Ja, Renate Bühn ist froh darüber, endlich an oberster Stelle gehört zu werden. Sie ist eins von 15 Mitgliedern des „Betroffenenrats“, den der „Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“ ins Leben gerufen hat. Jahrelang hatten Betroffene dafür gekämpft, dass auch sie auf höchster Ebene mitreden dürfen. Seit März 2015 begleiten und beraten zehn Frauen und fünf Männer, die selbst Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind, nun den Missbrauchsbeauftragten Johannes-Wilhelm Rörig bei quasi allem, was er tut, um die vergangenen Taten aufzuarbeiten, bei der Bewältigung des Grauens zu helfen und künftige Taten zu verhindern.
Sie sitzen mit in den so genannten „Konzeptgruppen“, die Vorschläge zu Gesetzesentwürfen, Forschungsprojekten oder zur Verbesserung des Hilfesystems machen. Der „Betroffenenrat“ gibt eigene Stellungnahmen und Pressemitteilungen heraus. Er firmiert als „Fachgremium“. Das ist wichtig, denn „sobald man sich als betroffen outet“, weiß Renate Bühn auch von ihren MistreiterInnen, „wird man plötzlich nicht mehr in seiner Fachkompetenz wahrgenommen. Man ist entweder Opfer – oder Fachfrau.“ Die 15 Mitglieder des Betroffenenrates, die seit Jahren oder Jahrzehnten, ehrenamtlich oder beruflich zum Thema engagiert sind, firmieren als ExpertInnen.
Die LehrerInnen müssen lernen, die Anzeichen zu erkennen
Dass es das Amt des Missbrauchsbeauftragten, offiziell angesiedelt bei der Bundesregierung, und diesen „Betroffenenrat“ einmal geben würde, das hätte sich die heute 54-Jährige nicht vorstellen können, als sie 1985 die erste Selbsthilfegruppe für Missbrauchsopfer in Darmstadt gründete, aus der 1987 eine „Wildwasser“-Beratungsstelle wurde. Als sich Renate mit 14 ihrer Tante anvertraut und erzählt hatte, dass der Vater sie missbrauchte, passierte – nichts. Auch nicht, als sie Jahre später allen Familienangehörigen einen Brief schrieb: „An alle Mitwisser und Mitwisserinnen“. Wieder nur Schweigen - der Täter blieb unangetastet. Stattdessen verließ das Opfer die Familie. Als der Vater schließlich starb, stand auf der Trauerkarte: „Zum frommen Angedenken an den lieben Verstorbenen“. Wieder wurde geschwiegen.
Jetzt aber wird gesprochen. Und zwar auf höchster Ebene. „Endlich ist das Thema bundespolitisch angekommen“, sagt Renate Bühn. Darüber ist sie froh. Aber zufrieden? Nein, zufrieden ist sie nicht. Dafür liegt noch zu viel im Argen. Die Mängelliste ist lang. Erst am Anfang ist zum Beispiel die Initiative „Schule gegen sexuelle Gewalt“, die der Missbrauchsbeauftragte gerade gestartet hat. Rörig hat Aufklärungsbroschüren erstellen lassen, die an mehr als 30000 Schulen verschickt werden sollen. Denn: Sexueller Missbrauch habe nach wie vor eine „riesige Dimension“, sagt der Missbrauchsbeauftragte. Deshalb seien „in jeder Schulklasse mindestens ein bis zwei Mädchen und Jungen davon betroffen“.
Lehrer und Lehrerinnen müssten die Signale der Kinder und Jugendlichen erkennen – und handeln! Nordrhein-Westfalen startet im Februar 2017 als erstes Bundesland mit dem Projekt, die anderen Bundesländer sollen in den nächsten zwei Jahren folgen. Schon jetzt ist die Website www.schule-gegen-sexuelle-gewalt.de online.
Das ist ein tolles Paket, das da an die Schulleitungen geht“, sagt Renate Bühn. Sie selbst hat als Mitglied der „Konzeptgruppe Schutzentwicklung und Kompetenzaufbau“ wertvolle Tipps und Ratschläge zu den Materialien beigesteuert. Nun aber müssten die PädagogInnen auch ein bis zwei Jahre fachlich begleitet werden: „Die Lehrerinnen und Lehrer müssen lernen, Anzeichen zu erkennen“, sagt Bühn. Die Sozialpädagogin und Künstlerin die heute in Bremen lebt, arbeitet an einer Schule im niedersächsischen Syke selbst in einem Modellprojekt zum Thema „Grenzüberschreitungen“. Und sie weiß: Wenn zum Beispiel ein Mädchen eine Essstörung hat oder sich ritzt, kann das ein Hinweis auf Missbrauch sein. Oder wenn ein Mädchen ein auffallend sexualisiertes Verhalten zeigt. „Dann darf es nicht heißen: Naja, die ist halt frühreif!“ (...)
