Zu viele Fragen sind offen

Schülerinnen nach dem Amoklauf
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Im Zug. Das aschblonde Mädchen auf der anderen Seite des Vierertisches tippt mit seinem Plastik-Pen im Stakkatorhythmus auf das Display ihrer Spielkonsole. Es ertönt ein tuschartiges Geräusch, das den erfolgreichen Abschluss einer Runde feiert. "Ei guck, Mama, jetzt mach i mitm Abiturientelevel weider!" Melissa ist 13. Das flache Kästchen in ihrer Hand beherbergt ein Englisch-Programm sowie diverse Übungen in Sachen Gehirnjogging. Seit Stunden bildet sie aus kreisenden Buchstaben Wörter, notiert Melodien in Noten und legt aus virtuellen Streichhölzern die geforderte Anzahl Quadrate. "Wohin fahren Sie denn?" fragt mich Melissas Mutter. "Nach Winnenden", antworte ich. "Oh", sagt sie. Und dann, weil die Frage jetzt unausgesprochen im Abteil steht: "Also, Gewaltspiele gibt's für die Konsole gar ned, gell Melissa?" "Nö", antwortet die und tippt weiter.

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Nach dem Amoklauf hat Melissas Lehrerin die Klasse gefragt, wer denn alles Counterstrike spielt, jenen inzwischen zu trauriger Berühmtheit gelangten Ego-Shooter, den bisher alle Amokläufer – in Erfurt, Emsdetten und auch in Winnenden – auf ihren Rechnern hatten. Die Antwort: zwei Mädchen – und alle Jungen. "Mir hen drei Töchter und keine von denen interessiert sich für diese Spiele", sagt die Mutter. "Des isch ne Sache der Jungs".

Eine schlichte Tatsache, die in den zahllosen Berichten, Analysen und Experteninterviews der letzen Wochen durch eine merkwürdige Abwesenheit geglänzt hat. Von "Außenseitertum", "Mobbing" und "Kränkungen" war da die Rede und, endlich!, auch von Waffen und Computerspielen, von virtuellen Parallelwelten und sogar vom so lange geleugneten Verlust der Empathiefähigkeit durch das virtuelle Killen. Aber dann schrieben die Journalisten und Wissenschaftler doch wieder geschlechtslos über "Killerspiele in Kinderzimmern", "Jugendgewalt" und "junge frustrierte Menschen". Einer dieser Menschen, männlich, hat am 11. März 2009 an seiner Schule zwölf andere Menschen, elf weibliche und einen männlichen, erschossen. Die meisten davon mit gezielten Kopfschüssen.

Am Bahnhof. Die Bahnhofskneipe von Winnenden, ein Glaspavillon namens "D-Zügle", hat um viertel nach sieben geschlossen, der Bahnhofskiosk ebenfalls. Auch in der für die Heimatstadt des Hochdruckreiniger-Produzenten Kärcher bemerkenswert schmuddeligen Bahnhofshalle sind an diesem Sonntagabend die Schotten dicht. Nur eine Handvoll Punks bemüht sich mit Hilfe zweier Bierkästen und einem Ghettoblaster auf Gleis 3 um ein bisschen Randale. Eine Punkerin zerdrückt eine Dose. "Ey, war das mein Penis?" gröhlt ein kräftiger junger Mann mit Irokesenschnitt. Das Mädchen versteht nicht. "Hä?" "Ob das mein Penis war, verdammte Scheiße!" Ob und was das Mädchen antwortet, ist zu leise, als dass ich es verstehen könnte.

Am Bahnhofsvorplatz heißt auf einem Schild der Schwäbische Albverein von 1893 Gäste des Städtchens "Herzlich willkommen!" und klärt über den Württembergischen Weinwanderweg auf. Geradeaus geht es zur Schlosskirche St. Jakobus und nach Breuningsweiler. Links geht es nach Leutenbach. Zu dem Ort, aus dem der Amokläufer Tim K. kam. Nur anderthalb Kilometer sind es bis dorthin.

Ein paar Meter weiter links formen ein Dutzend rote Grabkerzen ein Kreuz. Die Kerzen brennen nicht, anders als das Lichtermeer, das die Albertville-Realschule an diesem Abend, knapp drei Wochen nach dem Amoklauf, noch umschließt und sich bis auf den Schulhof des benachbarten Lessing-Gymnasiums zieht. Über den Lichtern thront eine Reihe Kränze, darunter auch einer der "Landesregierung Baden-Württemberg" und einer von "Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel". Zwischen den Lichtern liegen Tulpensträuße und Primeltöpfchen, Zettel und Briefe, eine Steinmadonna hält das Jesuskind im Arm. Die Frage auf den meisten Briefen lautet: Warum?

