In der aktuellen EMMA

Alice Walker bleibt groß

Alice Walker ist 80 geworden. Foto: Noah Berger
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Eine kleine Umfrage unter Kolleginnen ergab, dass die meisten die Schriftstellerin Alice Walker für ein „one book wonder“ halten. Alle kennen (mindestens vom Hörensagen) ihren Roman „Die Farbe Lila“ aus dem Jahr 1982, mit dem Walker weltberühmt wurde. Immerhin eine erinnerte sich an „Meridian“ von 1976, den sie kürzlich antiquarisch erworben und mehr als vierzig Jahre nach der ersten Publikation gelesen hatte (und begeistert war).

„Meridian“ wurde zwar nicht zeitgleich, aber doch nur wenige Jahre nach der Originalausgabe ins Deutsche übersetzt, wie noch mindestens fünf weitere ihrer Romane, einige Erzählungen, Essays und Gedichtsammlungen sowie ihre Autobiografie („Zugvögel“, 2002): immerhin ein guter Ausschnitt aus ihrem mehr als 35 Bände umfassenden Werk. Aber kaum jemand scheint sich an diese Bücher zu erinnern, und in einigen Buchhandlungen fragte ich vergeblich nach ihnen.

Bleiben wir also bei der „Farbe Lila“. Der Roman kam im Jahr 2021 im Ecco Verlag in einer Neuausgabe heraus, wo jetzt auch noch ihre Tagebücher (herausgegeben von Valerie Boyd) unter dem Titel „Blüten sammeln unter Feuer“ erschienen sind. In den Tagebüchern heißt es, der 22. September 1985 sei ein Tag mit zwei „denkwürdigen Momenten“ für die Autorin gewesen. „Die Farbe Lila“ war seit dem Erscheinen 1982 – gefolgt von den Auszeichnungen mit dem Pulitzer-Preis und dem National Book Award – ein riesiger Erfolg. Alice Walker befand sich am Set der Dreharbeiten der (ersten) Verfilmung. Whoopie Goldberg spielte die Hauptrolle, Steven Spielberg führte Regie, mit dabei war auch Oprah Winfrey in einem kleineren Part. An jenem sonnigen Morgen des 22. Septembers 1985 also erzählte ihr Whoopie Goldberg, sie habe das Drehbuch nie gelesen, wobei Alice Walker offenlässt, ob das auch für die Romanvorlage galt. Und Steven Spielberg eröffnete ihr, er halte „Vom Winde verweht“ für den „größten Film aller Zeiten“. Seine Lieblingsfigur darin sei Prissy. Das ist die einfältige Haussklavin der weißen Plantagenbesitzerin Scarlett O’Hara, der Hauptfigur der Geschichte aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, die vor kaum einem rassistischen Klischee zurückschreckt. Prissy ist eine Art komische Nudel, spricht mit piepsiger Kinderstimme und sorgt damit für mildes Gelächter – gespielt wird sie allerdings von der wundervollen Butterfly McQueen, die zur Filmpremiere im Jahr 1939 als Schwarze nicht zugelassen war.

Prissy! Dass Spielberg ausgerechnet sie als Lieblingsfigur in dem alten Hollywoodschinken ausmacht, muss für Alice Walker damals einer Beleidigung gleichgekommen sein, die sie auch im Tagebuch nur andeutet. Vielleicht war ihr bereits klar, sie würde zumindest Auszüge aus den Tagebüchern noch zu Lebzeiten veröffentlichen, und sie war vorsichtig. Und Spielberg, immer der wohlmeinende Liberale, hat mit seiner Bemerkung vermutlich sogar etwas Nettes sagen wollen.

Zum Beispiel, weil er Ähnlichkeiten zwischen Prissy und Celie, der Hauptfigur der „Farbe Lila“, auszumachen meinte. Auch Celie ist eine sehr junge kindliche Frau, als es losgeht, und auch sie spricht „komisch“, ohne Bewusstsein von sich selbst oder ihrer Umgebung. Von der Grammatik ganz zu schweigen. Genau darum ging es in diesem Buch, und es war keineswegs komisch gemeint. Vielmehr war dies das literarische Projekt von Alice Walker – sie schrieb aus der engen Perspektive einer jungen Frau auf dem Land in den amerikanischen Südstaaten der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.