Essstörung und Ritzen können auf Missbrauch hindeuten
Für die Schulung der PädagogInnen und des anderen Schulpersonals müsste nun „Geld in die Hand genommen werden“. Geld, das niemand zahlt. Dabei, sagt Pädagogin Bühn, zeigten Studien aus anderen Ländern: „Da, wo nachhaltig in Prävention investiert wird, gehen die Missbrauchszahlen tatsächlich zurück.“
Überhaupt krankt es immer wieder an den Kosten. Der Fonds, den die Bundesregierung am 1. März 2013 für die Opfer sexuellen Missbrauchs in Familien ins Leben gerufen hat? Schon fast aufgebraucht, weil bisher nur Bayern und Mecklenburg-Vorpommern ihren Obolus eingezahlt haben. Die Beratungsstellen? Chronisch überlaufen und unterfinanziert, wie gerade eine Studie der Evangelischen Hochschule Freiburg im Auftrag des Missbrauchsbeauftragten feststellte. „Generell ist der ländliche Raum unterversorgt“, heißt es dort. „Aber auch in Großstädten können die Fachberatungsstellen der Nachfrage nicht gerecht werden.“ Therapieplätze? Mangelware. „Eine Freundin von mir hatte kürzlich eine schwere akute Krise und hat mehrere Therapeutinnen angerufen“, sagt Renate Bühn. „Ein halbes Jahr Wartezeit!“
Keine Frage, es ist viel passiert, seit 2010 zuerst das Ausmaß sexuellen Missbrauchs und seiner Vertuschung an katholischen Internaten öffentlich wurde und die Odenwaldschule folgte. Seither steht das dunkle Thema im Scheinwerferlicht. Am Runden Tisch saßen Ministerinnen und die erste Missbrauchsbeauftragte wurde bestellt. Christine Bergmann richtete eine Hotline ein, bei der zwischen Mai 2010 und März 2011 11000 Betroffene anriefen. Der jüngste Anrufer war sechs, die älteste Anruferin 89 Jahre alt. Hinzu kamen 2000 Briefe. Was Bergmann darin las, „übersteigt mein Vorstellungsvermögen“, sagte sie im Sommer 2011 im EMMA-Gespräch. Die ehemalige Frauenministerin traf sich mit Selbsthilfegruppen, ließ 2500 TherapeutInnen und 1300 Beratungsstellen befragen, startete eine Erhebung an Schulen und Heimen. Das Ergebnis war ein telefonbuchdicker Bericht, in dem die Missbrauchsbeauftragte unter anderem forderte: Mehr Therapiestunden für Opfer von Missbrauch! Ein Rechtsanspruch für Opfer auf Beratung! Verbindliche Finanzierung der Beratungsstellen als Pflichtaufgabe!
Aber: „Jetzt sind schon wieder sechs Jahre vorbei und es sind immer noch kaum Gelder geflossen!“ klagt Renate Bühn. „Das macht mich wütend!“ Und dabei, sagt sie, „blicken wir ja nicht auf einen sechsjährigen Missbrauchsskandal zurück, sondern auf einen 30-jährigen. Man hätte schon viel früher loslegen können. Das Wissen war ja da.“
"Man hätte schon viel früher loslegen können!"
Und genau deshalb meldete Bühn sich, als Johannes-Wilhelm Rörig den Betroffenenrat ins Leben rief. „Weil ich wollte, dass das feministische Wissen einfließt, das wir seit Anfang der 1980er gesammelt haben. Wir haben schließlich die ersten Selbsthilfegruppen gegründet und waren maßgeblich am Aufbau der fachlichen Hilfestrukturen beteiligt, die daraus entstanden sind.“
1978 hatte EMMA als erste Stimme in Deutschland das Schweigen gebrochen und über das Tabu Missbrauch berichtet. Bald gründeten Opfer erste Selbsthilfeprojekte. Mit 23 machte Renate Bühn sich auf die Suche nach anderen Betroffenen, mit 25 gründete sie „Wildwasser“. Mit 28 reiste sie durch die Republik, um Stimmen Betroffener zu sammeln, die sie, gemeinsam mit anderen Betroffenen, als Schriftreihe „Namenlos“ herausgab. Aber auch wenn sie nun andere Opfer unterstützte, blieb doch das deprimierende Gefühl, dass nicht genug passierte. „Es wurde weiterhin bagatellisiert und vertuscht.“ Schließlich griff Renate Bühn, die den Eindruck hatte, dass Worte offenbar nicht viel nützten, zu anderen Mitteln: Gemeinsam mit zwei weiteren Künstlerinnen gestaltete sie die großartige Ausstellung: „Was sehen Sie, Frau Lot?“ „So politisch kann Kunst sein. So künstlerisch kann Politik sein“, schrieb EMMA damals beeindruckt (EMMA 5/2002). Die als Wanderausstellung konzipierte Schau tourt bis heute durch die Lande.
