"Afghanistan lässt mich nicht los"

Foto: Bettina Flitner
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Frau Neukam, als Sie die ersten Bilder der Machtübernehme der Taliban in Kabul gesehen haben, was haben Sie gedacht?
Ich wusste vorher, dass es so kommt. Als die USA 2014 unter Obama angekündigt haben, nach und nach rausgehen zu wollen, war mir klar, dass es passieren wird. Es gab schon seit Jahren Provinzen, in denen die Taliban die Macht zurückerobert hatten. Trotzdem war ich fassungslos, als sie dann tatsächlich in dieser Geschwindigkeit in Kabul einmarschiert sind. Und als ich diese verzweifelten Menschen am Flughafen gesehen habe, hat das bei mir und meinen Kameraden viele Erlebnisse dieser Zeit getriggert.

Wie war es in Afghanistan bei Ihrer ersten Stationierung?
Als ich 2002 zum ersten Mal dort war, wusste ich von dem Land nicht viel. Aber: die Taliban waren vertrieben, das Volk wollte Frieden. Ich dachte: Toll, wir helfen! Wir waren optimistisch – und sehr blauäugig. Es war seltsam, dort als Frau zu sein und zu sehen, wie entrechtet die Frauen sind. Anfangs trugen fast alle eine Burka. Das wurde 2003 schon weniger. Die Frauen liefen immer ein paar Meter hinter dem Mann her. Es kamen auch anfangs keine Frauen zu uns ins Feldlazarett. Wenn eine Frau krank war oder ein Kind kriegte, dann schaffte sie das entweder allein zuhause oder sie starb. Nach und nach aber trauten sich auch Frauen in die Krankenhäuser.

Was haben Sie konkret erlebt?
Ich habe Frauen gesehen, die Striemen auf dem Rücken hatten, weil sie ausgepeitscht worden waren. Frauen in Afghanistan werden in erster Linie als Gebärmaschinen gesehen. Sie bekommen acht, zehn, fünfzehn Kinder, oft schon ab 16 oder 17 Jahren. Von den Kindern stirbt etwa die Hälfte, besonders, wenn es Mädchen sind. Wenn ein Mann es sich leisten kann, hat er mehrere Frauen. Sobald die Frauen keine Kinder mehr bekommen können, werden sie zur Last für die Familie und sollen möglichst verschwinden. Ein probates Mittel ist, sie vor ein Auto oder ins Feuer zu schubsen, damit es wie ein Unfall aussieht. Ich habe eine Frau behandelt, die starke Verbrennungen hatte. Ihr Mann hatte eine Gaskartusche so manipuliert, dass ihr die Stichflamme ins Gesicht geschlagen ist. Wir SoldatInnen haben mit eigenen Augen gesehen, wie Mädchen und Frauen vor Autos geschubst worden sind. Auch behinderte Frauen werden wie Aussätzige behandelt. Sie sitzen unter einer verdreckten Burka am Straßenrand und können nur noch betteln. Es kostet umgerechnet zehn Dollar, wenn sich ein Mann einen Esel als Transportmittel ausleihen will. Eine Frau, die sich prostituieren muss, kostet fünf Dollar.

Und die Männer?
Wenn Gefechte in Dörfern waren, haben wir oft erlebt, dass sich Taliban unter Burkas versteckt haben, weil sie wussten: Die westlichen Soldaten schießen nicht auf Frauen. Oder sie haben sich hinter Frauen und Kindern verschanzt, weil sie ihnen egal sind.

Haben Sie nie so etwas wie Liebe zwischen Mann und Frau gesehen?
Doch, wenn auch selten. Es steht und fällt mit der Bildung. Was mich anfangs sehr irritiert hat, war, dass Männer im Allgemeinen ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit Männern machen. Jungen im Teenageralter laufen Händchen haltend durch die Gegend. Ich dachte erst, das wären Geschwister. Denn Homosexualität wird ja eigentlich verteufelt. Aber man hat mir erklärt, dass es junge Männer sind, die den ersten Sex miteinander haben, in Ermangelung von Frauen. Oder sie nehmen Tiere, Esel und Kühe, an denen sie sich vergehen. Auch das haben wir oft mitbekommen.

