Adriana Altaras - Jüdische Mutter

© Marco Hofschneider
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Das war so nicht vorauszusehen. Dass die lebenslustige Adriana Altaras mitten in Berlin-Schöneberg weiter von ihren Dibbuks, den Toten, verfolgt wird. Dass sie ihre zwei Söhne hat beschneiden lassen, deren Vater ein Katholik aus Westfalen ist und vom ältesten Sohn als „Doitscha“ beschimpft wird. Und vor allem: Dass sie, die Jüdin aus Jugoslawien, den Deutschen ihre Angst vor ihren Juden nehmen wird. 

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Eigentlich wollte Adriana einfach nur Schauspielerin werden. 1963 wurde die Dreijährige erstmals in einem Zagreber Kindergarten gecastet. Ihre Rolle: Ein jüdisches Mädchen, das sich vor den kroatischen Faschisten versteckt. Die Mutter, einst Partisanin und dem Konzentrationslager entkommen, war stolz auf ihre Tochter. Der Vater, ein mit vielen Orden dekorierter Partisan in Titos Brigaden, hatte andere Sorgen. Er war gerade aus der Kommunistischen Partei geflogen und hatte seinen Posten als Leiter der Radiologie des Zagreber Militärkrankenhauses verloren. Der Vater bereitete die Flucht der Familie vor. 

Wie ist es,
Jüdin in
Deutschland
zu sein? 

Wie absurd: Ein kleines Mädchen spielt in einem Propagandafilm über die glorreiche Partisanenzeit die Geschichte ihrer Eltern nach. Gleichzeitig erleiden diese Eltern während der Dreharbeiten die Schikanen des siegreichen Tito-Regimes. Sie verlassen Jugoslawien und parken Adriana für vier Jahre bei ihrer Tante in Italien. Die Tante war von einem italienischen Offizier aus einem KZ gerettet worden.

Mit sieben holen die Eltern Adriana nach Deutschland, wo sie sich eine neue Existenz in Gießen aufgebaut hatten. Das Mädchen kommt in ein Internat mit Waldorf-Schule nach Marburg. Nicht ein Wort Deutsch spricht sie an ihrem ersten Schultag. Doch sie lernt sehr schnell. Am liebsten trägt sie Dirndl. Auf der Waldorfschule verfolgt sie ihren Traum und spielt im Schülertheater große Rollen: Schiller, Goethe, Brecht. Adriana liebt die deutschen Dichter. Nur das rollende R, das will und kann sie sich nicht abgewöhnen. Sie kommt gut klar im Internat, ist beliebt, kann sich behaupten. Nur nachts weint sie, vor Heimweh.

Alle paar Wochen ist Adriana bei den Eltern, die schwer beschäftigt sind mit ihrem zweiten Leben in Deutschland. Sie haben Erstaunliches geleistet: Der Vater ist mittlerweile Professor für Radiologie am Gießener Uniklinikum und gründet die erste jüdische Gemeinde nach dem Krieg. Die Mutter ist Architektin im Bauamt und baut eine historische Synagoge wieder auf. Und die Gießener helfen mit, ein Stück Aufarbeitung im Nachkriegsdeutschland. 

Nach dem Abitur geht Adriana nach Berlin, auf die Schauspielschule. Wie bitte aber soll man das Gretchen mit schwarzen Locken und rollendem „R“ spielen? Sie tobt sich in den Off-Theatern Berlins aus und spielt in Filmen von Rudolf Thome. Und siehe da, sie hat Erfolg, bekommt sogar den Deutschen Filmpreis. Doch im deutschen Fernsehen wird sie nur als Putzfrau und Ausländerin besetzt. 

Irgendwann wechselt Adriana die Seiten und fängt an, selbst Regie zu führen. Sie schreibt ein Stück, „Jonteff – Festtag mit meinen Dibbuks“, über ihre komplizierte Familiengeschichte. Dibbuks, das sind die Geister der Toten, die in Adrianas Leben allgegenwärtig sind. 

Die Eltern sterben im Abstand von drei Jahren. Adriana wühlt sich durch Berge aus Akten, Briefen, Büchern und Videokassetten – über den Holocaust, immer wieder Holocaust. Sie schreibt ihr erstes Buch: „Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie“. Es wird ein Riesenerfolg. Mit diesem Buch erobert sie die Herzen der Deutschen. Sie sitzt in sämtlichen Talkshows, soll erzählen, wie das ist. Jüdin in Deutschland sein: Beschneidung, Holocaust-Denkmal, Israel, die Themen gehen nicht aus.

"So treffen wir aufeinander. Neurosen, Vorwürfe, Ängste auf beiden Seiten."

Langsam wird ihr klar, wofür man sie so liebt: sie nimmt den Deutschen das Unbehagen vor ihren Juden. Weil sie lustig ist. Weil sie nicht anklagt. Aber vor allem, weil sie versteht. „Wir sitzen alle im selben Boot. Ein schwer beladenes Boot, voller ererbter Traumata, Verdrängungen, voller Wut und Trauer. Der Krieg ist über ganz Europa gefegt und hat niemanden unberührt zurückgelassen. So treffen wir aufeinander. Neurosen, Vorwürfe, Ängste auf beiden Seiten. Ein Heer an Therapeuten müsste rund um die Uhr arbeiten.“ Das sagt Adriana in ihrer Rede, die sie am 9. November 2011 in der Frankfurter Paulskirche hält. Schade, dass die Eltern das nicht mehr erlebt haben. Sie wären vor Stolz auf ihre Tochter geplatzt.

Nun hat Adriana also ein zweites Buch geschrieben: „Doitscha – eine jüdische Mutter packt aus“. In ihrer unnachahmlichen Art aus Witz, Schlagfertigkeit und messerscharfer Analyse erzählt sie, wie das so ist in einem deutsch-jüdischen Haushalt, in dem – am liebsten zur Abendessenszeit – der Streit eskaliert, als der älteste Sohn sich mit dem Vater um die Salatschüssel prügelt und droht, nach Israel auszuwandern. Spätestens mit diesem Buch hat Adriana den Staffelstab von ihren Eltern übernommen. Zu übermächtig waren diese Heldenfiguren des 20. Jahrhunderts, die sich ein zweites Leben im Land der Täter aufbauten, ohne zu verbittern; die in Gießen eine Rolle als Versöhner übernahmen, die Adriana nun in ganz Deutschland innehat. Ist das vielleicht die Rolle ihres ­Lebens? Und ist sie damit ihre Dibbuks endlich los?

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Adriana Altaras: „Doitscha – Eine jüdische Mutter packt aus“ und „Titos Brille“ (beide Kiepenheuer & Witsch).

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