Eine der Installationen trägt den Titel „2000 = 100 = 15 = 3 = 10 = 2“. 2000 mit rosa Fassadenfarbe bestrichene Krawatten hängen von einem Gerüst. Von 2000 Tätern müssen bei einer Dunkelziffer von 1:20 nur 100 mit einer Anzeige rechnen. Die Kalkulation, die nun folgt, beruht auf der Auswertung von 100 Missbrauchs-Anzeigen durch das Berliner Institut für forensische Psychiatrie: 85 der angezeigten 100 Fälle wurden eingestellt, nur 15 landeten vor Gericht. Drei Beschuldigte wurden freigesprochen, zehn erhielten eine Bewährungsstrafe, nur zwei mussten ins Gefängnis. Zwei von 2000. Renate Bühn hat die Gerichtsurteile an Fleischerhaken aufgespießt.
85 der 100 angezeigten Fälle wurden eingestellt
Dass die Lage für Missbrauchsopfer bei den Staatsanwaltschaften und Gerichten desaströs ist, will Renate Bühn auch mit ihrem Blog #Ichhabeangezeigt zeigen. Die Einträge klingen so: „Seit zwei Jahren weiß ich, dass mein Vater mich als Kind sexuell missbraucht hat – jahrelang! Eine PTBS wurde diagnostiziert. Nach dem Besuch der Ausstellung ‚Ich verbrenne von innen‘ entschloss ich mich zur Anzeige. (...) Nach einigen Monaten musste ich mich entscheiden, ob ich mich einem Glaubwürdigkeitsgutachten unterziehen wolle. Ich entschied mich dafür. Es war der reinste Alptraum. Als ich das Gutachten zu Gesicht bekam, habe ich tagelang geweint. Insgesamt kamen sie zu dem Ergebnis, dass zwar einige Erinnerungen ‚erlebnisbasiert‘ seien, bei manchen können sie es nicht genau sagen – das Verfahren wurde eingestellt.“
„Sexueller Missbrauch ist in Deutschland immer noch eins der sichersten Verbrechen“, sagt Renate Bühn bitter. „Darüber sollte sich ein Rechtsstaat mal Gedanken machen.“ Eine der dringlichsten Forderungen des Betroffenenrates ist deshalb: „Wir brauchen eine Evaluation der Verfahren! Warum werden so viele eigestellt? Sind die Urteile tatsächlich angemessen? Wie kann die Beweislage verbessert werden?“
Ja, es ist viel passiert seit 2010. Der Missbrauchsbeauftragte mache seine Arbeit „mit Herzblut“ und sei „erfreulich unbequem“. Aber es gibt eben auch immer wieder Zweifel daran, ob man die 15 betroffenen ExpertInnen auch wirklich hören will. Der Betroffenenrat hatte im Dezember 2015 dem Justizministerium geschrieben, das gerade an einer weiteren Reform des Sexualstrafrechts arbeitet. Der Betroffenenrat fordert zum Beispiel, dass die Dauer des Missbrauchs beim Strafmaß berücksichtigt wird: „Es kann nicht sein, dass über Monate und Jahre andauernde sexuelle Gewaltübergriffe zu einer Bewährungsstrafe führen.“ Oder: „Es darf kein strafmildernder Umstand sein, dass die Tat schon länger zurückliegt.“
Das Ministerium dankte knapp. Zum Wahljahr 2017 will der Betroffenenrat die Parteien einfordern und fragen: „Sind unsere Forderungen in Ihrem Wahlprogramm vertreten?“ Denn, so findet Renate Bühn: „Wir könnten durchaus noch unbequemer werden.“
Weitere Infos zum Kongress des Betroffenenrats 2018 gibt es hier.