Alle unschuldig!
2009 In Zürich wird Roman Polanski auf Wunsch der USA, die seine Auslieferung verlangen, verhaftet. In Paris lancieren Intellektuelle und Schauspieler unter der Regie des Philosophen Bernard-Henri Lévy (BHL) eine Petition: Die Justiz behandle den „Überlebenden des Nazismus und der stalinistischen Säuberungen wie einen Terroristen“. Lévy stimmt das Lob auf einen American Hero an, der sich als einziger in Hollywood der Menschen- und Hexenjagd auf den „genialen Regisseur“ und „Märtyrer“ verweigere: Harvey Weinstein.
2011 In New York vergewaltigt Dominique Strauß-Kahn (DSK) ein schwarzes Zimmermädchen. Frankreichs Presse schwört Besserung: Affären der Politiker wurden aus Rücksicht auf ihre Privatsphäre unter den Teppich gewischt. Statt, wie zu erwarten, DSK wird François Hollande Präsident.
2016 Der Fotograf David Hamilton, der das laszive Mädchenbild einer Epoche und Generation geprägt hatte, bringt sich um. Eine französische Journalistin hatte berichtet, wie sie als Minderjährige missbraucht worden war.
2017 MeToo. Die in Amerika lebende französische Journalistin Sandra Muller lanciert die Bewegung in Frankreich (und wurde kürzlich wegen „Verleumdung“ zu einer Geldstrafe von 15.000 Euro verurteilt). Die frühere Salafistin Henda Ayari gibt auf Facebook an, dass sie von Tariq Ramadan vergewaltigt worden sei. Sie hatte davon in einem Buch berichtet – bislang ohne den Namen des einflussreichen Islamologen, und Enkel des Begründers der „Muslimischen Bruderschaft“, zu nennen. In der Folge reichen mehrere Frauen Klage ein.
Die französische Filmszene schweigt. Die Presse vermutet eine „Omertà“. Erste Verfahren gegen den Regisseur Luc Besson wurden eingestellt und erst nach neuerlichen Medienberichten wieder aufgenommen. Gegen die Polanski-Retrospektive in der Pariser Cinémathèque werden im Oktober 2017 Proteste laut. Die Ministerin für Kultur – Françoise Nyssen – und ihre Kollegin für die Gleichheit von Mann und Frau, Marlène Schiappa, stören sich daran, dass man „dem Vergewaltiger den roten Teppich ausrollt“.
2018 Weltweites Aufsehen erregt ein Aufruf, in dem prominente Französinnen – in der Hauptrolle: Catherine Deneuve – im Januar das Ende einer „Hasskampagne gegen die Männer“ fordern und vor der Rückkehr einer „moralischen Ordnung“ warnen: MeToo? Wir nicht: „Unsere innere Freiheit kann nicht vergewaltigt werden.“
September 2019 Nach mehreren Monaten Untersuchungshaft war Ramadan aus gesundheitlichen Gründen frei gelassen worden. Unter dem Titel „Die Pflicht zur Wahrheit“ veröffentlicht er ein Buch. Im Fernsehen erklärt er: „Ich bin Dreyfus“. Der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus war am Ende des 19. Jahrhunderts zu Unrecht der Spionage angeklagt worden. Er wurde aus der Armee ausgeschlossen und verbannt.
Damals entstand der Begriff des „Intellektuellen“ – als Schimpfwort, das die Faschisten erfunden hatten: Es bezeichnet jene, die für die Wahrheit kämpfen – letztlich erfolgreich. Der Dichter Emile Zola veröffentlichte im Januar 1898 seine Streitschrift „J’accuse“: „Ich klage an.“
Oktober 2019 Bei einem Festival in Paris wird Roman Polanskis neuster Film gezeigt: „J’accuse“. Er hat tatsächlich die Dreyfus-Affäre verfilmt. Die 30-jährige Adèle Haenel, zweimal mit dem César als beste Schauspielerin ausgezeichnet und gegenwärtig als „Junge Frau in Flammen“ in den Kinos zu sehen, fordert auf Twitter eine Debatte. Sie wird in letzter Minute organisiert.
Zusammen mit Adèle Haenel tritt die Essayistin Iris Brey, Autorin von „Sex and the Series“, auf. In der anlaufenden Medienkampagne bekundet Polanskis Hauptdarsteller Jean Dujardin, Oscar-Preisträger, seine „Müdigkeit“ bezüglich der „mühsamen“ MeToo-Anklagen.
