Alzheimer & Hormone

Frantzesco Kangaris/AFP/Getty Images
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Manchmal ist das Leben wirk­lich ungerecht: Frauen – also jene menschlichen Wesen, die zwei X-Chromosomen ihr eigen nennen – haben ein höheres Risiko, im Alter an Alzheimer zu erkran­ken als Männer (XY). In Deutschland sind zwei Drittel der rund 1,2 Millionen Alzheimer-Kranken weiblichen Geschlechts.

Lange glaubte man, das liege an der höheren Lebenserwartung der Frauen, denn mit dem Lebensalter steigt auch das Alzheimer-Risiko. „Doch auch wenn man die höhere Lebensdauer herausrechnet, erkranken Frauen immer noch öfter an der häufigsten Form der Demenz“, infor­miert die „Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung“ auf ihrem Frauengesundheitsportal.

Das Alter scheint also keineswegs eine ausrei­chende Erklärung für das erhöhte Alzheimer-Risiko bei Frauen zu sein. Seit geraumer Zeit gehen ForscherInnen der Vermutung nach, dass eine entscheidende Ursache bei den Hormonen zu suchen sei. Doch auch der Östrogenabfall in den Wechseljahren scheint noch nicht des Rät­sels Lösung zu sein, jedenfalls nicht die ganze. Vor kurzem entdeckte ein Forscherteam aus Atlanta, dass ein anderes Hormon maßgeblich für die Entstehung von Alzheimer verantwortlich sein könnte: das sogenannte FSH, das „Follikelstimulierende Hormon“. Und hier könnte womöglich auch die Chance liegen, Alzheimer zu verhindern oder zumindest zu verzögern.

Aber von vorn. Die These, dass das erhöhte Alz­heimer-Risiko bei Frauen auf die Wechseljahre zurückzuführen sein könnte, wird von Neurolo­gen schon länger diskutiert. Denn mit der Meno­pause, dem Aufhören der Eireifung und der monatlichen Blutungen im Zuge der Wechsel­jahre, ändert sich der Hormonhaushalt von Frauen sehr viel drastischer, als das bei Männern der Fall ist. Insbesondere fällt der Östrogenspiegel stark ab. Und Östrogen sorgt nicht nur in jungen Jahren für die weibliche Fruchtbarkeit, es ist auch ein wahrer Jungbrunnen für das weibliche Gehirn.

Lisa Mosconi kennt sich aus auf diesem Gebiet. Sie ist Direktorin der Women’s Brain Initiative und stellvertretende Direktorin des Alzheimer-Präventionszentrums am Weill Cornell Medical College in New York City. In ihrem Buch „Das weibliche Gehirn“ schwärmt sie geradezu von den segensreichen Wirkungen des Hormons: „Östro­gen spielt eine Schlüsselrolle bei der Regulierung der Energieproduktion und dem allgemeinen

Gleichgewicht verschiedener Gehirnfunktionen (Homöostase). Das ist besonders wichtig, um Hirnzellen gesund wie auch aktiv zu halten und um die Gehirnaktivität in Regionen zu unterstüt­zen, die für Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Planung wichtig sind.“

Außerdem wirkt Östrogen neuroprotektiv: Es schützt Hirnzellen vor Schäden, indem es das Immunsystem aktiviert. Ja, es fördert sogar die Ausbildung neuer Nervenzellverbindungen. Und – auch nicht zu verachten: Östrogen wirkt wie ein „natürliches Antidepressivum“, indem es auf indi­rektem Wege die Freisetzung von Endorphinen fördert, den „natürlichen Schmerzkillern des Körpers“.