An der Schule. Warum, das wissen die Mädchen und Jungen des Lessing-Gymnasiums, die am Montagvormittag aus ihrer Abi-Klausur stürmen, auch nicht. Aber ein hochgewachsener Abiturient mit Kurzhaarschnitt und Brille weiß, woran es auf keinen Fall gelegen hat: Dass jetzt alle den Computerspielen die Schuld gäben, das sei "totaler Quatsch", sagt er. "Der hat Counterstrike gespielt. Na und? Das hab ich auch auf dem Rechner!" Und überhaupt, da könne man gar nichts machen. Das sage auch sein Vater, und der sei als Polizist in der Materie. "Wenn so einer durchknallt, dann knallt er durch."

"Winnenden, die Stadt der Spinnenden", so lautete in früheren Zeiten der Spitzname des 28.000-Einwohner-Städtchens, weil dort nicht nur die Insassen der Psychiatrischen Landesklinik aus den Fenstern brüllten, sondern auch die Paulinenpflege mit ihren Behindertenwerkstätten und dem Berufsbildungswerk für hör- und sprachbehinderte Jugendliche seit über hundert Jahren dafür sorgt, dass man in Winnenden öfter Menschen zu Gesicht bekommt, die nicht dem Prototyp des schwäbischen Normalbürgers entsprechen. Deshalb, so sagt man hier, sei der Ort im Rems-Murr-Kreis, der sich aufgrund seiner Einwohnerzahl "Große Kreisstadt" nennen darf, pietistisch und tolerant zugleich.

Aber war Tim K., der angeblich wegen Depressionen eine ambulante Therapie begann und abbrach, "verrückt" im klinischen Sinne? War er ein "Zombie" und "kein Mensch", wie der Präsident des "Bundes Deutscher Sportschützen", Friedrich Gepperth, am Tag nach der Tat hastig befand?

Die Eltern von sechs der erschossenen Mädchen wollen sich mit dieser Diagnose und den vielen "Unerklärlich"-Erklärungen nicht zufrieden geben. Am 21. März, dem Tag der Trauerfeier, und zehn Tage nach den tödlichen Schüssen, hatten sie in der Winnender Zeitung in einem Offenen Brief eine "Aufarbeitung der Vorgänge" gefordert und erklärt: "Wir wollen wissen, an welchen Stellen unsere ethisch-moralischen und gesetzlichen Sicherungen versagt haben."

Diese Frage stellen sich auch ein paar Mitschülerinnen des bebrillten Abiturienten. Von dem Offenen Brief der Eltern haben sie zwar noch nichts gehört – "Wir hatten Abi und haben’s erstmal verdrängt" –, aber dass die Eltern ein Verbot von Killerspielen wollen, gut, darüber müsse man wirklich nachdenken. Dass sich in den Köpfen der Spieler Szenarien eingraben, in denen sie alles niedermetzeln, was sich ihnen in den Weg stellt, "des isch schon ein Problem", sagt die ernste Annika mit den langen braunen Haaren.

Ein Problem sei aber auch der Leistungsdruck in der Schule. "Wir sind alle nur noch für uns und sehen zu, dass wir da durchkommet", sagt eine blonde junge Frau mit Schirmmütze. Für Außenseiter sei das natürlich besonders schwierig. "Und schließlich weiß man nie, wen man mit welchen Sprüchen verletzt, obwohl man es gar nicht so gemeint hat." "Man müsste ab der fünften Klasse eine Art Anti-Gewalt-Fach haben", findet eine andere. "Ein Fach, in dem man lernt, dass es okay ist, wenn jemand anders ist."

Was die Mädchen denn zu den Gewaltpornos meinen, die man bei Tim K. gefunden hat? Staunende Blicke. "Davon wissen wir gar nichts", sagt eine Schülerin perplex. "Was hatn des damit zu tun?" meldet sich der junge Mann wieder zu Wort, diesmal sichtlich sauer. Die drei Jungs neben ihm grinsen verlegen. "Wenn er Bock auf Bumsen hatte – na und?" Annika sieht das anders: "Das heißt schon, dass er auf Gewalt stand!"

Ja, das heißt es wohl. Von den 200 Pornobildern, die man auf dem Computer von Tim K. gefunden hat, waren 120 so genannte Bondage-Bilder, die, wie die Polizei Waiblingen in einer Pressemitteilung erklärte, "gefesselte Frauen" zeigen. Wer das Wort "Bondage" bei Google eingibt, erkennt allerdings sofort, dass die abgebildeten Bondage-Frauen in der Regel nicht nur gefesselt, sondern auch misshandelt sind: Überdimensionierte Dildos stecken in ihnen, Brustwarzen sind abgeklemmt und nackte Körper rotgepeitscht.

