Sexualgewalt & Recht

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Dass Recht nicht gleich Gerechtigkeit ist, ist bekannt. Doch wir sollten nie aufhören zu versuchen, die Schere zwischen Recht und Gerechtigkeit so klein wie möglich zu halten. Das ist nicht immer einfach. Denn wir haben in Deutschland strukturell eine Täterjustiz, die Täter schützt und Opfer zusätzlich ausliefert. Was im Sexualstrafrecht, wo in der Regel Aussage gegen Aussage steht, besonders stark zum Tragen kommt.

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Das war nicht immer so. In der jungen Bundesrepublik herrschte zunächst durchaus noch die Mentalität der Nazizeit – es waren zu Teilen ja auch noch dieselben Juristen in Amt und Würden. Das bedeutete: Ambivalenzen wurden verdrängt, es gab nur Gut und Böse; die Täter waren keine Menschen, sondern „Bestien“. Und so mancher war rasch wieder dabei mit den alten Kopf-ab-Parolen.

Das änderte sich 1967 mit dem Prozess gegen Jürgen Bartsch in Wuppertal. Der damals 20-Jährige hatte vier kleine Jungen aus sexueller Lust gefoltert und ermordet. Die Wogen schlugen hoch. Viele wollten den Kopf der „Bestie“ rollen sehen. Dagegen stellte sich erstmals eine Berichterstattung, die aufklärte: Auch Täter sind Menschen. Und die die Frage stellte: Wie werden Menschen eigentlich zu Tätern?

Ich selber war damals als junge Journalistin mehrfach im Bartsch-Prozess, nicht als Berichterstatterin, sondern als Beobachterin aus persönlichem Interesse. Und in der Tat: Es war schwer vorstellbar, wie dieser so sanft aussehende junge Mann zu einem so gefühllosen, sadistischen Täter hatte werden können. – Bartsch starb tragischerweise zehn Jahre später an einer auch von ihm selbst ­gewünschten Kastration. Es hatte ihm ­offensichtlich niemand gesagt, dass seine mörderische Lust sich nicht in seinen ­Genitalien, sondern im Kopf abspielte.

Der Bartsch-Prozess war der Turning Point in dem Kapitel „Sexualgewalt und Strafrecht“; also in Prozessen, in denen in der Regel Männer die Täter sind und Kinder oder Frauen die Opfer. Von nun an beschäftigten sich die als aufgeklärt und fortschrittlich verstehenden Journalisten einfühlsam mit den Tätern. Was nicht falsch war. Aber: Gleichzeitig gerieten die Opfer aus dem Blick.

Führend bei dieser Pro-Täter-Gerichtsberichterstattung war zunächst Uwe Nettelbeck von der Zeit und sodann Gerhard Mauz vom Spiegel. Fatalerweise wurden die Täter von ihnen jetzt nicht nur zunehmend verstanden, sondern auch zunehmend entschuldigt. Und gleichzeitig wurden die Opfer von Sexualverbrechen ignoriert oder sogar degradiert.

Nicht zufällig habe ich 1977 in der ersten EMMA einen Essay veröffentlicht mit dem Titel „Männerjustiz“, parallel zu dem Begriff Klassenjustiz. Nur, dass über die Klassenjustiz damals alle redeten, die Männerjustiz jedoch noch nicht einmal ein Begriff war – und bis heute nicht ist. Dabei war sie allgegenwärtig: So wurde zum Beispiel die Minderheit der Gattenmörderinnen doppelt so häufig zu lebenslänglich verurteilt wie die Mehrheit der Gattenmörder. Und die „gekränkte Männerehre“ bzw. die angebliche „Dominanz“ des weiblichen Opfers war ein Milderungsgrund bei Prozessen, bis hin zum Freispruch.

In der ersten EMMA analysierte ich 1977 den Prozess gegen den Prostituiertenmörder Fritz Honka, ein Jahr nach dem „UNO-Jahr der Frau“. Honka hatte vier ältere Prostituierte vergewaltigt, gefoltert, erdrosselt und verstümmelt. Alle vier waren nach ihrem Tod von niemandem vermisst worden. Für seine bestialische Ermordung der Allerschwächsten bekam der Serienmörder nicht etwa lebenslänglich und Sicherheitsverwahrung, sondern 15 Jahre und eine Einweisung in die Psychiatrie.