Eine Frau, der zunächst gar keine Sprache, sondern nur Buchstücke von Wörtern zur Verfügung stehen; die keine Weltsicht hat, sondern nur ein Gegenüber, das sie „Gott“ nennt. An diese Instanz schreibt Celie Briefe über verlorene Babys, Männer und Gewalt. Das klingt im Original dann so: „He never had a kine word to say to me. Just say You gonna do what your mammy wouldn’t. First he put his thing up gainst my hip and sort of wiggle it around. Then he grab hold my titties. Then he push his thing inside my pussy. When that hurt, I cry. He start to choke me, saying You better shut up and git used to it“. So steht es auf der ersten Seite: die Beschreibung einer Vergewaltigung durch den Vater. Die Übersetzung ins Deutsche bleibt vermutlich nur eine Annäherung an das Original. Das klingt dann so: „Er hat kein nettes Wort für mich. Sagt nur, du machst jetzt, was deine Mammy sich weigert. Erst drückt er sein Ding an mich dran und windet sich damit so an mir rum. Dann packt er meine Brüste. Dann zwängt er sein Ding in meine Pussy. Wie’s wehtut, schrei ich. Er würgt mich, sagt, halt den Mund und gewöhn dich dran.“

Mit der Zeit wird Celie flüssiger im Erzählen. Sie lernt zu unterscheiden, erkennt Gefühle, gewinnt ein Stück Erfahrung in der Welt. Und sie entdeckt ihre eigene Sexualität. Damit entwickelt sie sich im Zuge ihres Spracherwerbs und ihrer wachsenden Kompetenz als Erzählerin zum Subjekt – sie wird sozusagen literaturfähig. Das ist der Kern des Buchs.

Vor allem diese Bewegung und die Beschreibung von brutaler Wirklichkeit aus den Augen einer Frau, der erst einmal keine Rechte zugestanden werden, macht „The Color Purple“ so einflussreich und bedeutend in der Geschichte der amerikanischen Literatur – und nicht etwa die Geschichte zweier Schwestern, die auseinandergerissen werden und sich wiederfinden und schließlich eine gemeinsame Erbschaft machen, was ebenfalls auf diesen knapp dreihundert Seiten geschieht.

Dieses Happy End mag einerseits für die Lesart der Geschichte als Melodram mit verantwortlich sein. Es ist aber gleichzeitig der Höhe- und Zielpunkt einer Entwicklung hin zum „self-empowerment“ – sorgt doch Celie mit einer eigenen Idee (für einen bequemen Hosenschnitt) und genug Geschäftssinn dafür, dass sie in Zukunft rundum für sich selbst sorgen kann.

Steven Spielbergs Film bestätigt, dass er von alldem wenig begriffen hatte. Er machte aus diesem Bildungsroman in Briefen ein Rührstück – was wiederum den Verkäufen des Buchs sehr zugute kam. Doch der Erfolg, der mit dem Film noch einmal gesteigert wurde, stellte nicht nur „The Color Purple“, sondern Alice Walkers gesamtes Werk von Prosa, Gedichten und Erinnerungsbüchern ungerechterweise unter Kitschverdacht. Tatsächlich klingen ihre Buchtitel oft wie Kalendersprüche, „The Way Forward is With a Broken Heart“ heißt etwa ihr erstes, ein späterer Gedichtband „Horses Make a Landscape Look More Beautiful“, und so geht es weiter bis hin zu „By the Light of My Father’s Smile“ oder „Now Is the Time to Open Your Heart“. Aber nur „The Color Purple“ brachte Alice Walker weltweiten Erfolg und Ruhm ein. Das Buch erwies sich außerdem als medialer Wiedergänger. Inzwischen gibt es die Geschichte auch als Musical, und eine zweite Verfilmung, diesmal unter der Regie des ghanaischen Rappers und Filmemachers Blitz Bazawule und von Alice Walker mitproduziert, kam Ende 2023 heraus.

Alice Walker ist nicht nur Schriftstellerin, sondern auch Aktivistin, und ihr politischer Aktivismus hat seit der Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre ihr Leben als Schriftstellerin begleitet und manchmal unterbrochen, eine Lebensform in unterschiedlichen Modi, die zum Beispiel die Schriftstellerin Toni Morrison für sich abgelehnt hat. Alice Walkers Anliegen reichen von Wahlaufrufen bis zum Einsatz gegen weibliche Genitalverstümmelung und einem vehementen Protest gegen Israels Politik im Nahen Osten.

Zunehmend kamen bei ihr esoterische Einflüsse dazu. Es war ein Schock, vor gut zehn Jahren zu lesen, dass sie nicht nur eine Übersetzung der „Farbe Lila“ ins Hebräische untersagte, sondern sich mehr und mehr auch mit den abstrusen Ideen etwa des Verschwörungstheoretikers und glühenden Antisemiten David Icke gemein machte. Ihr Gedicht mit dem Titel „It Is Our (Frightful) Duty to Study the Talmud“, 2017 auf ihrer Website veröffentlicht, ist in seinem kruden Inhalt und seiner poesielosen Sprache ein Verrat nicht nur ihrer emanzipatorischen Ideen aus der Zeit der Bürgerrechtsbewegung, sondern auch ein Verrat ihrer literarischen Vision, wie sie in einem Buch wie „The Color Purple“ aufscheint.

Ein Text löscht nicht alle anderen aus. Aber das „Talmud“-Gedicht und ihre antisemitischen Äußerungen andernorts liegen wie ein Schatten auf den größeren, bedeutenden Texten dieser Frau. Und es bleibt dabei, „The Color Purple“ ist bis heute nicht nur das bekannteste, und wichtigsteBuch von Alice Walker, sondern auch ein literarisches Pionierwerk im amerikanischen Kanon des vergangenen Jahrhunderts.