Polizei und Journalisten fanden die Pornos in Tim K.s Zimmer nicht weiter berichtens- und betrachtenswert, weshalb es nicht überraschend ist, dass selbst in Winnenden kaum jemand von den Folterfotos weiß. "Ein paar Pornobilder" seien aufgetaucht, berichtet die Rems-Murr-Zeitung und zitiert unkritisch die Ansicht von Oberstaatsanwalt Siegfried Mahler, das sei schließlich für einen 17-Jährigen "nichts Außergewöhnliches".

Ein Zufall, dass Tim K. in seiner ehemaligen Schule drei Lehrerinnen, acht Mädchen und "nur" einen Jungen erschossen hat? An den ersten beiden Tagen nach der Tat wird diese Frage noch gestellt. "Der Schütze ging planvoll vor", schreibt die Rems-Murr-Rundschau. "Er tötete die meisten seiner Opfer mit Kopfschüssen. Und er ermordete fast nur weibliche Personen: drei Lehrerinnen – eine von ihnen, eine junge Referendarin, Jahrgang 1984, hatte ihren Job an dieser Schule erst vier Wochen zuvor angetreten – acht Mädchen und nur einen einzigen Jungen. Was dieser Befund zu bedeuten hat, darüber kann die Polizei allenfalls spekulieren. Vielleicht zeichnet sich hier ein Motiv ab."

Patrick wartet an diesem Vormittag an der Bushaltestelle vor der Albertville-Realschule. Zwar ist die Schule seit dem Massaker geschlossen und der Unterricht in andere Schulen ausgelagert, aber Patrick kommt trotzdem lieber jeden Tag an diese Haltestelle, "damit es wieder isch wie vorher". Der Neuntklässler war dabei, als Tim K. in seinem schwarzen tarnanzugartigen Outfit in die 9c gestürmt kam und begann, den Schülerinnen in die Hinterköpfe zu schießen. "Richtig konzentriert", wie Patrick dem Spiegel sagte. Waren es gezielt die Mädchen? Der Junge zuckt mit den Schultern. "Die Mädchen saßen hinten", sagt er. "Und es ging alles wahnsinnig schnell."

Der Eingang zum Klassenraum war den hinteren Sitzreihen am nächsten. Aber dort saß auch Patricks Klassenkamerad Dennis, in einer Reihe mit Chantal und Kristina. Dennis, so hat er es der Presse erzählt, hatte sich umgedreht und Tim K., den er von früher aus Leutenbach kannte, angeschaut. Der erschoss Chantal und Kristina von hinten und dann Jana in die Stirn. Auf Dennis zielte er nicht. Ob er ihn verschonte, weil er ihn, wenn auch flüchtig, gekannt hat? Unwahrscheinlich, denn einige der ermordeten Mädchen kannte Tim K. ebenfalls. Wie Steffi, die in seiner Nachbarschaft wohnte.

Die Staatsanwaltschaft und die Polizei. Das mögliche "Motiv", von dem die Lokalpresse noch am 12. März spricht, ist schon einen Tag später vom Tisch. Oberstaatsanwalt Mahler gibt seine Pressekonferenz und verkündet neue Erkenntnisse. Er erklärt, dass Tim K. in ein Mädchen aus der Nachbarschaft verliebt gewesen und von diesem zurückgewiesen worden sei. Einen Zusammenhang mit dem Geschlecht der überwiegenden Zahl der Opfer von Tim K. sehe er aber nicht. Er erwähnt auch den Fund der "paar Pornobilder". Um welche Art Bilder es sich handelt, sagt er nicht. Warum auch, es handelt sich ja um etwas ganz Normales.

Wer es genauer wissen will, der wird jedoch von der Pressesprecherin der inzwischen ermittelnden Staatsanwaltschaft in Stuttgart abschlägig beschieden. "Welche Gewalt oder ob auf den Bildern überhaupt Gewalt" zu sehen sei, das sei für die Staatsanwaltschaft "kein verfahrensrelevanter Gesichtspunkt". Ob ein Zusammenhang mit der Tatsache, dass Tim K.s Opfer zu 90 Prozent weiblich waren, denkbar wäre? "Das Geschlecht", erklärt Pressesprecherin Krauth, "hat für den Täter nach unseren bisherigen Erkenntnissen keine Rolle gespielt."

