräftigen wir jeden Tag aufs Neue. Soweit (nicht nur) Butler.
Diese Einsicht mischt auf, vor allem die Sozialwissenschaften, die bis dahin soziale Zuschreibungen vom Körpergeschlecht trennten. Aber auch marxistische Positionen und Teile der schwulen und lesbischen Bewegungen verweisen den Körper ins Reich der Biologie. Butler hingegen setzt das Konzept einer „performativen“ - also in der Darstellung wirksam werdenden - Geschlechtsidentität dagegen: Geschlechter folgen aus Handlungen, sie sind ein Konglomerat oder auch ein Stil von Sprache, Wahrnehmung und körperlichem Verhalten.
Beliebig sind Geschlechtszugehörigkeiten deswegen noch keineswegs, im Gegenteil: Die Selbst- und Fremddarstellungsakte, welche Geschlechterunterschiede errichten, sind von Macht durchdrungen, herrschaftlich geordnet und oft verbunden mit Gewalt.
Geschlechter-Parodie (gender parody) hat Butler 1990 die Widerstandsstrategie genannt, zu der sie aufruft: Zugemutete Geschlechtergrenzen sollen unterlaufen werden – denn nicht nur sind die Geschlechterverhältnisse ungerecht, sondern die Identitäten selber, an denen die Zuweisung lebenslänglicher Rollen und Körperschicksale ansetzt, sind das politische Problem.
In späteren Texten, so in dem Aufsatz „Das Ende der Geschlechterdifferenz?“ aus dem Jahr 2001 hat Butler Zwischenbilanz gezogen und auch ihr Verständnis eines kämpferischen Einsatzes des Begriffes gender aktualisiert.
Das Nachdenken über den eigenartigen Status des Körpers, dazu geduldige Kritik feministischer und lesbisch-schwuler Identitätspolitik: das sind weiterhin Butlers Themen.
Überlegungen zur Ethik und zur Anerkennung in politischen Auseinandersetzungen kommen hinzu. Mit den Bänden „Bodies that Matter“ (Körper von Gewicht, 1993), sowie „The Psychic Life of Power“ (Psyche der Macht, 1997) taucht sie tief hinein in das Vokabular der Psychoanalyse: Wie hängen die subjektive Bedeutung des Körpers, wie hängen überhaupt Subjekt, Macht und Körper zusammen? Harter Stoff für Uni-Seminare.
Anders dann wieder „Hate Speech“ (Hass spricht, 1997), eine Aufsatzsammlung über die Verletzungskraft der Sprache. Auch hier wird viel Theorie in die Waagschale geworfen. Klar erkennbar ist aber eine alltagsnahe Provokation, die erneut für politische Debatten sorgte: Die Eingriffstiefe einer sprachlichen Verletzung, so Butlers These, kann durchaus einer körperlichen Verletzung gleichen. Der Begriff der Gewalt muss daher erweitert werden, ohne aber die politische Meinungsäußerung einzuschränken oder aber politische Aggression, Diskriminierung einfach nur als abstraktes Handeln von Texten erscheinen zu lassen.
Die Gewalt der Pornografie zum Beispiel liegt für Butler nicht darin, dass Bilder etwas Falsches zeigen und vollstrecken, nämlich erniedrigende Sexualität. Sie liegt vielmehr darin, dass Sexualität – so wie sie funktioniert – Machtverhältnisse auf den Punkt bringt und somit eine gewaltsame Seite hat, die allenfalls verheimlicht werden kann. Sexualität ist nicht aus sich heraus eine friedliche Praktik, welcher der Konsens automatisch innewohnen würde.
Im Blick auf Pornografie wie auch Hassreden argumentiert Butler daher gegen staatliche Zensur. Ihre Forderung ist es, sprachlich verletzende Akte öffentlich radikal zu isolieren und den Betroffenen eine Stimme zu geben. Erst die unterschwellig vorhandene Zustimmung einer schweigenden Mehrheit macht ja das eigentlich Verletzende verletzender Darstellungen aus.