Die Richter übernahmen teilweise wörtlich die Formulierungen aus der Berichterstattung des Spiegel-Reporters Mauz. Der hatte geschrieben, die ermordeten Frauen seien „schlampig und dreckig“ gewesen; Honka hingegen sei „ein Moralist“ gewesen, für den „Sauberkeit und Ordnung hohe Werte“ seien. Mauz weiter über den Prostituiertenmörder: „Die niederdrückende Last seiner Erfahrung mit Frauen hat ihn flachgemacht, was sein Verhältnis zu Frauen angeht. Er suchte die Partnerin, das Gespräch, den Austausch, jene Hilfe, die allein das ­Gespräch zwischen den Geschlechtern geben kann.“

Honka wurde 1993 entlassen und zog – anonymisiert – in ein gemischtgeschlechtliches Altersheim. Man kann nur hoffen, dass ihm da keine „schlampigen“ Frauen begegnet sind.

Als Feministinnen Mitte der 70er Jahre begannen, die Gewalt gegen Frauen und den Missbrauch von Kindern zu thematisieren, wurden sie zunächst ausgelacht. Doch schnell waren die Frauenhäuser überfüllt. Heute lacht niemand mehr.

Es sollte allerdings nochmal über 40 Jahre dauern, bis das Vergewaltigungsgesetz der Realität angepasst wurde. Erst seit der Reform im Juli 2016 gilt, ich ­zitiere: „Wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“ Will sagen: Nein heißt endlich Nein! Das war bitter nötig.

Das Gesetz wurde einstimmig verabschiedet, von 601 der 601 Abgeordneten. Was Teile der Medien nicht hinderte, unqualifiziert zu hämen. Unqualifiziert, weil sie nicht gewillt sind, die Realität zur Kenntnis zu nehmen. Und diese Realität sieht so aus: Vergewaltigung ist in Deutschland bis heute ein quasi straffreies Verbrechen. Nur jeder 100. Vergewaltiger wird auch verurteilt.

Kein Wunder, hatte doch noch 2006 der Bundesgerichtshof einen Freispruch mit den folgenden Worten gerechtfertigt: Dass „der Angeklagte der Nebenklägerin die Kleidung vom Körper gerissen und gegen deren ausdrücklich erklärten Willen den Geschlechtsverkehr durchgeführt hat“, belege „nicht die Nötigung des ­Opfers durch Gewalt. Das Herunterreißen der Kleidung allein reicht zur Tatbestandserfüllung nicht aus.“

Jüngst haben die Frauennotrufe über hundert bewiesene Vergewaltigungsfälle dokumentiert, in denen die Täter freigesprochen oder ein Verfahren gar nicht erst eröffnet wurde, obwohl das Opfer erklärtermaßen Nein gesagt hatte – und der Täter die Tat sogar gestanden hatte.

Verschärft wird dieses Pro-Vergewaltiger-Klima durch die medial dauerbefeuerte Unterstellung, die meisten Anschuldigungen wegen Missbrauch und Vergewaltigung seien falsch. Das begann mit der Reaktion auf das Öffentlich-machen der sexuellen Gewalt durch Feministinnen Mitte der 70er Jahre.

Das letzte Tabu war der sexuelle Missbrauch von Kindern. EMMA brach es 1978. Bis dahin existierte der sexuelle Missbrauch von Kindern einfach nicht. Und wenn, hatte das Kind den Mann „verführt“. Heute wissen wir: Jedes dritte bis vierte Mädchen wird Opfer sexuellen Missbrauchs – und jeder achte bis zehnte Junge –, meist durch so genannte „Nahtäter“, also Väter, Nachbarn oder Trainer.

Auf diese bittere Wahrheit reagieren in den 80er Jahren pädophilen-freundliche, pseudo-fortschrittliche Pädagogen mit dem Slogan vom „Missbrauch des Missbrauchs“; also der Behauptung, die meisten Anschuldigungen seien Falsch­anschuldigungen: von manipulierten Kindern und rachsüchtigen Müttern.

Doch bezichtigen überhaupt nur drei Prozent der Mütter bei Scheidungen die Väter des Missbrauchs. Also drei von hundert Müttern behaupten, der Vater sei dem Kind gegenüber sexuell übergriffig gewesen. Bei keinem Delikt ist die Zahl der Falschanschuldigungen generell so niedrig wie bei Sexualverbrechen. Und es ist auch klar, warum: Weil die Opfer vor Gericht häufig noch einmal zum Opfer werden – und darum gar nicht erst wagen, anzuzeigen.