Wie sie zu diesen Erkenntnissen gelangt ist und wie der genaue Tatablauf war, das möchte die Staatsanwaltschaft erst bekannt geben, "wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind", was "erst in einigen Wochen der Fall sein" werde. Was die Staatsanwaltschaft jedoch schon vor Abschluss der Zeugenbefragungen mit Gewissheit weiß, ist, dass es sich bei den gezielten Schüssen des trainierten Schützen Tim K. "nicht um ein bewusstes Erkennen des Geschlechts" gehandelt hat.

Waren denn weniger Jungen in den Klassenräumen, in denen jeweils vier Mädchen und einmal ein Junge getötet wurden – der hübsche Ibrahim, der als "Frauenflüsterer" galt und der sich, so besagt ein Gerücht, vor seiner Exekution hinknien musste? Nein, die Klassen seien etwa zur Hälfte mit Mädchen und Jungen besetzt gewesen, heißt es in der Pressestelle der Polizeidirektion Waiblingen. Doch diese Fragen seien "nicht Gegenstand der polizeilichen Ermittlungen".

Die Lokalredaktion. Die Winnender Zeitung wird in der Stadtmitte gemacht, da, wo die Fußgängerzone mit den schmucken Fachwerkhäusern ausläuft. Redaktionsleiter Martin Schmitzer ist ein freundlicher Schwabe, dessen Lächeln praktisch nie aus seinem Gesicht verschwindet. Doch etwas macht ihm zu schaffen. Dass er so mittendrin ist mit seiner Zeitung, das ist ein Problem. "Ich möchte dem Motiv noch genauer nachgehen", sagt er. Aber das sei schwierig, "weil ich den Leuten, über die ich schreibe, ja die nächsten Jahre noch ins Gesicht schauen können muss."

Natürlich kennen sich hier alle. Fast jede Familie hat irgendeine Verbindung zu den Familien der Opfer, ist mit ihnen verwandt oder bekannt. Deshalb haben sich der Kollege und seine Redaktion mit Befragungen der Menschen zurückgehalten und auch keine Aussagen traumatisierter SchülerInnen veröffentlicht. Schmitzers Chef in Waiblingen hat die Devise ausgegeben, dass das auch so bleiben soll.

Ganz wohl ist dem Journalisten dabei offensichtlich nicht. "Wir sind von den Leuten hier sehr gelobt worden für unsere zurückhaltende Berichterstattung. Aber das darf natürlich nicht dazu führen, dass wir den wichtigen Fragen nicht mehr nachgehen."

Zum Beispiel der Frage, ob Tims Vater seinen Sohn mit seinem Ehrgeiz so unter Druck setzte, dass der Junge letztendlich darunter zerbrach. Der Vater, so erzählt man sich im Ort, habe den Sohn beim Tischtennis auf Bestleistungen getriezt und die Mutter habe ständig über seine schlechten Noten geschimpft. Und was ist mit der Frage, ob Tim von einer Lehrerin "gemobbt" wurde oder von Mädchen?

Der Lokalchef weiß, dass gerade seine Nähe zu den Menschen in Winnenden eine behutsamere und aufschlussreichere Recherche ermöglichen würde als die der Reporter, die aus ganz Deutschland in die Kleinstadt einfielen. Die viel Geld für schnelle Aussagen vor der Kamera, für Klassenlisten und Fotos boten und Balkone für die optimale Fotoperspektive anmieteten. Die falsche Fakten kolportierten. 

Die Winnender Zeitung hat all das nicht getan. Aber sie könnte den "wichtigen Fragen" dennoch nachgehen. Zum Beispiel der, ob es zutrifft, was eine Schülerin, deren Schwester zu den Opfern gehört, der Bunten sagte: "Der hat doch die ganzen hübschen Mädchen erschossen, an die er nie rangekommen wäre." Oder der, welches Verhältnis Tim zu seiner Schwester hatte, die, im Gegensatz zu ihm, aufs Gymnasium ging und dort sehr gute Noten hatte.

Und die, wie es heißt, in sehr vielen AGs aktiv und "sehr beliebt" war. Oder zum Beispiel der, ob der Nachbar, den Bild zitierte, wirklich gesagt hat, dass Tim "einen Hass auf eine Lehrerin hatte, wie auf Frauen überhaupt". Und überhaupt: Ist es nicht zunächst naheliegend, dass der geübte Schütze Tim die acht Mädchen gezielt erschossen hat? Dass seine Tat auch etwas zu tun gehabt haben könnte mit einem Hass auf Frauen und Mädchen? Und dass ihn dabei der Konsum von Bondage-Bildern beflügelt hat? "Sehen Sie", sagt der Kollege, "da sind Sie schon viel weiter als wir." Allerdings, nun ja, besser wäre, wenn die Medien von draußen das täten. Die EMMA, der Stern, der Spiegel. "Ich kann dem nicht so nachgehen, wie ich Luscht hab." Entschuldigendes Lächeln.

