Älteste Holocaust-Überlebende ist tot

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Das Glück kommt nicht von anderen Menschen, sagt Alice Herz-Sommer. Die Weisheit eines Jahrhundertlebens spricht aus diesem Satz. Am 26. November 2012 feierte sie ihren 109. Geburtstag – sie ist die wohl „älteste Holocaustüberlebende“. Und eine großartige Pianistin.

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Die Jubilarin liebt das Leben. „Und ich liebe die Menschen.“ Aus der ganzen Welt pilgern sie in ihr Ein-Zimmer-Appartement in London Hampstead; MusikerInnen, die sich von ihr inspirieren lassen; LiteraturwissenschaftlerInnen auf den Spuren von Franz Kafka und dem Prager Kreis; Menschen, die ihre Biografie gelesen oder ihr auf YouTube beim Klavierspielen zugesehen haben und die selbst spüren wollen, ob es stimmt, dass ihre Lebensfreude so beflügelt.

Ja, Alice setzt sich immer noch täglich ans Klavier. „Ich weiß vom Schlechten, aber ich suche nach dem Schönen“, sagt sie. Doch eigentlich ist sie keine große Rednerin. Ihre wahre Qualität ist das Zuhören. Ihr Gegenüber interessiert sie; auch jetzt noch, da Augen und Ohren immer schwächer werden. Wie wach sie auf ihre Gäste eingeht, ohne dabei jemals in Zeitnot zu sein, beglückt und beschämt gleichermaßen. Schwer, sich nicht von ihrem Lachen anstecken zu lassen. Alice lacht gern, auch über sich selbst. Ihr Lachen geht in die Tiefe. „Humor ist immer selbstkritisch“, sagt sie. „Warum nehmen sich die Menschen nur so wichtig?“

Alice hat sich selbst nie wichtig genommen. Dabei hat das Leben ihr ein großes Talent geschenkt: Das Talent, Klavier zu spielen und anderen Menschen mit ihrer Musik das Herz zu öffnen. In ihrer Heimatstadt Prag war sie die jüngste Meisterklassenschülerin, eine gefeierte Pianistin der Zwischenkriegszeit, eine der begehrtesten Klavierpädagoginnen schon damals. Was aus ihr noch hätte werden können, wenn … Daran verschwendet sie keine Gedanken.

Nein, das Glück ist Alice Herz-Sommer nicht zugeflogen, sie hat es sich errungen. Als Hitler und seine Helfer die Tschechoslowakei überfielen, wurde sie jäh gebremst. Viele ihrer engsten Bezugspersonen aus dem deutsch-jüdischen Prag hatten das Land noch rechtzeitig verlassen, auch die ältere Schwester, die mit dem Philosophen Felix Weltsch, einem von Kafkas besten Freunden, verheiratet war. Weltsch war eine der prägendsten Persönlichkeiten in Alices Leben. Durch ihn lernte sie Kafka kennen; acht Jahre war sie alt, als er mit ihr spielte und ihr „Geschichten von absonderlichen Tieren“ erzählte.

Und auch die Zwillingsschwester, hinter die Alice sich als kleines Mädchen immer zurückgesetzt gefühlt hatte, hatte Prag verlassen. Doch Alice und ihr Mann Leopold blieben. Sie lebte in der Musik, und sie musste sich um ihren kleinen Sohn und die kranke Mutter kümmern. An der Mutter, die die Tochter – nach Alices Empfinden – stets übersehen hatte, hing sie mit trotziger Liebe. Als der damals 72-Jährigen im Frühjahr 1942 der Deportationsbefehl zuging und Alice von ihr Abschied nehmen musste, verlor auch die Tochter den Boden unter den Füßen.

„Bis heute erinnere ich mich genau, wie nach Wochen tiefer Verzweiflung plötzlich eine innere Stimme zu mir sprach: Übe die 24 Etüden, das wird dich retten.“ Chopins Etüden gehören zum schwierigsten, was je für Klavier geschrieben wurde – wenn man verzweifelt ist, nimmt man sich Großes vor. „Sie waren die bisher gewaltigste Herausforderung an meine Willenskraft und meine Disziplin.“ Sie waren aber auch ihr Zufluchtsort.

„Seit meiner Kindheit gibt die Musik mir Geborgenheit. Sie gibt mir Halt. Sie trägt mich.“ Und sie rettete ihr das Leben. Mit ihrem Mann und dem damals sechsjährigen Stephan, der sich später – in Israel – Raphael nannte, wird sie nach Theresienstadt deportiert. Mehr als einhundert Konzerte gab Alice dort für ihre Mithäftlinge, gut zwanzig Mal führte sie die Etüden auf, alle 24.
Die Musik rettete sie auch, als sie erfuhr, dass ihr Mann über Auschwitz nach Dachau deportiert worden und dort gestorben war. Die Musik half ihr, sich im kommunistischen Nachkriegs-Prag – in ihrer Erinnerung „tausendmal schlimmer als die Nazis“ – durchzuschlagen, mit ihrem Sohn nach Israel zu flüchten und ein neues Leben als Klavierlehrerin aufzubauen. Auf die meditative Kraft der Musik vertraute sie, als sie gegen den Brustkrebs kämpfen musste.

Und dank der Musik fand Alice einen neuen Freundeskreis, als sie Mitte der 1980er Jahre noch einmal neu begann und von Jerusalem nach London zog. In der Musik fand sie langsam wieder Halt, nachdem Raphael – er blieb ihr einziges Kind – im November 2001, wenige Tage vor ihrem 98. Geburtstag, überraschend starb.

Hass? „Ich habe nie gehasst“, sagt Alice. Und man glaubt ihr aufs Wort. Was das Leben ihr auch zugemutet hat, sie nahm es an. „Humor ist ein Antibiotikum gegen den Hass“, zitiert sie ihren Schwager. Dabei liegen ihre Hände auf dem Schoß, die knochigen Finger wiegen sich sanft gegeneinander. In Alice, denkt man, klingen immerfort die schönsten Melodien, auch wenn sie sich aufmerksam unterhält. Beethoven oder Schubert mag sie nun, im hohen Alter, am liebsten.

„Ist das Leben nicht herrlich?“ fragt sie plötzlich. Und ihre Antwort stimmt nachdenklich: „Ja, das Leben ist herrlich!“

Weiterlesen
Alice Herz-Sommer: Ich gebe die Hoffnung niemals auf (Knaus)
Melissa Müller und Reinhard Piechockie: Alice Herz-Sommer - Ein Garten Eden inmitten der Hölle (Biografie, TB bei Knaur)

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