Und das nicht nur wegen voreingenommener Richter, parteilichen Verteidigern oder einäugigen Journalisten, sondern auch aufgrund des geltenden Rechtes. Ein Mensch, der wegen sexueller Gewalt vor Gericht steht, hat, wie alle Angeklagten in Deutschland, das Recht zu schweigen. Eine Frau, die Anzeige erstattet wegen sexueller Gewalt, wird bis auf die Knochen ausgezogen. Sie muss sich nicht nur zum Tathergang äußern, sondern auch ihr gesamtes Sexualleben offenlegen: Die erste Periode? Der erste Sexualverkehr? Sexuelle Vorlieben? Ihr Lebenswandel? etc. etc.

Wer so einem Prozess mal gefolgt ist, kann sich des Eindrucks eines strukturellen Ungleichgewichts zwischen Tätern und Opfern kaum erwehren. Das geltende Recht in Deutschland ist täteraffin.

Verschärfend kommt hinzu: Auch so mancher Richter, Gutachter oder Journalist ist parteiisch. Ganz einfach, weil er selber Sympathisant oder gar Täter ist. Denn irgendwo müssen sie schließlich sein, die Millionen Täter der Sexual­delikte epidemischen Ausmaßes.

Eine Studie des Bundesfrauenministe­riums belegt: Nur jede zwölfte Vergewal­tigung bzw. sexuelle Nötigung wird angezeigt. Und die Kriminalstatistiken beweisen: Nur jeder zehnte der der Vergewaltigung Beschuldigte wird verurteilt.

Das heißt: Es kommt ganz aufs Bundesland an. Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen fand heraus, dass in manchen Bundesländern jeder vierte Angezeigte verurteilt wird. In anderen Bundesländern wiederum, wie zum Beispiel Berlin, wird nur jeder 25. verurteilt. Wie kann man sich diese enorme Kluft erklären? Doch nur durch das jeweils herrschende gesellschaftspolitische Klima. Das beeinflusst bereits die Arbeit der Polizei und eben auch die ­Urteile der Richter.

Der Weg von der Tat bis zur Verurteilung ist im Falle von Vergewaltigung übrigens ein besonders hürdenreicher. Hürde Nummer 1: Die Frau zeigt gar nicht erst an. Hürde Nummer 2: Die Polizei nimmt die Anzeige so auf, dass sie leicht zu erschüttern ist. Hürde Nummer 3: Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren noch vor Eröffnung ein – was bei 3 von 4 Anzeigen der Fall ist! Hürde Nummer 4: Das Gericht spricht frei; aus Überzeugung oder aus Zweifel an der Schuld. Nur knapp jeder 100. Vergewaltiger wird zuguterletzt auch verurteilt. Vergewaltigung ist ein straffreies Verbrechen in Deutschland.

Was nenne ich einen (gesellschafts)politischen Prozess? Prozesse, bei denen die gesellschaftliche Relevanz weit über den Einzelfall hinausgeht, von Honka bis ­Kachelmann. Diese Prozesse werden von den Medien skandalisiert, weil das Thema oder auch die Beteiligten über den konkreten Fall hinaus gesellschaftspolitisch brisant sind.

Wie der Prozess gegen den beliebten Boxweltmeister Bubi Scholz 1984. Er hatte seine Frau, die sich aus Angst vor ihm in der winzigen Toilette eingeschlossen hatte, durch die Türe erschossen. ­Scholz stand zu der Zeit für den verunsicherten Mann mit der zu emanzipierten Frau. Während das einstige Männer-Idol arbeitslos war, führte seine Frau eine erfolgreiche Parfümerie auf dem Ku’damm. Die Tat „glich einem Selbstmordversuch, so abhängig, wie Gustav Scholz von seiner Frau war“, schrieb damals Gerhard Mauz im Spiegel. Auch die Richter hatten ein Einsehen: drei Jahre, davon ein Jahr auf Bewährung. „Unser Bubi bald frei“, jubelte Bild.

Erste Pointe: Bubis „Neue“ holte ihn nach zwei Jahren am Gefängnistor ab. Zu dem Zeitpunkt hatte er mit ihr bereits seit fünf Jahren ein Verhältnis. Zweite Pointe: Der ja nicht wegen Mordes, sondern nur wegen fahrlässiger Tötung verurteilte Bubi Scholz kassierte die Lebensversicherung seiner von ihm getöteten Frau: 650.000 DM.