Eines fällt Martin Schnitzer zum Schluss noch ein: "Ich stelle es mir für das Mädchen so schlimm vor, das ihn abgewiesen hat", sagt er. "In deren Haut möchte ich nicht stecken. Die muss sich ja schreckliche Vorwürfe machen." Vielleicht fragen sich die Mädchen in Winnenden und anderswo ja demnächst zweimal, bevor sie einen Jungen abweisen.

Am 14. März, drei Tage nach dem Amoklauf, vermeldet die Winnender Zeitung den verängstigten Anruf einer Krankenkassen-Mitarbeiterin aus dem nahe gelegenen Fellbach bei der Polizei. Ein verärgerter Kunde habe ihr soeben gedroht: "Ich glaube, es passiert dasselbe, was in Winnenden passiert ist." Bei der Durchsuchung der Wohnung des 41-Jährigen, der einen Waffenschein besitzt, fanden die Beamten drei Schreckschuss- und mehrere Softairwaffen. Es wurde Anzeige wegen "Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten" gestellt.

Im Kulturzentrum. Vielleicht fragen sich auch Lehrerinnen demnächst zweimal, bevor sie einen ihrer Schüler zurechtweisen. Denn auch in den Klassenräumen scheint der öffentliche Frieden nachhaltig gestört. Neben der Trauer hat eine gewisse Beklemmung Einzug gehalten. Und die Frage: Wie geht es den "Außenseitern"? Hat man deren Nöte übersehen? "Ich hab doch auch so ein paar ganz Stille in meiner Klasse", sagt Maria Liebing.

Die Lehrerin an einem Gymnasium im  Rems-Murr-Kreis und Mutter zweier Töchter ist eine von vier Frauen, die an diesem Abend in die "Alte Kelter" gekommen sind, um der EMMA-Reporterin über das Ungeheuerliche zu berichten, das mitten in ihrer Stadt an einer ihrer Schulen passiert ist. Und um über das zu sprechen, was sie bewegt. Ebenfalls dabei: Gudrun Obleser, pensionierte Grundschullehrerin und ehemalige SPD-Stadträtin, die Lehrerinnen Maria Liebing und Heike-Sylvia Prag, sowie Stefanie Szöbb, Krankenschwester und Mutter dreier Söhne.

Die ehemalige Kelterei beherbergt heute ein Kulturzentrum. Der über hundertjährige Fachwerk-Flachbau liegt nur rund 500 Meter von der Albertville-Realschule entfernt. Diejenigen, die den Ort des Amoklaufs besuchen, um dort am Grablichtermeer der Opfer zu gedenken, kommen oft auch noch herüber zur "Gedankenwand" – der großen Wandzeitung an der Vorderfront der "Alten Kelter" – um die Gedanken zu lesen, die die WinnenderInnen hier dicht an dicht notiert haben bzw. um ihre eigenen hinzuzufügen.

Am Morgen des Amoklaufes, um kurz nach halb zehn, also wenige Minuten, nachdem der Hilferuf bei der Polizei einging, war Gudrun Obleser mit einer Nachbarin im Park hinter der Albertville-Realschule zu ihrer morgendlichen Spazierrunde mit dem Hund unterwegs. Sie hörten die Polizeisirenen und ahnten, weil es sehr viele waren, dass irgendetwas Schlimmes passiert sein musste. Ihr Rückweg hätte an der Straße vor der Schule vorbeigeführt. Die aber war schon verbarrikadiert. "Es ist eine Katastrophe", murmelt Gudrun Obleser an diesem Abend immer wieder. Wer heute Abend etwas sagt, tut es zögernd und leise. Niemand erhebt die Stimme. In den letzten zwei Wochen haben die Frauen oft bis spät in die Nacht und immer wieder mit ihren Kindern, Ehemännern, NachbarInnen, FreundInnen über das Grauen geredet. Alle vier Frauen kennen Betroffene. Aber das heißt nicht, dass sie gelähmt wären vor Entsetzen. Im Gegenteil. Vor zwei Tagen hat Gudrun Obleser begonnen, Unterschriften für den Offenen Brief der Eltern zu sammeln, in dem die unter anderem ein Verbot von Killerspielen fordern. Denn es müssen sich Dinge ändern.

