Angelika im Ahrtal - Brief Nr. 2

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Am Wochenende hat Doreen bei mir gewohnt. Doreen Blask, die manchmal für EMMA schreibt, am liebsten über russische Dichterinnen. Manchmal  bringt sie auch bei Lesungen von Alice am EMMA-Stand das Mini-Abo an die Frau. „Liebe Angelika, ab Mitte nächster Woche habe ich ein paar Tage frei“, hat sie mir auf Facebook geschrieben. „Ich werde mich auf den Weg nach Ahrweiler machen. Sind die Straßen passierbar? Ist es sinnvoll, Wasser und Hygieneartikel mitzubringen? Sicherlich kann ich keine schweren körperlichen Arbeiten verrichten, aber vielleicht etwas helfen … ?“

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Ein paar Telefonate und Links zu HelferInnengruppen später, ist alles organisiert: Doreen wird bei mir im Gästebett schlafen und samstags in der St. Laurentius Kirche von Ahrweiler, deren Kirchenschiff zu einer Sammelstelle geworden ist, Hilfsgüter sortieren. Und am Sonntag in einem Hilfs-Camp in der Grafschaft – einer Region auf den Bergen hoch über dem Ahrtal - Essen zubereiten, verteilen und Wäsche waschen. 665 Kilometer ist Doreen von Rostock in die Ahrregion gefahren. Einfach machen.

Dieses „einfach machen“ fällt den Menschen, deren Existenz in der Ahrflut davongeschwommen ist, zunehmend schwerer. Jetzt, mehr als 14 Tage nach der Katastrophennacht, nach Schlamm schippen, Müll Räumen, Kümmern und Organisieren - ohne Strom, ohne Internet und mit nicht mehr keimfreiem Wasser - gehen ihnen die Kräfte aus: körperlich wie psychisch.

665 Kilometer ist Doreen von Rostock in die Ahrregion gefahren. Sie will helfen

„Ich bin in einer Hütte außerhalb vom Ahrtal, auf der Höhe. Nach neun Tagen ging nix mehr. Ich bin immer öfter zusammengebrochen. Dann sitze ich da, zittere am ganzen Körper“, erzählt mir Manuela, eine frühere Arbeitskollegin am Telefon. Ihre Tochter hat die beiden Enkelkinder, drei und fünf Jahre alt, die in ihren Betten schliefen, gerade noch rechtzeitig vor der Flut in Sicherheit bringen können. Sie sind am Leben, aber alles ist weg.

Manuela arbeitet beim Kinderschutzbund in Bad Neuenahr-Ahrweiler. „Unsere Geschäftsstelle steht noch, sechs von neun Kolleginnen haben zwar noch ihre Wohnung - aber alle sind familiär betroffen und packen da mit an. Wie sollen wir die Arbeit für den Kinderschutzbund wieder ans Laufen bekommen?“ Und eine Bitte hat sie: „Ich habe was gepostet, mit einem uralten Rechner und total langsamem Internet. Vielleicht kannst du es teilen… ?“ Ich teile. Es ist ein Wohnungsgesuch für eine alleinerziehende Mutter mit Sohn.

Am Samstagmorgen bin ich mit Yvonne verabredet, um sie zu ihrer Therapeutin zu begleiten. In der Flutnacht konnte sie ihre Eltern gerade noch in ein oberes Stockwerk bugsieren. Dort sah Yvonne mit dem diabeteskranken Vater, der angsterfüllten Mutter, zwei Flaschen Wasser und eine Packung Kekse das Wasser steigen, Stunde um Stunde. Die drei warteten zunehmend in Panik auf Hilfe, während die Nachbarn gegenüber SOS mit der Taschenlampe blinkten. Erst am nächsten Tag gegen 17 Uhr fuhr ein Bagger vor und schaffte die Eltern in seiner Schaufel in Sicherheit.

Seither rödelt Yvonne ohne Unterlass. Alles dreht sich um die Katastrophe, die Organisation der Hilfe. Was, wenn gerade jetzt die Stromwerke anklopfen und sie ist nicht da? Sie macht sich Gedanken: Um die Freundin, deren Auto beim Transport von Hilfsgütern für sie Probleme mit dem Zylinderkopf bekommen hat: Motorschaden; um den Gutachter, der doch kommen und das Haus anschauen wollte – sich aber nicht gemeldet hat. Sie ist überall - nur nicht bei sich. Die Therapeutin versucht sanft, den Gedankenkreisel wenigstens für einen Moment zu stoppen. Tief atmen, den Boden unter den Füßen spüren, den Raum wahrnehmen. „Was kommt Ihnen in den Sinn?“, fragt sie leise. „Wasser…“, sagt meine Freundin tonlos. „Ich sehe überall nur das Wasser kommen.“