Zu der Zeit war die „Verletzung der Männerehre“ noch eine strafmildernde Kategorie an deutschen Gerichten und eine übliche Floskel in vielen Urteilsbegründungen. Heutzutage nennen die Medien das „Familiendrama“. Ein Drama, das sozusagen vom Himmel fällt und keinen Schuldigen kennt.

Ein „politischer Prozess“ war auch der gegen „Mutter Weimar“, die ab 1986 der Ermordung ihrer beiden Töchter angeklagt war. Sie stand in dieser geschlechterbewegten Zeit exemplarisch für die „Rabenmutter“.

Auch hier ein schwacher Mann und seine berufstätige Frau, die zu allem Überfluss auch noch einen jüngeren Liebhaber hatte. Monika Weimar wird, fast wortgleich zu Scholz, als „ihm überlegen“, „kalt“ und „schmallippig“ beschrieben. Die Mutter wurde für den Tod ihrer beiden Töchter einmal schuldig, einmal frei und ein drittes Mal wieder schuldig gesprochen. Sie bekam lebenslänglich.

Die Berichterstattung von Gerhard Mauz im Spiegel und seiner „Freundin Gisela“, wie er zu sagen pflegte, die zu der Zeit noch in der FAZ schrieb, war nach Meinung vieler Beobachter entscheidend für den letzten Schuldspruch nach dem Freispruch. Für die beiden Journalisten war Monika Weimar von Anbeginn an ganz zweifelsfrei die Täterin. Die Doyenne der deutschen Rechtspsychologie allerdings, Prof. Elisabeth Müller-Luckmann, Gutachterin im Weimar-Prozess, war noch 2009 im Gespräch mit EMMA fest davon überzeugt, dass die Mutter unschuldig war. „Der Vater war der Täter“, sagte sie. Dieser Vater allerdings war nie auch nur vernommen worden, geschweige denn angeklagt.

Gar nicht zu reden von den zahllosen Prozessen, in denen muslimische Frauen- und Töchtermörder in den 1980er und 1990er Jahren zu einfühlsamen Mindeststrafen verurteilt oder gleich freigesprochen wurden – wegen der „anderen Sitten“ und weil auch ihre Opfer gegen die Ehre, in dem Fall gegen die „Familienehre“ verstoßen hatten. Das änderte sich erst in den letzten Jahren ganz allmählich.

Ich könnte diese Liste endlos fortsetzen, doch die wenigen Beispiele sollen genügen, um in Erinnerung zu rufen: Der Zeitgeist kann eine entscheidende Rolle beim Urteil spielen. Denn selbst scheinbar unumstößliche Fakten können so oder so interpretiert werden. Alles Ermessensfragen. Selbst ein Tod kann mal als „Mord“ oder als „Totschlag“ oder gar als „Unfall“ klassifiziert werden – was entscheidend ist für das Strafmaß. Richter haben einen dem Laien weitgehend unbekannten, gewaltigen Ermessens-Spielraum.

Und immer fataler wurde die Rolle der Gutachter. Schon vor 20 Jahren warnte das Max-Planck-Institut für Strafrecht: Jedes dritte Gerichtsgutachten enthalte „wissenschaftlich völlig unbegründete, subjektive Wertungen, Unterstellungen, Spekulationen, Pseudo-Theorien und Vorurteile.“ Jedes dritte. Das dürfte seither eher mehr geworden sein. Denn die Entrechtlichung der Gerichtsbarkeit durch die Gutachter-Gläubigkeit der Richter schreitet voran. Nicht nur bei rechtspsychologischen Gutachten, auch bei rechtsmedizinischen. Denn selbst Verletzungen sind unterschiedlich interpretierbar (wie wir im Fall Kachelmann erleben).

Die große Rechtspsychologin Müller-Luckmann warnte schon 1997 in EMMA vor der fatalen Arbeitsteilung zwischen angeblich „unwissenden Richtern“ und „wissenden Gutachtern“. Sie riet den Richtern, „stärker auf ihre Menschenkenntnis zu vertrauen“. Inzwischen jedoch fördert sogar der Bundesgerichtshof diese Entmündigung der Richter. So kann die Nichthinzuziehung eines „Sachverständigen“ – der so manches Mal kaum sachverständiger ist als der Richter – einem Gericht bei Berufungsverfahren heutzutage als „Fehler“ angelastet werden.

