Hinter geschlossenen Vorhängen
Alleine die Vorstellung schnürt einer die Kehle zu: An einem Sommertag um 12 Uhr mittags mitten in Graz brettert ein Mann mit Tempo 150 gezielt in die Fußgängerzone. Genau dort, wo Passanten flanieren und Menschen an Café-Tischen sitzen. Er mäht sie mit seinem grünen Geländewagen einfach nieder, Erwachsene wie Kinder.
Dann steigt er aus und attackiert ein Paar mit einem Messer. Steigt wieder ein und rast weiter durch die Innenstadt. Drei Menschen sterben sofort, 36 sind verletzt, einige schweben immer noch in Lebensgefahr. „Die Innenstadt ist wie eine offene Wunde. Es wird schwer heilen, es braucht Zeit“, sagt die Österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner.
Es gibt in der Berichterstattung
ein Detail, das die Kehle zuschnürt
26 Jahre jung ist dieser Mann, Kraftfahrer von Beruf. In der Nähe von Graz aufgewachsen, nachdem er als kleiner Junge mit seiner Familie aus dem kriegszerrütteten Bosnien nach Österreich zog. Er habe an diesem Tag an einer „Psychose gelitten“, vermuten die Behörden. Gleichzeitig soll er seine Tat allerdings genau geplant haben. Anders sei die Distanz nicht zu erklären, die er mit seinem Wagen zurücklegte, bevor er aufs Gaspedal drückte. Und dann in die Menschen raste und sie gezielt mit dem Auto verfolgte. Der Psychologe Salvatore Giacomuzzi der Universität Innsbruck spricht von „eiskaltem Kalkül.“
Der Mann aus Bosnien, der den grünen SUV in die Fußgängerzone steuerte, sitzt mittlerweile in der Grazer Haftanstalt Jakomini. Seine Vernehmung hat gerade erst begonnen - bisher war er nicht ansprechbar gewesen. Wir wissen also noch sehr wenig.
In der Berichterstattung über den Amoklauf in der steirischen Hauptstadt gibt es allerdings noch ein weiteres Detail, das einer die Kehle zuschnürt. Das Grauen schleicht sich in diesem Fall eher langsam an. Dann wenn Landespolizeidirektor Josef Klamminger auf einer Pressekonferenz von einer „Beziehungstat“ spricht. Der 26-Jährige sei schon davor „als gewaltbereit in Erscheinung getreten". Allerdings nicht in der Öffentlichkeit, sondern zu Hause hinter geschlossenen Vorhängen. Im Mai war er wegen Gewalt gegen seine Frau und seine beiden Söhne schließlich der gemeinsamen Wohnung verwiesen worden. Schon zuvor sei die Polizei mehrfach angerückt. Einmal habe die Polizei ein Gewehr sichergestellt. Die Ehefrau, so heißt es in einigen Medien, sei mit den Kindern nach Bosnien geflüchtet. Anderen Medienberichten zufolge wurde die Frau am Sonntag in Graz festgenommen und verhört, habe aber nichts von den Plänen ihres Ehemannes gewusst. Sie hat schon vor einiger Zeit die Scheidung eingereicht.
Wie Gewalt
im Großen kontrollieren,
wenn wir sie im Kleinen ignorieren?
Ein in seiner Ehre gekränkter Mann, der dazu fähig ist, seinen Wagen mit Tempo 150 in eine Fußgängerzone zu lenken – wozu ist der fähig, wenn die Vorhänge geschlossen sind und niemand zusehen kann?
Selbstverständlich löst ein solcher Amoklauf nicht nur einen nationalen Schock aus, sondern auch eine Welle des Mitgefühls für die Opfer und deren Angehörigen. Selbstverständlich folgen auf solche Amokläufe Expertenanalysen über Gewalt im Allgemeinen und die Frage, was einen 26-Jährigen zu einer solchen Tat treibt - und wie sie zukünftig verhindert werden kann.