Neben falscher Toleranz im Alltag sind hier vor allem die Massenmedien gemeint: Die „ganz normale“ Zumutung von sexistischen, rassistischen, homophoben Sätzen und Bildern prägen unser aller Körperwahrnehmung – wie auch unsere sprachliche und visuelle Hinnahmebereitschaft.
Was aus der feministischen Theorie über die Fallen der Identitätspolitik zu lernen ist, überträgt Butler auch auf andere Felder. Ins Deutsche übersetzt sind „Frames of War“ (Raster des Krieges, 2009 - u.a. zu Afghanistan und Abu Ghraib) sowie „Precarious Life“ (Gefährdetes Leben, 2004): Der Aufsatzband hat Guantanamo, das Fehlen der Trauer in Amerika über die Kriegsopfer der Gegenseite sowie die Reaktion auf Israel-Kritik mit dem Antisemitismus-Vorwurf zum Thema.
Damit schließt sich der Kreis zur Adornopreis-Debatte. Die moralisierende Zurechtweisung des Zentralrats der Juden (festgemacht an einem aus dem Zusammenhang gerissenen Statement von Butler) entpuppt sich als Fortsetzung eines alten Konflikts. Klare Frontstellung gegen ambivalenzfähige Nachdenklichkeit: Es geht den Orthodoxen nicht, wie es zunächst den Anschein hat, um Butlers Bewertung von Hisbollah oder Hamas. Nicht ertragen wird die differenzierte Zurückweisung jederart von Identitätspolitik durch eine amerikanische Jüdin – auch wenn es um Israel geht. Denn vorgelegt hat Butler eine wohldurchdachte Theorie der möglichen Grenzen einer Identifikation, gerade auch von Juden, mit der Politik des Staates Israel. Sie geht mit der Identität „Jude“ also nicht anders um als mit der Identität als „Frau“.
„Eine Kritik an Israel ist nicht identisch mit einer Anfechtung der Existenz Israels, und sie ist auch nicht dasselbe wie eine antisemitische Haltung“, schrieb sie schon 2003. Nicht ohne auf die „kleine, aber dynamische Friedensbewegung in Israel selbst“ hinzuweisen, mit der sich ebenso solidarisiert wie mit FriedensaktivistInnen auf der palästinensischen Seite, die mit der israelischen Friedensbewegung zusammenarbeiten. Vor allem aber fordert Butler Raum für Argumente: Die Drohung mit der öffentlichen Wortkeule „antisemitisch“ sei eine subtile Form der Zensur.
Im Lärm um den Adornopreis gingen diese (nachlesbaren) Überlegungen unter. Das Werk der Preisträgerin, die feministische Theoretikerin Butler, geriet überhaupt ins Abseits. Die Laudatorin Eva Geulen rückte das zurecht: Sie sprach als einzige auf der Festveranstaltung den Feminismus Butlers an, nicht nur die „Geschlechtertheorie“. Geulen hob auch hervor, dass der seit 1977 alle zwei Jahre verliehene Adorno-Preis 2012 erstmals an eine Frau vergeben worden ist.
Es ist der 13. Preis. Musste nicht immer schon die 13 herhalten für das unerwünschte weibliche Element, für eine böse Fee? Mit dieser spitzen Frage ließ Geulen ihre Laudatio enden. Butler selbst hielt einen langen, sanften Vortrag, der von Adornos Diktum „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“ ausging und sich – moralphilosophisch sehr weit ausgreifend – um die Bedingungen der Lebbarkeit eines Lebens drehte, das durch Krieg, Armut, Illegalität aller Perspektiven beraubt worden ist. Am Ende standen ein Appell für unbedingte Friedfertigkeit sowie Adorno, Hegel, Hannah Arendt und weitere klassische Namen im Raum. Schade, dass niemand Butlers differenztheoretische Vordenkerinnen erwähnte: Beauvoir, Kristeva, Irigaray, Wittig.