In der Sexualstrafgerichtsbarkeit gar ist die Rolle der Gutachter quasi entscheidend. Dabei ist gerade da das Ungleichgewicht zwischen dem hie (mutmaßlichen und meist männlichen) Täter und dem da (mutmaßlichen und meist kindlichen oder weiblichen) Opfer besonders groß. Auch das ökonomische Ungleichgewicht. Was so manchem Angeklagten erlaubt, eine Armada eigener Gutachter auftreten zu lassen, wie im Fall Kachelmann. Und diese Gutachter tragen erstaunlicherweise immer genau das als objektive Experten-Erkenntnis vor, was in die Strategie der Verteidigung passt.

Als ein Beispiel von vielen möglichen sei der 2008 verstorbene Pädagoge Prof. Helmut Kentler genannt. Er war in den 80er und 90er Jahren ein Gutachter-Star in Prozessen, bei denen es um sexuellen Missbrauch von Kindern ging. Im Mai 1997 sollte Kentler sogar den Magnus-Hirschfeld-Preis erhalten – was nur im letzten Augenblick verhindert werden konnte durch einen Bericht von EMMA über „die offene Propagierung von Pädophilie durch deutsche Hochschulprofessoren“. Einer dieser Professoren war Kentler.

Inzwischen hat auch eine aktuelle Studie des Göttinger „Instituts für Demokratieforschung“ bewiesen, was damals keiner wahrhaben wollte: Kentler war ein aktiver Pädophiler. Jugendämtern pflegte der Pädagoge zu raten, delinquente ­Jugendliche bei Pädophilen, die bereits wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt worden waren, als Bewährungshelfer unterzubringen. Denn, so Kentler, Pädophile liebten Kinder und hätten nur ein Ziel: sie „froh und glücklich“ zu machen. Froh und glücklich. Das Jugendamt folgte den Empfehlungen des renommierten Gutachters.

Der brüstete sich nach Verhinderung des Hirschfeld-Preises durch EMMA in der über Jahrzehnte führend Pädophilen-affinen taz, er sei in den vergangenen sechs Jahren in „fast 30 Prozessen“ wegen sexuellen Missbrauchs als Gutachter aufgetreten, und, so wörtlich: „Ich bin stolz darauf, dass bisher alle Fälle, in denen ich tätig geworden bin, mit Einstellung des Verfahrens oder sogar Freispruch beendet worden sind.“

Gehen wir davon aus, dass maximal fünf Prozent der Anschuldigungen bei sexuellem Missbrauch Falschanschuldigungen sind, hätten also bei 30 Anschuldigungen ein bis zwei falsch sein können. Für Gutachter Kentler und die ihm hörigen Richter waren 100 Prozent falsch. Die armen Opfer …

Einer Umfrage aus dem Jahr 2010 zufolge der Medienwissenschaftler an der Universität Mainz, gaben 42 Prozent der Staatsanwälte und 58 Prozent der Richter zu, dass die Medienberichterstattung ihr Verhalten sowie das Strafmaß beeinflussen. Das ist schon erschreckend genug.

Die wirkliche Zahl dürfte noch höher liegen, da den sich für unabhängig haltenden Richtern ein solches Geständnis schwergefallen sein dürfte.

Diese öffentliche Meinung fällt nicht vom Himmel, sie ist weitgehend die veröffentlichte Meinung. Neben dem Pionier Gerhard Mauz hat seine Nachfolgerin Gisela Friedrichsen über Jahrzehnte eine prägende Rolle gespielt. Die Gerichtsberichterstatterin ist inzwischen beimSpiegel in Ruhestand gegangen und hat bei der Welt angeheuert. Sie ist bis heute spezialisiert auf Prozesse über Kindesmissbrauch und Sexualmorde. Ich kann mich beim Kindesmissbrauch nicht an eine einzige Berichterstattung von Friedrichsen erinnern, in der sie die Partei des Kindes bzw. der Kinder ergriffen hätte. Bei ihr waren quasi alle des Missbrauchs Angeklagten unschuldig.