Aber ebenso selbstverständlich sollte dieser Fall genau wegen seiner Details auch zum Anlass genommen werden, um über eine Form von Gewalt zu sprechen, über die auch im Jahr 2015 nach wie vor ein Mantel des Schweigens liegt und die in diesem Fall in einem direkten Zusammenhang steht: die häusliche Gewalt. Die jeden Tag geschieht, ohne dass jemand etwas davon mitbekommt. Die keinen nationalen Schock und keine öffentliche Trauer auslöst. Obwohl Tausende, wenn nicht Millionen betroffen sind. All die Frauen, die tagtäglich dem gewaltsamen Terror ihrer Freunde und Ehemänner ausgesetzt sind: Amokläufer hinter geschlossenen Vorhängen.
Blick nach Österreich: Jedes Jahr werden dort schätzungsweise 30 Frauen von ihren (Ehe)Männern oder Ex-(Ehe)Männern ermordet. „Oft ist der Mord der schreckliche Höhepunkt einer langen Gewaltgeschichte und meistens kündigen die Mörder ihre Tat vorher an“, schreibt die „Frauenhelpline gegen Gewalt“ der Autonomen Österreicher Frauenhäuser in ihrem Jahresbericht 2014, das Äquivalent zum deutschen „Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen“. Die Frauenmorde seien „nur die Spitze des Eisberges, das Ausmaß der Gewalt an Frauen ist sehr hoch und die Dunkelziffer ist vermutlich noch viel höher.“ Von den etwas mehr als 8.000 AnruferInnen, die die Hotline im selben Jahr verzeichnete, waren rund 7.000 weiblich.
Auch die europaweite Erhebung der „Agentur der Europäischen Union für Grundrechte“ hält in einer EU-weiten Studie fest, dass jede fünfte Österreicherin seit ihrem 15. Lebensjahr Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt wird, jede zehnte erlebt körperliche Gewalt in Partnerschaften oder Ex-Parterschaften. In Deutschland sieht das nicht besser aus. Jede Dritte wird Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt, jede fünfte innerhalb einer Beziehung oder Ex-Beziehung. Damit entspricht Deutschland dem europäischen Durchschnitt. Und auch das steht in dem Bericht: Der deutlich größere Anteil dieser Betroffenen melden Gewalt in ihrer Partnerschaft weder der Polizei noch einer Hilfsorganisation.
Amokläufe sind allzu oft durch Hass auf (starke) Frauen motiviert
Auch Amokläufe, das beweist die jüngere Geschichte, sind allzu oft durch Hass auf (starke) Frauen motiviert. Zwei Beispiele von vielen: Im kanadischen Montreal eröffnete der Attentäter Marc Lépine 1989 das Feuer auf die Studentinnen einer Ingenieurschule mit den Worten: „Ich hasse Feministinnen!“ 25 Jahre später verkündete in Santa Barbara der Attentäter Elliott Rodger vor seiner Tat: „Ich bin der perfekte Mann, und ihr werft euch trotzdem diesen ganzen anderen dämlichen Typen an den Hals. Am Tag meiner Rache werde ich ins Gebäude der schärfsten Studentinnenverbindungen meiner Uni gehen, und ich werde jede einzelne blonde, verwöhnte Schlampe abschlachten, die ich dort sehe.“
Aus Graz sind solche Statements bisher nicht bekannt. Im Hinblick auf die bedrückenden Details des Amoklaufs allerdings drängt sich eine Frage auf: Wie wollen wir Gewaltausbrüche im Großen unter Kontrolle bekommen, wenn wir sie im Kleinen so sträflich ignorieren? Es scheint nicht überraschend, dass sich Gewalt, die monate-, wenn nicht jahrelang ungehindert hinter geschlossenen Vorhängen explodieren kann, sich irgendwann auf einer großen Bühne Bahn bricht — wie in der Grazer Innenstadt. Vor allem, wenn plötzlich der Blitzableiter verschwindet. Denn die Ehefrau des Grazer Amokläufers hat etwas gewagt, was Opfer häuslicher Gewalt lange nicht oder niemals schaffen: Sie hat sich der Macht ihres Peinigers entzogen.