Conchita & Alice bei Maischberger
Nein, eine Dragqueen ist er nicht. Eine Dragqueen ist ein Mann, der gerne Frauenkleider anzieht und darin in der Regel femininer aussieht als die Frau von heute. So viel Weiblichkeit wie die Möchtegernfrauen kann und will im Zeitalter der Emanzipation keine geborene Frau mehr liefern. Die versucht eher, Land zu gewinnen – und sei es auf Highheels.
Tom ist beides bzw. er ist dazwischen
Aber was ist dann Thomas (Tom) Neuwirth, berühmt geworden als Conchita Wurst? Tom ist beides bzw. er ist dazwischen. Er ist Mann und Frau zugleich. Das erreicht er, indem er gleichzeitig die weibliche und die männliche Karte spielt: mit dem Bart im geschminkten Gesicht und seiner eher androgynen Attitüde. Und genau das ist das Verführerische, das Subversive an ihm. Darum schickte Elton John ihm Blumen und gratulierte Cher – selber Mutter einer Tochter, die den Schritt zum Mannsein operativ gegangen ist.
Tom aber benötigt weder Hormone noch Messer, um das Terrain des anderen Geschlechts zu besetzen. Der bekennende Homosexuelle spielt auf beiden Klaviaturen. Was nicht zufällig jetzt möglich ist: ein halbes Jahrhundert nach Aufbruch der Frauenbewegung, die die Geschlechterrollen infrage stellte; und ein viertel Jahrhundert nach Beginn der Queerbewegung, die dieselben gleich ganz abschaffen will.
Aber wer ist Tom? Gleich nach seinem Sieg beim Eurovision Song Contest erschien eine Flut von Artikeln, die dem Österreicher hinterherspürten und versuchten zu erforschen, „Wie er wurde, was sie ist“ (Stern).
Im Dorf wurde früh getuschelt
Tom wurde vor 25 Jahren in einem 3.200-Seelen-Bergdorf geboren. In Bad Mitterndorf leben bis heute seine offensichtlich zugewandten, liberalen Eltern. Helga und Sigi Neuwirth führen ein inzwischen berühmtes Gasthaus im Dorf, das jetzt auch schon mal Polizeischutz braucht vor dem Ansturm der Fans.
Tom hat früh gewusst, dass er anders ist. Wenn die Jungs zum Fußball gingen, stieg er auf den Dachboden und spielte Frau. Die Wände hatte der spätere Modeschüler und Dekorateur mit Modezeichnungen tapeziert und auf der Nähmaschine fabrizierte er seine Traumroben selber. Das erste Kleid soll ihm, so will es die rasche Legende, die Großmutter geschenkt haben, als er fünf Jahre alt war. Großmutter Maria freut sich, ganz wie die Eltern, von Herzen über Toms Erfolg: „Ich bin megastolz auf dich!“ erklärte sie bei einem gemeinsamen Fernsehauftritt.
Doch Familie ist nicht alles. Umwelt und Peergroup wiegen genau so schwer, wenn nicht schwerer. Im Dorf wurde früh getuschelt über den eigenartigen Buben, den die Neuwirths da haben. Und in der Schule verkroch Tom sich in den Pausen immer öfter auf der Toilette, um den Hänseleien der Gleichaltrigen zu entgehen. Anderssein hat seinen Preis.
Aber Tom hat durchgehalten. Er konnte wohl gar nicht anders. Auf der Modeschule in Graz war er dann schon nicht mehr so ganz allein, und in Wiener Schwulenkreisen wurde der hübsche Junge rasch zum Szenestar. Im Heaven Club trat Tom auch schon mal als Donatella Versace auf: mit den gezurrten Wangen, den aufgeworfenen Lippen und der strohblonden Mähne echter als das Original.
Toms Inszenierungen verspotten keine Frauen
Toms Inszenierungen meiden den platten Versuch, einfach nur „sexy“ zu sein. Sie verspotten die Frauen auch nicht, sondern nehmen sie ernst. Sie sind einfühlsam und ironisch zugleich. Da ist immer ein Bruch, ein Geheimnis. Also immer Erotik.
Das muss natürlich einen wie den Sado-Rapper Sido, der platt auf Supermännlichkeit baut, einfach verunsichern. In Kopenhagen verwies das Jurymitglied Conchita auf Platz 13. Die gesamte deutsche Jury bevorzugte stattdessen den Pornoauftritt der drallbusigen Polinnen und setzte den harmlosen Song des Dänen marokkanischer Herkunft auf Platz 1. Gnadenloser konnte man nicht daneben liegen. Nur noch Italien war so reaktionär wie Deutschland. Das Showbiz ist hierzulande eben rückschrittlicher als das Publikum.
Das Publikum hat sich getraut. Es hat den kleinen Tom vom Dachboden auf die großen Bühnen der Welt gehoben. Sogar der Broadway ist schon im Gespräch. Und selbst Wiens Kardinal Schönborn, eher als konservativ bekannt, freute sich über Conchitas Sieg. Eigentlich keine Überraschung. Denn wenn man genau hinsieht, steckt auch ein Stück Jesus in der langhaarigen, bärtigen Conchita-Inszenierung.
Dennoch: Tom wird weiterhin nicht nur geliebt. Er wird auch angepöbelt, und das nicht nur von russischen Politikern. Seine Reaktion darauf ist entwaffnend: „Man muss mich nicht lieben“, sagte er. „Aber man muss akzeptieren, dass ich da bin. Denn ich gehe nicht mehr weg.“
Wie schön. Klug ist er, sie, es also auch noch.