Die Zeit, die ein durchschnittlicher Junge heutzutage mit Killerspielen vor seinem Computer verbringt, steigt und steigt. Und damit, fürchtet Maria Liebing, "der Helden-Größenwahn, der da genährt wird". Die Lehrerin wusste bis vor etwa einem Jahr gar nicht, was und wie viel ihre Schüler da spielen. Dann ließ sie in einer ihrer Klassen ein Gedicht schreiben. Es sollte eine Parallele werden zu Bertolt Brechts "Vergnügungen". "Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen/Das wiedergefundene alte Buch/Begeisterte Gesichter/Die Zeitung/Der Hund/Die Dialektik …" lauten die erbaulichen Erlebnisse, die der Autor vor einem halben Jahrhundert niederschrieb. Einer der Schüler von heute beschrieb in seiner Variante minutiös sein Wochenend-"Vergnügen": das Anschalten seines Computers, das Hochladen des Spiels, die Vorfreude auf das, was dann kommt: Counterstrike. Das Killerspiel, das, so lernte Lehrerin Liebing auf Nachfrage, jeder männliche Jugendliche kennt und schon einmal gespielt hat.  

Als der Schüler kurz darauf in der Klasse ein paar dieser Spiele vorführt, ist nicht nur seine Lehrerin über das Gemetzel entsetzt, sondern auch die Mädchen der Klasse. "Die waren zunächst einfach sprachlos und geschockt  und fragten dann die Jungs entgeistert: ‚Wie könnt ihr so was spielen?‘" Die Antwort: "Wieso, das ist doch harmlos, spielen doch alle!"

Diese Antwort bekam wenige Tage vor dem Amoklauf auch Stefanie Szöbb in Erdmannhausen zu hören – dem Ort, in dem Tim K.s Tischtennisverein seinen Sitz hat. Der Sohn einer Bekannten hatte ihren Sohn zu seinem 14. Geburtstag zu einer LAN-Party eingeladen. Das Spiel seiner Wahl: Counterstrike. Als die beunruhigte Mutter die Eltern des Jungen darauf hinwies, dass dieses Spiel erstens extrem brutal und zweitens erst ab 18 zugelassen sei, beschwichtigte der Vater: Man habe doch früher auch "Räuber und Gendarm" gespielt. Und außerdem: "Es spielen doch alle!"

Das stimmt. Leider. Nur jeder 20. Junge lebt Computerspiel-abstinent, aber jedes fünfte Mädchen. Jeder sechste Junge sitzt täglich mehr als viereinhalb Stunden ballernd vor dem PC. Das hat das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) in einer Befragung von 45.000 NeuntklässlerInnen herausgefunden. Jeder 20. der männlichen Spieler sei regelrecht süchtig nach Computerspielen.

Dass viele Jungen de facto "aufs Jahr gerechnet länger Online-Spiele spielen als in der Schule sitzen", wie Prof. Christian Pfeiffer, Leiter des KFN, vorrechnet, ist aus gleich mehreren Gründen ein gewaltiges Problem. Denn wer täglich mehrere Stunden vor dem Bildschirm ballert, lässt fast zwangsläufig in der Schule nach (Recht auf Wahrheit 3/09). Auch Lehrerin Liebing beobachtet: "Man kann sagen: Alle, die viel spielen, sacken in der Regel mit ihren Leistungen ab." Im Gegensatz zu den Mädchen, die zwar auch immer öfter vor ihren Bildschirmen sitzen, aber immer noch erheblich mehr Zeit fürs Lesen und Lernen verwenden.

Und so schließt sich der Teufelskreis. Die Jungen, die ihre traditionelle Überlegenheit in der Schule verloren haben, "flüchten sich in die klassischen Männerwelten", sagt Stefanie Szöbb. Und verlieren leistungsmäßig weiter an Boden. Und noch etwas geht verloren: Die Fähigkeit zur Empathie. Was jahrelang geleugnet wurde – nicht selten von Wissenschaftlern, deren Studien von den Spieleherstellern finanziert wurden – ist inzwischen nachgewiesen. Wer permanent mit Pumpguns, Flammenwerfern und Kettensägen virtuell mordet, hat auch in der realen Welt weniger Hemmungen, seinen Mitmenschen Schaden zuzufügen. "Da tickt eine Zeitbombe", sagt Maria Liebing. "Wir haben es mit einer Generation Jungen zu tun, die das Töten übt und übt und übt."