In Fachkreisen ist das Unbehagen über die Einseitigkeit, ja Absolutheit der Berichterstattung der selbsternannten Richterin Friedrichsen schon lange groß. So schrieb die Neue juristische Wochenschrift über die Texte der studierten Germanistin schon 2005: „Schulmeisterlich verteilt sie Zeugnisse, bewertet, lobt, verdammt, auf der Grundlage ihrer subjektiven Maßstäbe. Dabei ergreift sie nicht nur Partei für eine Seite, sondern berichtet einseitig, gibt den Argumenten der angegriffenen Seiten meist keinen Raum.“

Sexualmörder erfreuen sich der ganz besonderen Einfühlsamkeit von Friedrichsen. Fast immer sind deren Mütter „kaltherzig“ – und die Opfer nicht der Rede wert. Ein Paradebeispiel für Friedrichsens Berichterstattung in solchen Fällen war der so genannte „Rosa Riese aus Beelitz“. Wolfgang Schmidt hatte in den Jahren 1989 bis 1991 fünf Frauen vergewaltigt, ermordet und ihre Leichen geschändet. Drei weitere Opfer überlebten nur knapp. Bei seinem letzten Opfer hatte er vor den Augen der Mutter den Kopf ihres drei Monate alten Babys auf einem Baumstamm zerschmettert. Der Serienmörder bekam nicht etwa Sicherheitsverwahrung, sondern lebenslänglich im Maßregelvollzug.

Friedrichsen widmete diesem „Menschen, der so Schreckliches getan hat“, fünf einfühlsame Spiegel-Seiten – für die Opfer hatte sie knappe fünf Zeilen. Es ging auf diesen fünf Seiten viel um die Mutterbeziehung des Mörders. Noch nicht einmal auch nur erwähnt wurde, dass Schmidt bei der DDR-Volkspolizei unehrenhaft entlassen worden war, weil er mit seinen Kameraden Hitlers Geburtstag zu feiern pflegte, und dass er bei der CDU ausgetreten war wegen deren „zu lascher Ausländerpolitik“.

Zurzeit ist Schmidt noch im Maßregelvollzug. Im Frauen-Maßregelvollzug. Denn der Frauenmörder enthüllte im Gefängnis seine weibliche Seele. Er nennt sich jetzt Beate und trägt Frauenkleider. 2013 erklärte ein Therapeut, Schmidt könne wahrscheinlich in vier, fünf Jahren als geheilt entlassen werden. Als Frau.

Das für Opfer so fatale Zusammenspiel von Verteidigern, Gutachtern und Journalisten hat sich durch die aus Amerika kommende Methode der Litiga­tion-PR verschärft. Dabei arbeiten Strafverteidiger, Medienanwälte, Gutachter und JournalistInnen Hand in Hand – zugunsten des Angeklagten. Als Beispiel dafür soll der Fall Amanda Knox genannt werden.

Die junge Amerikanerin, die in Perugia studierte, soll zusammen mit einem Liebhaber bei sadomasochistischen Sexspielen eine Freundin der beiden ermordet haben. Die Beweise waren erdrückend. Ein italienisches Gericht verurteilte Knox darum 2008 zu 26 Jahren Gefängnis.

Nun schalteten ihre vermögenden Eltern in den USA die berühmte PR-Agentur von David Mariott ein. Die begann, den „Engel mit den Eisaugen“ weichzuzeichnen und stellte Knox in Talkshows von Winfrey bis Kerner als „Justizopfer“ dar. In der darauffolgenden Berufungsverhandlung wurde Amanda Knox tatsächlich freigesprochen. Sie verließ umgehend Italien und reiste nach Amerika. In einer dritten Verhandlung allerdings verurteilten die italienischen Richter dann die Amerikanerin erneut zu 28 Jahren Gefängnis. Sie wird das Gefängnis nie von innen sehen, Amerika liefert sie nicht aus.

In Deutschland ist die Litigation-PR relativ neu. Sie begann erst im Jahr 2010 offensichtlich zu werden, dem Jahr des Kachelmann-Prozesses. Da trat eine dritte Journalistin auf die große Bühne der Pro-Angeklagten-Berichterstattung: Sabine Rückert von der Zeit. An ihrem Beispiel lässt sich nicht nur der Einfluss der Medien exemplarisch aufzeigen, sondern auch die Rolle der Litigation-PR.

Im Juni 2010, also drei Monate vor Beginn des Kachelmann-Prozesses, veröffentlichte Rückert in der Zeit gleich ein ganzes Dossier über den angeblichen „Justizirrtum“ und teilte kategorisch mit: Der Mann ist unschuldig, die Frau ist eine Lügnerin! Das Dossier strotzte nur so von Detailkenntnissen, sie muss bereits in dem Stadium mindestens einen Teil der Akten gekannt haben.