Ab wann sind denn die Geschlechter getrennt?
Als Kinder dürfen Mädchen noch mit Jungen spielen. Wenn sie ihre Periode bekommen, ist das vorbei und sie werden quasi als Mensch herabgesetzt. Es werden auch viele Mädchen in die Provinzen verschleppt, wenn es dort zu wenig gebärfähige Frauen gibt. Und die Tatsache, dass junge Männer zuerst eine gleichgeschlechtliche Zuneigung kennenlernen, bedeutet natürlich auch, dass Männer Frauen nicht mit Gefühlen verbinden. Und ein riesengroßes Problem sind natürlich die Drogen. Generell nehmen viele Männer in Afghanistan Drogen. Oft werden die Pflanzen dafür von der eigenen Familie angebaut. Dazu kommt die Kriegssituation.

Und wie lief es in der eigenen Truppe?
Wir Frauen haben bei der Bundeswehr definitiv einen anderen Drive reingebracht. Der Umgang miteinander ist besser geworden. In meinem Lager in Kundus waren wir 1.500 Männer und 50 Frauen, wir waren also überschaubar. Trotzdem macht es einen Unterschied. Wer glaubt, dass wir Frauen in der Bundeswehr nichts verloren haben, der irrt gewaltig. Männer dürfen in so einem Land ja keine Frauen anfassen. Wir Soldatinnen konnten verletzte Frauen behandeln. Sie haben sich uns anvertraut. So wie sich unsere Männer Bärte haben wachsen lassen, um nicht wie Milchbubis zwischen den Dorfältesten zu sitzen, sind wir Frauen bewusst auf die Dörfer mitgefahren, um zu zeigen, dass wir gleichberechtigte Menschen sind. Die Kinder und Frauen haben sich immer riesig gefreut, uns zu sehen.

Gab es auch positive Momente?
Ein Bild habe ich fest in meinem Herzen: Fünf kleine Mädchen, die auf dem Weg zur Schule sind und stolz ihre Bücher vor der Brust halten. Ich werde auch nie die Dankbarkeit in den Augen einer Frau vergessen, der wir einen handballgroßen Tumor aus dem Gesicht entfernen konnten. Wir konnten vielen Menschen helfen, oft mit kleinen Handgriffen Leben retten. Es hat mich auch glücklich gemacht zu sehen, wie die Burkas im Laufe der Jahre weniger wurden. Wer glaubt, sich hier im Zeichen der Toleranz für die Burka stark machen zu müssen, der soll mal darin rumlaufen. Es ist ein Ganzkörpergefängnis. Das Sehfeld, das Hörvermögen, alles ist eingeschränkt und man schwitzt unglaublich darunter. Es ist ein Verbrechen an der Menschlichkeit, dass die Taliban den Frauen wieder die Burka aufzwingen.

Und das alles im Namen einer Religion.
Was die Taliban machen, ist gegen jede Religion. Im Grunde geht es um die Unterjochung eines Landes, um es nach Strich und Faden auszubeuten und sich selbst zu bereichern. Die Erschaffung eines sogenannten „islamischen Staates“ ist nur ein Deckmantel für die Machtergreifung, das Mittel zum Zweck. Die Führer der Taliban sind kluge Köpfe. Sie verbieten den Mädchen im Land, zur Schule zu gehen, aber die eigenen Töchter schicken sie auf Elite-Internate im Westen.

Sie sind ein sogenannter Psychologiefeldwebel. Was lag Ihren Kameradinnen und Kameraden während der Zeit der Einsätze auf der Seele?
Viele vermissten einfach ihre Frau und ihre Kinder. Hart war es, wenn die eigenen Eltern schwer erkrankten und sie nicht da sein konnten. Hinzu kam die permanente Angst vor Anschlägen, erschossen oder hochgesprengt zu werden. Es konnte ja jederzeit jeden treffen: auch den Koch im Lager oder die Leute in der Logistik. Eine Kameradin von mir, die immer die Särge bestellen musste, hat das schwer mitgenommen. Viele hatten auch Schuldgefühle, wenn sie sich zum Beispiel nicht sicher waren, ob sie in einem Gefecht vielleicht ein Kind getroffen haben.