In der Woche vor dem Amoklauf hat Maria Liebing, aufgerüttelt von dem Referat ihres Schülers, das Thema Computerspiele auf die Tagesordnung des Elternabends gesetzt und darum gebeten, darauf zu achten, was ihre Söhne da spielen und die Computerzeiten einzuschränken. Resultat: große "Rat- und Hilflosigkeit".  "Entweder die Eltern finden nichts dabei, wenn ihre Söhne solche Spiele spielen oder sie haben Angst oder nicht die Kraft, den dauernden Konflikt um ein Verbot mit ihren Kindern auszutragen."

Dabei hatten 17 von 21 der Schüler von Maria Liebing sogar erklärt, sie seien einverstanden, wenn ihre Eltern ihre Computerzeiten einschränken würden. Ein Verbot, so sagten sie, könnten sie ihren Kumpels erklären. Die Erklärung, sie würden lieber Hausaufgaben machen als zum Ballern vorbeikommen, bedeute dagegen Gesichtsverlust.

Nach dem Amoklauf hat Lehrerin Liebing nun beschlossen, sich mehr um die Außenseiter in ihrer Klasse kümmern. Das sei zwar angesichts des Stoffdrucks äußerst schwierig, "aber ich mach es jetzt einfach". Schon seit Jahren fordern die LehrerInnen in und um Winnenden mehr SozialarbeiterInnen an den Schulen. So ist in dem Schulkomplex, zu dem auch die Albertville-Realschule gehört, ein einziger Sozialarbeiter für 1.850 SchülerInnen zuständig. Die Anti-Gewalt-Kurse für Jungen, die im Schulprogramm stehen, haben nie stattgefunden.

Die Frage, ob Tim K. tatsächlich gezielt auf Mädchen geschossen hat und was das mit seinem Konsum von Computerspielen, Horrorfilmen und Pornografie zu tun haben könnte, beschäftigt sie alle. So, wie auch an den ersten Tagen die SchülerInnen darüber reden wollten. "In fast jeder Klasse war es ein Thema, dass er fast nur Mädchen erschossen hat", erzählt Maria Liebing. Sie selbst hat dann die Diskussion abgewiegelt, weil sie "genug von den immer neuen Gerüchten hatte", die im Halbstundentakt kursierten. "Aber jetzt denke ich: Da könnte doch mehr dahinter stecken." "Bei dem Wort ‚Bondagebilder‘ liegt doch das Motiv Frauenhass auf der Hand", sagt Gudrun Obleser und wird doch einmal kurz lauter als bisher. Selbst die Arbeitskollegen ihres Mannes haben sich gefragt, wie das mit den acht toten Mädchen sein könne, erzählt Stefanie Szöbb. Dann verebbte die Debatte. "Es ist eben einfacher zu sagen ‚Der ist halt durchgedreht‘ als ‚Der ist hingegangen und hat die Mädchen gezielt erschossen.‘" Es ist schon spät. Zeit nach Hause zu gehen.

In Weiler zum Stein. Von der Albertville-Realschule braucht der Bus eine gute Viertelstunde, bis er durch Leutenbach gefahren und, vorbei an Obstwiesen und der Putenfarm Lämmle, in Weiler zum Stein angekommen ist.

Das Elternhaus von Tim K. liegt direkt hinter dem Ortseingang in einer kleinen Stichstraße. Eine "Villa", wie in den Medien stand, ist der weiße Neubau nicht. Nur vielleicht etwas weißer und neuer und größer als andere Häuser in dem kleinen Ort, in dem praktische Fünfziger-Jahre-Quader, schiefe Fachwerkhäuser und ein paar gepflegte Neubauten eine unbestimmte Koexistenz eingegangen sind. Vor dem "Landgasthof Zum Löwen" brüllt tatsächlich ein steinerner Löwe, die Bäckerei Maurer schmückt eine goldene Brezel. Auf dem gepflasterten Dorfplatz ist laut Beschilderung Fußballspielen und Inlinern verboten.

Auf dem Schulhof. Kathrin Kopriva gehört nicht zu denen, die glauben, dass man nichts tun kann. Die Elternbeirats-Vorsitzende des Lessing-Gymnasiums, die am Sonntag nach dem Amoklauf bei Anne Will war, wünscht sich zwar, dass das rote Grablichter-Band langsam weggeräumt würde, "damit die Kinder wieder ein bisschen Normalität haben". Ansonsten aber möchte die Mutter eines Sohnes und einer Tochter keineswegs zur Tagesordnung übergehen. "Wir wollen, dass es anders weitergeht wie vorher", sagt sie.