Der Kachelmann-Prozess ging über neun Monate und am Ende sprach das Gericht den Angeklagten frei, aus „Mangel an Beweisen“. Ein Freispruch dritter Klasse. Denn in seiner Urteilsbegründung rügte der Vorsitzende Richter Seidling nicht nur den Umgang der Medien mit der Ex-Freundin, die als „rachsüchtige Lügnerin“ und gutgläubige Trottelin dargestellt worden war. Der Richter betonte auch ausführlich: Der Verdacht, dass Kachelmann seine damalige Lebensgefährtin vergewaltigt und mit dem Tode bedroht habe, hätte sich leider „nicht verflüchtigt“. Es bestünden allerdings gleichzeitig „Zweifel an seiner Täterschaft“. Die Me­dien mögen das unbedingt bei ihrer Berichterstattung berücksichtigen, forderte der Richter.

Was die Medien nicht taten. Im Gegenteil: Sie werteten das Urteil als finalen Beweis für Kachelmanns Unschuld – und die Schuld der Ex-Freundin.

Das Gericht hatte also in neun Monaten Verhandlung nicht klären können, was die Journalistin Rückert von der Zeit – sekundiert von Friedrichsen im Spiegel – bereits ein Jahr zuvor zweifelsfrei wusste: Die Frau hatte sich nur rächen wollen und war eine Lügnerin, der Angeklagte war ihr Opfer!

Um ihre Sicht der Dinge durchzusetzen, ging die Zeit-Journalistin weit. Sehr weit. Sie nahm direkten Einfluss auf die Verteidigung, indem sie Kachelmanns erstem Anwalt schriftlich dringlich nahelegte, den ihr vertrauten Anwalt Schwenn hinzuzuziehen. Mit Schwenn hatte sie bereits ein Buch über einen „Justizirrtum“ gemacht. Als Birkenstock nicht parierte, wurde er gegen Schwenn ausgetauscht: Rückerts Kumpane war von nun an ­Kachelmanns Verteidiger. Mit Erfolg.

Schwenns Auftritt vor Gericht – Kamelhaarmantel, Schweinslederhandschuhe, nasaler Hamburger Tonfall – brachte die Stimmung im Saal zum Kippen. War die Mehrheit der Berichterstatter zuvor durchaus noch hin und her gerissen gewesen, so neigte sie nun – unter dem Trommelfeuer der Verteidigung und der sekundierenden Berichterstattung von Rückert in der erhabenen Zeit – immer mehr dazu, Kachelmann für unschuldig zu halten. Zumindest in ihren Veröffentlichungen. Die Gespräche unter Journalisten in den Gerichtsfluren hatten nochmal einen ganz anderen Tenor …

Gleichzeitig machte die Ex-Freundin in der Tat vor Gericht eine zunehmend schwache, verunsicherte Figur. Ihr Nebenklage-Anwalt verstummte vollends. Und das Provinzgericht in Mannheim war unübersehbar eingeschüchtert von dem Auftritt des „Star“-Anwaltes und dem Sound der Medien.

Auch so ein Prozess ist eben eine Machtfrage.

Und zuguterletzt noch ein paar ­Anmerkungen zu mir und Kachelmann. Bekanntermaßen war auch ich Berichterstatterin im Kachelmann-Prozess. Und zwar in Bild. Warum Bild? Ganz einfach: Das war die einzige Zeitung, die mir das Angebot gemacht hatte, über EMMA ­hinaus über den Kachelmann-Prozess zu berichten. Zeit und Spiegel hatten sich ja bereits eindeutig positioniert.

Viele sind der Überzeugung, ich hätte im Fall Kachelmann behauptet: Die Frau sagt die Wahrheit, der Mann ist schuldig. Das ist falsch, es ist das Ergebnis einer geschickten Litigation-PR.

Ich hatte mich in den im März 2010 bekannt gewordenen Fall Kachelmann überhaupt erst im Juli 2010 eingemischt. In der EMMA-Redaktion hatte ich zunächst die Linie vertreten: Wir halten uns da raus. Das ist eine schwere Anschuldigung, die ein Leben vernichten kann. Außerdem konnte ich mir, ganz ehrlich gesagt, schwer vorstellen, dass der mir bekannte – und von mir einst geschätzte – Kachelmann ein Vergewaltiger sein sollte.