3. November 2019 Dem Infoportal Médiapart erzählt Adèle Haenel, wie sie als Zwölfjährige drei Jahre lang von dem Regisseur Christophe Ruggia sexuell ausgebeutet wurde (Foto links). Mit ihm drehte sie ihren ersten Film „Diables“, eine Inzestgeschichte zwischen Geschwistern, Nacktszenen inklusive. Nach den Aufnahmen in den Sommerferien musste sie wieder in die Schule, aber jedes Wochenende verbrachte sie bei Ruggia.
Als erster französischer Star bricht Haenel (s. S. 30) das Schweigen. Sieben Monate lang hat Médiapart recherchiert. Schon bei den Dreharbeiten damals hatten alle ein Unbehagen, keiner hat etwas gesagt. Justizministerin Nicole Belloubet kündigt einen Prozess an, den Haenel nicht will. „Die Justiz ignoriert uns Opfer“, erwidert sie, „und ist genauso von der Kultur der Vergewaltigung“ durchdrungen wie der Film als Gattung: „Die Monster sind unsere Freunde, unsere Väter.“ – Der Regisseur wird umgehend aus dem Verband der Filmemacher ausgeschlossen.
Auch die Autorin Iris Brey wird von Médiapart interviewt: „Der Film ästhetisiert generell die männliche Gewalt und Sexualität. Hundert Jahre Kino haben uns blind gemacht.“ Und an die Adresse des MeToo-Skeptikers Jean Dujardin: „Müde wovon? Wir sind erst am Anfang. Noch ist in Frankreich rein gar nichts geschehen.“
7. November 2019 Libération berichtet von einem Spitzenbeamten des Kulturministeriums, der mindestens 200 Frauen gefährliche harntreibende Mittel verabreichte und sie zu einem Gang durch Paris mitnahm, wo es garantiert keine Toiletten gab. Bis sie nicht mehr anders konnten – und vor dem Mann urinierten, der schützend seinen Mantel vor sie hielt.
9. November 2019 Die Fotografin Valentine Monnier erzählt Le Parisien von ihrer Vergewaltigung durch Polanski 1975 in Gstaad. Die Zeitung hat mit mehreren Personen gesprochen, die damals bei Polanski verkehrten. Die Indizien sind überwältigend.
Jean Dujardin sagt ein Interview im Privatsender „tf1“ ab. Andere Medien verzichten auf die geplanten Einladungen. Fast alle Stars der „Comédie Française“ stehen in „J’accuse“ vor der Kamera. Das Programmheft wird umgeschrieben. Vor dem offiziellen Filmstart sind zwei Premieren angesagt: Auf den Champs-Elysées feiern Polanski und seine Freunde, im Quartier Latin verhindern demonstrierende Frauen die Vorstellung.
13. November 2019 „J’accuse“ kommt in die Kinos.
14. November 2019 Kulturminister Franck Riester kündigt einen Codex für die Filmbranche an. Subventionen sollen ab 2020 nur an Produktionen gehen, die ihn einhalten.
Über Tariq Ramadan sagt der Islam-Experte Gilles Kepel, er habe unter den Muslimen jeglichen Rückhalt verloren. Im Gegensatz zu Ramadan will Polanski sich ausdrücklich nicht mit Dreyfus vergleichen, sagt er. Seine Aussagen indes irritieren – O-Ton Polanski: „Dreyfus stand zwei Institutionen gegenüber, die nie ihre Irrtümer eingestehen: die Armee und die Presse. Und das, das kenne ich.“
Den Rückhalt der Intellektuellen hat Polanski bis heute nicht verloren, doch angesichts der neuen Vergewaltigungs-Affäre geraten seine Sympathisanten in Verlegenheit. Oder rasten aus – wie Alain Finkielkraut in einer TV-Diskussion über den Begriff der „Kultur der Vergewaltigung“, die er nicht wahrhaben will.
12. November 2019 Coralie Miller und Céline Piques veröffentlichen auf Médiapart das Manifest „Nous accusons“ (Wir klagen an): „Dass Roman Polanski sein Werk und seine Berühmtheit benutzt, um die Geschichte umzuschreiben und seine Verbrechen zu verwischen.“ Auch so kann man „J’accuse“ in der Tat deuten.
Jürg Altwegg war bis 2017 Kulturkorrespondent der FAZ, für die er weiterhin schreibt. Sein Spezialgebiet ist die intellektuelle Szene Frankreichs.
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