Der Östrogen-Entzug während der Wechsel­jahre ist also entsprechend folgenschwer. Und man kann seinen Auswirkungen sogar zusehen – mit Hilfe der Positronenemissions-Tomografie (PET), einem bildgebenden Verfahren. Mosconi hat Tausende von PET-Scans von Patientinnen in den Wechseljahren analysiert und beobachtet, wie sich deren Hirnstoffwechsel im Lauf der Zeit verändert. „In der Prämenopause läuft er noch auf Hochtouren“, erklärte sie der Wissenschaftsjour­nalistin Jena Pincott, die für die Zeitschrift Scientific American über Mosconis Forschungen berichtete, und zeigte ihr einen PET-Scan des Gehirns einer jungen Frau. Darauf leuchteten viele rote und orangefarbene Flecken – Zeichen für einen hohen Glukosestoffwechsel und neuro­nale Aktivität.

In der „Perimenopause“, von Mitte bis Ende 40, den Jahren vor dem Ausbleiben der Menstruation, verlangsame sich bei Frauen der Glukosestoff­wechsel im Gehirn um 10 bis 15 Prozent oder mehr, erklärte Mosconi. Und die Hirnscans ver­ändern sich: Rote und orangefarbene Flecken weichen gelben und grünen, die auf eine gerin­gere Zuckeraufnahme und einen niedrigeren Stoffwechsel hinweisen. Bereits in diesem Alter bemerken manche Frauen kognitive Einbußen: Sie sind vergesslicher und unkonzentrierter als sonst – ein Zustand, der sich aber in der Regel bald wieder normalisiert.

Doch die Gehirnveränderungen gehen weiter. Nach dem Ausbleiben der Regel, in der sogenann­ten „Postmenopause“, wird der Glukosestoffwech­sel im Gehirn noch langsamer. Im letzten Scan, den Mosconi der Reporterin zeigt, haben die Grüntöne die Oberhand gewonnen.

„Hunger-Modus“ nennt Roberta Diaz Brinton, eine Kollegin Mosconis, diesen Zustand des al­ternden Frauen-Gehirns. Brinton ist Direktorin des Center for Innovation in Brain Science an der University of Arizona in Tucson (USA). Bei ihren Forschungen an älteren Mäuseweibchen hat sie etwas Erschreckendes entdeckt: Offensichtlich sucht sich das das Gehirn bei sinkendem Östro­genspiegel und verlangsamtem Glukosestoff­wechsel eine zusätzliche Energiequelle: Ketonkörper. Sie entstehen beim Abbau von Fettsäuren. Das Fett stammt in diesem Fall aus der „weißen Substanz“ des Ge­hirns. Dazu gehören die sogenannten Myelin-Schutzhüllen der Neurone, die die Signalübertra­gung schneller machen. Sie werden in der Not abgebaut. Und: Dieser Akt der Selbstkannibalisie­rung scheint bis zu einem gewissen Grad nicht

nur bei Mäuseweibchen, sondern auch bei Menschenfrauen stattzufinden.

Das ist alles bedenklich genug. Doch sind der Hunger-Modus und der Abbau der weißen Subs­tanz wirklich ursächlich für die Alzheimer-Krankheit? Diese ist schließlich noch durch ande­re Merkmale charakterisiert, insbesondere durch Protein-Ablage­rungen, soge­nannte Plaques. Schon im Ge­hirn der aller­ersten Demenz­patientin, die Alois Alzheimer Anfang des 20. Jahrhunderts behandelte, wurden sie nach ihrem Tod gefunden.

Man nimmt an, dass die Plaques die Signal­übertragung der Nerven stören. Im Gehirn der Erkrankten erscheinen sie gewöhnlich zusam­men mit Tau, einem Proteinknäuel, das sich im Inneren der Zellen um den Zellkern wickelt und die Zellen tötet, indem es den Nährstofftransport blockiert.