Doch nachdem ich das erstaunliche Dossier von Sabine Rückert in der Zeit und die erwartbaren Texte von Gisela Friedrichsen im Spiegel gelesen hatte, sah ich mich genötigt, gegenzuhalten. Die beiden behaupteten, die Wahrheit zu kennen – was ich, im Gegensatz zu meinen Kolleginnen, nie behauptet habe.

Ich kenne die Wahrheit bis heute nicht. Ich bin allerdings sicher, dass sie – außer den beiden Betroffenen – auch niemand anders kennen kann.

Das heißt, ich weiß, dass es sein kann, dass die Ex-Freundin die Wahrheit gesagt und Kachelmann gelogen hat – oder auch umgekehrt. Darum war ich empört über die frühe und unbewiesene Vorverurteilung der Frau und die Reinwaschung des Mannes.

In meiner Berichterstattung habe ich also die so genannte „Opfer-Perspektive“ bezogen. Das heißt, ich habe die Frage gestellt: Was wäre, wenn sie die Wahrheit gesagt hätte? Denn auch ein mutmaßliches Opfer hat, bis zum Beweis des Gegenteils, das Recht auf die Unschuldsvermutung.

Gleichzeitig ging und geht es mir aber im Fall Kachelmann nicht nur um die eine Frau in dem einen Fall. Es geht mir auch grundsätzlich um das Problem der sexuellen Gewalt von Männern gegen Frauen und Kinder. Diese Gewalt ist der dunkle Kern des Machtverhältnisses der Geschlechter. So wie ausgeübte oder angedrohte Gewalt immer der Kern von Machtverhältnissen ist: auch zwischen Klassen, Rassen oder Völkern.

Diese, meist sexuell gefärbte, Gewalt zwischen den Geschlechtern ist nicht neu. Neu ist, dass sie öffentlich ist. Und neu ist auch, dass sie in allen Fällen strafbar ist. Es ist noch gar nicht lange her, da war die Vergewaltigung in der Ehe noch ein Herrenrecht. Erst ein Schulterschluss von Politikerinnen aus allen Parteien erzwang 1996 ein Gesetz, das die sexuelle Gewalt auch in der Ehe unter Strafe stellt. Das ist nur zwanzig Jahre her. Das ist nicht viel Zeit. Das Herrenrecht steckt bei vielen bis heute in den Köpfen.

Die Statistiken belegen: Jeder zweite Vergewaltiger ist der eigene Freund oder Ehemann bzw. Ex-Mann. Der Fall Kachelmann steht für dieses hochexplosive Problem der sexuellen Gewalt innerhalb von Beziehungen: Sind Frauen der Besitz von Männern – oder haben sie das Recht, über ihren eigenen Körper selber zu verfügen? Insofern war auch der Kachelmann-Prozess ein „politischer Prozess“.

Von den Medien wurde die sexuelle Gewalt innerhalb von Beziehungen ­exemplarisch am Fall Kachelmann durch­exerziert – ganz und gar unabhängig von der individuellen Schuldfrage in diesem Fall. Darum hat dieser Fall die Öffentlichkeit so erregt und die Nation gespalten.

Außerdem ist der Kachelmann-Prozess ein Paradebeispiel für die Litiga­tion-PR, deren Strategie sind weniger Fakten und ist eher Stimmungsmache. So bezeichnete der Medienanwalt von Kachelmann, Ralf Höcker, die Klägerin gebetsmühlenartig als „die Erfinderin des Vergewaltigungsvorwurfes“. Und die Verteidigung setzte Journalisten mit Unterlassungsabmahnungen so massiv unter Druck, auch ökonomisch, dass diese kaum noch wagten, auch nur die reinen Fakten zu berichten. Was wenig mit dem – durchaus legitimen – Persönlichkeitsschutz zu tun hatte, sondern eine systematische Einschüchterung der Medien war. Auch die Pressefreiheit ist im Fall Kachelmann ein Stück auf der Strecke geblieben.

Die Zahl der mutmaßlichen Vergewaltigungen im Jahr wird allein in Deutschland auf 96.000 geschätzt. Nur jede zwölfte wird angezeigt. Ein Prozent der Beschuldigten wird verurteilt. Maximal fünf Prozent sind Falschbeschuldigungen. Bleiben 90.240 Frauen im Jahr, deren Vergewaltigung nie gesühnt wird. Diese Frauen haben eben keinen Litigation-Berater.

Der Text ist die leicht gekürzte Fassung eines Vortrages, den Alice Schwarzer am 9. Februar 2017 an der Juristischen Fakul­tät der Universität Köln gehalten hat.
 

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