Alice Munro: Verrat an der Tochter

Alice Munro (2. v. re) mit ihren drei Töchtern.
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Viele Medienmacher waren schockiert – ja, schockiert! –, als sie erfuhren, wie Alice Munro, die Nobelpreisträgerin für Literatur, ihre Tochter Andrea im Stich gelassen hat. Alice Munro stellte die große Liebe zu ihrem Ehemann Gerald Fremlin vor alles; ihre Liebe zu dem Mann, der begann ihre leibliche Tochter – seine Stieftochter – sexuell zu missbrauchen, als das Kind gerade mal neun Jahre alt war.

Die schockierten Reaktionen spiegeln eine enorme Unkenntnis über die Natur von Inzest­familien im Speziellen und Gewalt im Allgemeinen.

Feministische Trauma-ForscherInnen und KlinikerInnen berichten seit langem, dass die Mütter, die mit Pädophilen – einschließlich leiblicher Väter und Stiefväter, die es auf vorpubertäre Mädchen (oder Jungen) abgesehen haben – verheiratet sind, sich fast ausnahmslos gegen die eigenen Kinder entscheiden. Sie leugnen, dass der Missbrauch jemals stattgefunden hat; sie behaupten, die Opfer würden lügen. Selbst wenn die Täter zugeben, dass sexuelle Handlungen stattgefunden haben, schieben sie dem Opfer die Schuld in die Schuhe und stellen ihre Tochter als „Nestbeschmutzerin“, als verführerische Lolita dar. Sogar dann, wenn das Mädchen nicht einmal zehn Jahre alt ist.

Solche Mütter sehen sich selbst als die eigent­lichen Opfer. Sie sind verbittert, weil sie gezwungen werden, sich zwischen einem Ehemann, den sie lieben – oder von dem sie ökonomisch abhängig sind –, und der Tochter zu entscheiden. Solche Mütter neigen dazu, das Kind, das den Missbrauch ausgesprochen hat, zu isolieren oder sogar zu verbannen, wenn es weiterhin darüber sprechen will oder gar fordert, dass die Mutter es schützen soll.

Viele Inzestopfer erzählen in der Therapie, dass sie durch den Verrat der Mutter weit mehr verletzt worden seien als durch den sexuellen Missbrauch an sich durch den Vater, Stiefvater oder Bruder. Sie leiden unter dem Versagen dieser Mütter, die sie nicht schützten, mehr als unter der sexuellen Gewalt selbst. 

Zum Teil liegt das daran, dass unsere Gesellschaft weitaus höhere Erwartungen an Mütter stellt und sie für das geringste Versagen – geschweige denn ein großes – bestraft; sowie an dem Unbehagen und der Angst der Opfer davor, von der Polizei oder Richtern noch einmal zu Opfern gemacht zu werden.

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Munro war in jeder Hinsicht eine typische Mutter der hier beschriebenen Art. Als ihre Tochter Andrea sie schließlich ernsthaft konfrontierte, „liebte Alice ihn (ihren Ehemann) immer noch zu sehr …“ Sie bestand darauf, dass „unsere frauenfeindliche Kultur schuld ist“, und wenn Andrea wolle, dass „ich meine eigenen Bedürfnisse verleugne, mich für meine Kinder aufopfere und die Fehler der Männer ausgleiche“ – würde sie das dennoch nicht tun. 

Der inzwischen pensionierte Detektiv der Ontario Provincial Police, Sam Lazarevich, verhaftete Munros Ehemann Fremlin, der seine Taten vor Gericht gestand und für schuldig befunden wurde. Der Polizeibeamte erinnert sich, dass der Täter bei der Verhaftung „beunruhigt über die Reaktion der Schriftstellerin“ war. „Eine sehr wütende Munro beschuldigte ihre Tochter der Lüge.“ Der Polizist fragte sie: „Das ist doch Ihre eigene Tochter! Wollen Sie Ihre Tochter nicht ­verteidigen?“ 

Aber warum sollten wir von der genialen Schriftstellerin erwarten können, dass sie über der weit verbreiteten Präferenz der Frauen für ihre Männer und/oder Vorurteile gegenüber anderen Frauen, insbesondere jüngeren Frauen, sogar ihren Töchtern, steht? Die Tatsache, dass sie eine verehrte, nobelpreisgekrönte Erzählerin ist, bedeutet nicht, dass sie persönlich gegen das ­patriarchale Gesetz handelt.