Auch Sie selbst haben enge Kameraden verloren.
Ja, am 7. Juni 2003. Der Tag hat alles verändert. Ein Bundeswehrbus war auf dem Weg zum Flughafen nach Kabul, ein Taxi überholte, darin 150 Kilo Sprengstoff. Vier Soldaten starben bei dem Selbstmordanschlag, 29 wurden schwer verletzt. Ich hatte mit den Getöteten noch drei Wochen vorher meinen 31. Geburtstag gefeiert, sie hatten mich verabschiedet, weil mein Einsatz erstmal vorbei war. Viele der Verletzten wurden ins Bundeswehrkrankenhaus nach Ulm gebracht, wo ich damals als Krankenschwester auf der Intensivstation arbeitete. Seit diesem Anschlag gab es ein großes Misstrauen gegen die Afghanen, jeder konnte plötzlich ein Attentäter sein. Bei meinem nächsten Afghanistan-Einsatz in Kundus fielen wieder drei Kameraden. Ich habe den Schockraum hergerichtet, meine Fäuste auf zerfetzte Arterien gepresst, habe Pfarrer gerufen.

Hat das alles Sinn gemacht?
Wenn man das große Ganze sieht, war der Einsatz wahrscheinlich umsonst. Aber er war nicht sinnlos. Als wir reingegangen sind, waren die Vorzeichen gut. Wir konnten das Land stabilisieren, wir haben zumindest einer Generation gezeigt, was Frieden ist. Es gab Mädchenschulen. Wir konnten Frauen zeigen, dass sie ein Recht auf Menschenrechte haben. Wir haben Waisenhäuser, Frauenhäuser, Brücken und Brunnen gebaut.

Vermissen Sie die Anerkennung für Ihren Einsatz?
Ja, die Art und Weise des Abzugs war unwürdig. Das hat viele SoldatInnen und ihre Familien tief verletzt. Es sind 59 deutsche Soldaten gestorben, unzählige haben schwere Verletzungen, die ihr Leben für immer beeinträchtigen oder sind traumatisiert. Ich bekomme Anrufe von Kameraden, die nicht mehr schlafen können, weil das Erlebte sie so mitnimmt. Sie sehen nachts verbrannte Kinder, erleben Granatenbeschuss, sehen Menschen, die in einem Blutbad liegen.

Es heißt, dass in den USA über 30.000 Veteraninnen und Veteranen Selbstmord begangen haben, weil sie mit dem Trauma Afghanistan nicht fertig geworden sind. Gibt es aus Deutschland Zahlen?
Nein, weil sie nicht erfasst werden. In den USA bekommt jeder eine Veteranen-ID, auf der alle Einsätze, Verletzungen, Erkrankungen etc. abgespeichert werden. Da kann dann ein Suizid oft gut erklärt werden. Wer in Deutschland aus der Bundeswehr austritt, verschwindet vom Radar. Selbstverständlich gibt es auch hier Veteranen, die Selbstmord begangen haben, weil sie die Traumata nicht verarbeiten konnten. Soldatinnen haben noch ein ganz besonderes Trauma.

Welches?
Das der Vergewaltigung. Aus den USA kommt die Nachricht, dass jede vierte traumatisierte Frau vergewaltigt wurde. Und zwar nicht vom Feind, sondern vom Freund: von den eigenen Kameraden. Ja, darüber bin ich auch schockiert. Doch dazu haben wir in Deutschland überhaupt noch keine Zahlen. Das will niemand wissen. Und die Soldatinnen trauen sich auch nicht, darüber zu reden. Allein ich kenne drei Soldatinnen, die von ihren eigenen Kameraden vergewaltigt wurden. Man muss sich das mal vorstellen: Sie sind an der Front – und im Rücken haben Sie Ihren Vergewaltiger. Das ist natürlich noch schockierender, als dem Feind zum Opfer zu fallen. Bei der Bundeswehr ist das bis heute eines der größten Tabus. Da muss endlich was passieren!

Und wie geht es Ihnen heute?
Jeder Einsatz verändert einen, man kommt immer anders zurück, als man hineingegangen ist. Ich denke, ich habe nichts mitgenommen, was mich jetzt in meinem Leben negativ beeinflusst. Aber man weiß nie, ob da noch was kommt. Posttraumatische Belastungsstörungen können sich Jahre später entwickeln. Meine vielen Erlebnisse werden mich immer begleiten. Ich bin Projektleiterin für Einsatz-Veteraninnen, ich bekomme viele Hilfsanfragen von ehemaligen Kameraden. Auf viele Fragen habe auch ich keine Antwort. Die Bundeswehr muss in der seelischen Betreuung von SoldatInnen besser werden.

Das Gespräch führte Annika Ross.

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