Wir, das sind die Eltern und LehrerInnen des Schulzentrums, die sich unter dem Schock der schrecklichen Tat zusammengetan haben, "wie es früher nie möglich war". Drei Forderungen haben sie: 1. Sie wollen mehr Sozialarbeiter. "Wir haben eine 75%-Stelle für sieben Schulen", erklärt sie. "Jahrelang haben wir rumgekämpft, dass wir mehr Stellen kriegen." 2. Sie wollen, dass niemand unter 21 eine Waffe in die Hand bekommt. 3. Sie wollen, dass Killerspiele verboten werden. "Wenn nicht jetzt, wann dann!"

Im Gameshop. Im Schaufenster von Claudios Computerspiel-Laden lockt kein Rächer, sondern die Action-Archäologin Lara Croft mit ihrer grotesk winzigen Wespentaille, die im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Oberweite steht. Zu Füßen der Computer-Heldin, die nicht mehr wirklich angesagt ist, müssen einige Pakete "World of Warcraft" – eines der Computerspiele mit dem höchsten Suchtfaktor – nicht lang auf ihre Käufer warten.

Claudio kennt sich aus in der Gamer-Community. Und die mobilisiert gerade in den einschlägigen Foren zum Gegenschlag, falls Ministerin von der Leyen oder sonst wer tatsächlich Killerspiele verbieten sollte. "Dann wird es Großdemos geben", kündigt er an. In den Tagen nach dem Amoklauf seien Leute zu ihm in den Laden gekommen und hätten von ihm verlangt, dass er zumacht. Er hat ihnen erklärt, dass er schließlich eine Familie zu ernähren hätte und es außerdem überhaupt nicht einsieht, dass seine Spiele Schuld sein sollten. Aber Schuld seien doch eigentlich die Eltern, die sich nicht um ihre Kinder kümmern und sie den ganzen Tag vor dem Computer sitzen lassen. Die ihren zwölfjährigen Kindern Spiele kaufen, die erst ab 18 zugelassen sind.

Von ihm, Claudio, kriegen die Kinder die Spiele nicht, aber sie schicken dann volljährige Freunde, und er kann zusehen, wie die auf der anderen Straßenseite das Spiel an die Jungs übergeben. Allerdings: Die deutschen Fassungen der Spiele seien sowieso entschärft, viel heftiger seien die amerikanischen oder französischen: "Da können Sie Menschen mit der Kettensäge zersägen und Frauen vergewaltigen."

Wieder im Zug. Die beiden Jungen auf der anderen Seite des Ganges drücken ihre Daumen auf die Buttons ihrer Spielkonsole. Im Fünfsekundentakt ertönt ein Geräusch, das den erfolgreichen Abschuss eines Menschen oder eines Hubschraubers feiert. Das Spiel heißt Grand Theft Auto, kurz GTA, und gehört momentan zu den erfolgreichsten auf dem Markt. Es spielt in der Unterwelt von Vice-City, einer fiktiven amerikanischen Großstadt, in der der Held, ein Kriegsveteran, in Bandenkriegen Missionen erfüllen muss. Enno ist zwölf. Seit Stunden überbringt er Drogenkoffer, klaut Autos, nimmt Geiseln und erschießt dabei alles, was sich ihm in den Weg stellt. Seine Mutter hat ihm das Spiel gekauft, erzählt er. Er darf es aber nur eine Stunde am Tag spielen.

Wie das Spiel genau funktioniert? "Also, als erstes müssen Sie Ihre Waffen auswählen", erklärt der Junge. "Das können zum Beispiel Messer, Maschinengewehre oder ein Flammenwerfer sein." Und wen kann man damit umbringen? "Alle." Auch die Passanten, die überall in der Stadt rumlaufen? "Ja" sagt er und erschießt zu Demonstrationszwecken mal eben drei Fußgänger. "Aber Punkte gibt es dafür nur, wenn die Toten der Mission im Weg gestanden haben." Und wenn man eine Mission erfolgreich erfüllt hat? "Dann kriegt man Geld. Dafür kann man dann noch mehr Waffen kaufen."

Und die Frau auf der Spielhülle, die im engen roten Kleid am Auto lehnt? Jetzt wird Enno verlegen. "Das ist eine Prostituierte", grinst er. "Die kann man auch kaufen." Und was passiert dann? "Dann wackelt das Auto." Kann man die dann hinterher auch erschießen? "Ja klar. Man kann alle erschießen." Warum er das macht? "Das macht voll Bock!" sagt er und grinst nochmal.

Der Amoklauf von Winnenden sei "eine in keiner Form erklärbare Tat", hatte der baden-württembergische Ministerpräsident Oettinger erklärt. Was stimmt, ist: Es gibt keine einfachen Antworten. Aber es gibt einfache Fragen. Sie müssten nur gestellt werden. 

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