Ich denke nicht, dass wir Alice Munros Werk aufgrund ihrer menschlichen Unvollkommen­heiten canceln sollten. Virginia Woolf, George Orwell, T. S. Eliot und Ezra Pound zum Beispiel waren alle Judenhasser, und doch würde ich niemals unterstützen, ihre Werke aus dem Kanon der großen Literatur zu entfernen. Und sollten wir Oscar Wilde meiden, da er in seiner Zeit als Krimineller eingesperrt wurde, weil er Sex mit einem anderen, jüngeren Mann hatte?

Alice Munro ist auch nicht die Einzige, die zur Gruppe der so „schockierenden“ Schuldigen gehört. Das Problem ist größer als eine einzelne Person. Munro hatte viele Mithelfer und Zuschauer, die ihr zur Seite standen. Doch auf der Seite von Andrea Robin Skinner, geborene Munro, standen weder ihre Stiefmutter Carole oder ihr leiblicher Vater Jim noch ihr Stiefbruder Andrew, als sie enthüllte, was über Jahre passiert war. Sie alle entschieden sich, Andreas Mutter Alice nichts davon zu sagen. Sie alle schwiegen. Sie alle bewahrten den „Familien­frieden“.

Die Sache ist sogar weitaus größer als die Familie, mit der sich Andrea seither wieder versöhnt hat. Die Medienberichterstattung über Fremlins Schuldspruch war in Kanada und anderswo sehr zurückhaltend. Mehrere Munro-Biografen weigerten sich, die Fakten in ihre Werke aufzunehmen, auch nicht in die aktua­lisierten Ausgaben.

Und was wurde aus der Tochter Andrea? Unmittelbar nach dem ersten sexuellen Übergriff durch ihren Stiefvater veränderte sich ihr Leben zum Schlechteren. Sie war zu Hause nicht mehr sicher. Und sie glaubte nicht, dass irgendjemand, der ihr im Leben wichtig war, ihr glauben würde.

Andrea schreibt rückblickend, dass sie „Bulimie, Schlaflosigkeit und Migräne entwickelte“, was sie „dem Missbrauch zuschrieb“. Und ihr „privater Schmerz seinen Tribut forderte. An der Universität sanken meine Noten und die Bulimie übernahm mein Leben. Ich brach ein internationales Entwicklungsprogramm ab und gab meinen Traum auf, im Ausland zu arbeiten. Mit 25 konnte ich mir keine Zukunft mehr vorstellen.“

Als Andrea selbst Mutter wurde, erklärte sie Alice, dass sie „Fremlin nicht in die Nähe ihrer Kinder lassen würde“. Doch Alice, die selbst nicht Auto fahren konnte, bestand trotzdem darauf, dass Fremlin die erwachsene Andrea mit ihrer kleinen Tochter zum Flughafen fahren sollte. Mehr noch: Sie weigerte sich, Andrea ohne Fremlin zu besuchen. Daraufhin brach Andrea den Kontakt zu ihrer Mutter ab. So fühlte sich Andrea lange Zeit von ihrer engen Familie verraten – und verlor ihre Mutter. Die beiden haben sich nie ­versöhnt.

Die #MeToo-Bewegung entlarvte viele mächtige Männer, weil sie Frauen sexuell angegriffen oder sexuelle Gefälligkeiten von verletzlichen oder ehrgeizigen weiblichen Angestellten gefordert hatten. Jeder dieser mächtigen Männer wurde von zahllosen Helfern, Verschwörern, Mitläufern und Zuschauern geschützt. Diese Munro-Fremlin-Skinner-Geschichte ist nur ein Fall, einer von Tausenden, vielleicht Millionen weiterer unbekannter Männer, die – obwohl sie solche Verbrechen begangen haben – davonkommen. 

Überlebende von Gewalt, sogar von Gräuel­taten, sagen, dass sie auch der Verrat jener verfolgt, die zwar ihre Schreie hörten, ihnen aber den Rücken kehrten; die die Türen schlossen, neutral blieben und sich weigerten, Partei zu ergreifen. Doch man kann nicht Zuschauer sein, ohne mitschuldig zu werden.  

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