Mit diesem Werk steht Alice Walker auf den Schultern von Zora Neale Hurston, deren Buch „Und ihre Augen schauten Gott“ sie ausdrücklich als Einfluss nannte; von Langston Hughes, der als einer der ersten das afroamerikanische Englisch literarisch einsetzte; und von der unerschrockenen Maya Angelou. Alice Walker kann ihrerseits als Ahnin jüngerer Autorinnen gelten, etwa von Jesmyn Ward oder Cheryl Strayed.

Mein Exemplar der „Color Purple“ datiert von 1983 – die erste Taschenbuchausgabe. Auf dem Cover steht: Mehr als 1 Millionen Exemplare im Umlauf! Buch des Jahres! Es war damals offenbar eine große Begeisterung im Gange.

Ich habe das Buch einige Jahre später gelesen, und ich habe es langsam gelesen, weil es in dieser rudimentären Sprache und auch im flüssigeren Verlauf im Schwarzen Idiom des amerikanischen Englisch geschrieben ist, das ich nur verstand, wenn ich die Sätze vor mich hinmurmelte, also mir selbst vorlas. Ich erinnere mich immerhin an die immense Wucht dieser Sätze, die von Gewalt erzählen, frühen Schwangerschaften, brutalen Männern. Und ich erinnere mich daran, dass dies das erste Buch einer schwarzen Autorin war, das ich gelesen hatte, einige Zeit vor Toni Morrison, sogar noch vor James Baldwin.

Ich hatte keinen eigenen Kontext, das war die Lage. Der Kontext, den das Kritikerlob damals herstellte, war William Faulkner. Ich habe mich damals nicht gefragt, ob das der Kontext, die Tradition der Literatur des Südens ist, in dem auch Alice Walker sich sieht. Ich habe mich auch nicht gefragt, ob ich, die ich bestürzt auf die Geschehnisse in diesem Buch reagiert habe, tatsächlich auch zentral gemeint war – als Leserin. Oder ob sich das Buch vielleicht vor allem an andere richtete, das heißt, ob ich nicht richtigerweise mit diesem Buch einmal und zum ersten Mal die Erfahrung hätte machen können, dass nicht ich und nicht Menschen wie ich den Mittelpunkt des Universums bilden – jedenfalls nicht für die Dauer der Lektüre.

Diesen Kontext verschaffte mir einige Jahre später dann bell hooks, die große Autorin, Essayistin, Wissenschaftlerin, Lehrerin, die Ende 2021 gestorben ist. Wobei zu sagen ist: Keine bell hooks ohne Alice Walker! Denn sie bezog sich in ihrer grundlegenden Kritik des weißen Feminismus ihrerseits auf die ältere Alice Walker (die im Januar achtzig Jahre alt wurde) und ihre schwarzfeministischen Essays.

„Ain’t I a Woman“ hieß das erste Buch von bell hooks, auch das erste, das ich von ihr gelesen habe. Es kam zwar Jahre vor „Der Farbe Lila“ heraus, aber persönliche Lektüren folgen ja nicht immer den Erscheinungsdaten – und erst da wurde mir klar, dass meine selbstverständliche Lektüre von Alice Walker, die mich beeindruckte, auch bewegte, etwas ganz Wesentliches ausgelassen hatte. Erst mit bell hooks fundamentaler Kritik an der Ignoranz mancher weißer Feministinnen – weißer Männer ja sowieso, aber eben auch Frauen –, also erst mit ihrer an Alice Walker geschulten Kritik der Ignoranz schwarzen Frauen gegenüber dämmerte mir, dass es beim Lesen der „Color Purple“ nicht um MEINE literarische Befriedigung ging – die durchaus groß war –, und dass es auch nicht darum ging, schulterklopfend festzustellen, diese schwarze Autorin Alice Walker habe sich grandios in die Nähe von William Faulkner geschrieben.

Sondern dass hier eine Stimme gefunden worden war, eines Mädchens, dann einer Frau, die auch in Faulkners Büchern eben keine Stimme hat – und in so vielen anderen Büchern auch nicht. Und dass diese Stimme nicht nur ein Hintergrundrauschen ist, etwas Störendes, aber nicht wirklich dingfest zu machen. Sondern dass diese Stimme sich hier erhebt – und ganz im Sinn eines Bildungsromans, wenn man so will, zu voller Kraft entfaltet. Und dass diese Stimme, wenn ich ihr zuhöre, sie lese bzw. sie mir selbst vorlese, auch ein Gespräch eröffnet.

Ich habe das damals nicht kapiert. Ich brauchte die vielen anderen schwarzen Autorinnen und Autoren, bis ich endlich auf dieses Gespräch einsteigen konnte.

VERENA LUEKEN

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