"Ich sehe überall nur das Wasser kommen...", sagt meine Freundin tonlos

Nach der Stunde halten wir uns lange im Arm, bevor wir uns verabschieden. Ich brauche dringend einen Kaffee, was inzwischen kein Problem mehr ist, zumindest in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Überall haben das Rote Kreuz und freiwillige HelferInnen Essenstände und Nothilfe-Ausgabestellen aufgebaut. „Food of the World“ ist in bunten Lettern auf ein Schild gepinselt. In der Schlange davor steht eine Gruppe schlammverspritzter, hungriger HelferInnen im Blaumann und schweren Stiefeln an für einen Teller Erbsenuppe.

„Braucht ihr noch was?“, will ich von der jungen Frau in der DRK-Hilfestation wissen, die gerade Ravioli-Dosen einräumt. Die Regale sind bis an die Decke pickepackevoll mit Klamotten, Babynahrung, Schuhen, Spielzeug, Decken. Alles ordentlich sortiert, jede und jeder darf sich einfach nehmen, was er oder sie gerade braucht. Aber: „Schokolade haben wir zu wenig. Und Getränke mit Zucker drin wären gut. Das gibt Power!“  

Am Samstagnachmittag bin ich mit meiner Freundin Uta an ihrem Elternhaus verabredet, um weiter das Haus auszuräumen, das sie an den Wochenenden davor mit vielen helfenden Händen halbwegs vom Schlamm und zerstörten Möbeln befreien konnten. Die Müllberge sind inzwischen kleiner geworden. Aber die Siedlung gleicht einer Geisterstadt: Es scheint, als lebe niemand mehr in den Häusern. Auch Utas Eltern sind in einer Übergangswohnung untergeschlüpft. Wer die Möglichkeit hat, ist dem Chaos entflohen.

Die Müllberge sind kleiner geworden, aber die Siedlung gleicht einer Geisterstadt

Es staubt, wenn LKW, Traktoren, Bagger auf der Straße dröhnend an mir vorbeirattern. Ich setzte freiwillig die Atemmaske auf. Und wo der Schlamm inzwischen nicht zu feinem Staub zerbröselt ist, ist er zu einer betonharten Schicht geworden. Eingebacken im Matsch hier ein plattgetretener Kinderschuh von undefinierbarer Farbe. Eine Computermaus. Eine vermackte Spraydose mit Schmieröl. Unter dem Busch ein Paar verdreckte Arbeitshandschuhe. In den Zäunen hängen verwobene Äste und Plastikfetzen und flattern im Wind. Einige festgestampfte Dias puhle ich vorsichtig aus dem Boden. Ich will sie später sauber machen, wenigstens das. Wem sie wohl gehören?

Und wie wird es weitergehen für Utas Eltern? Muss das Haus abgerissen oder kann es renoviert werden? Eins ist sicher: Dahin zurück wollen Hans und Gerda auf keinen Fall!

Eine Privatinitiative hat Shuttle-Busse eingerichtet, mit denen die HelferInnen morgens von der Grafschaft ins Ahrtal gebracht und nachmittags wieder abgeholt werden. Alle, mit denen ich spreche, sind begeistert, wie gut das läuft! Und so haben auch die offiziellen Stellen, die am letzten Wochenende die Fahrt ins Katastrophengebiet mit vielen Polizeikontrollen zu unterbinden suchten, nichts mehr gegen die HelferInnen, die aus der ganzen Bundesrepublik kommen - und darüber hinaus. 21.000 haben allein die Shuttlebetreiber bis heute gezählt!

Dieser Spirit - gemeinsam anpacken und helfen – gibt den Opfern der Flutkatastrophe wieder Mut und Zuversicht; wo sie nicht mehr können, springen die Helfer und Helferinnen ein - egal ob sie in Eimerketten Schlamm wegschaffen oder einfach ohne viel TamTam ihren Karton mit Spenden abgeben. „Danke an alle Helfer“ hat jemand auf ein Bettlaken geschrieben, „ihr lasst das Herz unserer Heimat weiter schlagen.“

Helfer-Shuttle koordiniert die Anreise ins Katastrophengebiet, ebenso Facebook-Gruppen wie Hochwasser in AW - freiwillige Helfer oder Eifel für Eifel oder bei AhrHelp. Spenden für die Hochwasser-Katastrophenhilfe: Aktion Deutschland Hilft

 

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