Gibt es also vielleicht einen noch direkteren Zusammenhang zwischen Menopause und Alz­heimer als den Östrogenabfall? Dies hat sich eine Gruppe von Neurologinnen und Neurologen um den Laborleiter Keqiang Ye von der Emory University in Atlanta (USA) gefragt. Ein wichtiges Argument für ihre Zweifel an der Östrogen-Hypothese: Östrogenersatztherapien, wie sie häufig gegen Wechseljahresbeschwerden wie Hitzewallungen oder Schlafstörungen einge­setzt werden, haben sich zur Vorbeugung gegen Alzheimer nicht bewährt. Es gibt zwar einzelne Studien, die über eine Besserung kognitiver Beschwerden berichten, andere aber zeigten keine Wirkung – oder gar eine Verschlechterung. In Deutschland werden solche Hormonthera­pien zur Alzheimer-Prävention deshalb auch nicht empfohlen.

Ye und sein Team stießen aber auf ein anderes verdächtiges Hormon: FSH. FSH steht für Follikel­stimulierendes Hormon – denn seine bekann­teste Wirkung ist, dass es bei jungen Frauen die Eierstöcke zur Eireifung (Follikelbildung) antreibt, indem es dort die Östrogenbildung för­dert. FSH wird im Gehirn gebildet, genauer gesagt in der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse). Wenn die Kraft der Eierstöcke nachlässt – also in der Peri

menopause – steigt der FSH-Gehalt im Blut der Frau stark an – so, als versuche das Gehirn ver­geblich, die Keimdrüsen weiter anzutreiben.

Es ist genau die Zeit, in der manche Frauen vorübergehend vergesslich werden oder Wortfin­dungsstörungen haben. Aufregend auch: Bereits vor 20 Jahren haben Forscher bei Alzheimer-Kranken eine Erhöhung des Gonadotropin-Spiegels im Blut beobachtet – und FSH gehört zu den Gonadotropinen.

Das Team aus Atlanta hat nun in Zusammenarbeit mit weiteren amerikanischen und chinesi­schen Laboren in komplizierten Mäuseversuchen entschlüsselt, wie FSH im Gehirn wirkt. Denn, Überraschung: Auch die Nervenzellen in der Gedächtniszentrale des Gehirns, dem Hippocam­pus, haben Rezeptoren für das „follikelstimulie­rende Hormon“.

Es stellte sich heraus, dass es dort natürlich keine Follikel stimuliert, sondern ziemlich direkt in einen biochemischen Reaktionsweg eingreift, bei dem die Plaques und die Tau-Fibrillen gebil­det werden, die für die Alzheimer-Krankheit so typisch sind. Die US-chinesische Studie erschien im März 2022 in der Zeitschrift nature.

Das Spannendste daran: Den Forscherinnen und Forschern ist es gelungen, bei ihren Ver­suchstieren das FSH mit Hilfe von Antikörpern zu blockieren. Damit besserten sich die Alzheimer-Symptome, an denen die Tiere bereits litten – sie fanden sich wieder besser in einem Irrgarten zurecht. Wurden die Rezeptoren für FSH im Hippocampus deaktiviert, entwickelte sich erst gar kein Alzheimer. Die Studie macht darum Hoffnung auf neue Ansätze zur Vorbeugung, ja sogar zur Heilung der für Frauen so bedrohlichen Altersdemenz.

Und sie ist ein starkes Signal, Hormonfor­schung neu zu denken. „Die Idee, dass das Gehirn ein Zielorgan für FSH ist“, schreiben die Autoren, „ist konsistent mit Forschungsergebnis­sen, die ein breites Wirkungsspektrum der Hypo­physenhormone gezeigt haben. Damit ist die lange bestehende Ansicht widerlegt, dass Glyko­proteine der Hypophyse nur auf endokrine Drü­sen wirken.“ So vielseitig sind diese Hormone, dass FSH-Blocker künftig nicht nur zur Alzhei­mer-Vorbeugung zum Einsatz kommen könnten – übrigens auch bei Männern –, sondern auch bei Osteoporose, Fettleibigkeit und einem erhöhten Cholesterinspiegel.

JUDITH RAUCH

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