Andrea Gisler (Mi): Die Unermüdliche
Zum ersten Mal stutzig wurde Andrea Gisler nach drei Monaten. Als sie als junge Rechtsanwältin beim Schweizerischen Bankverein anfing, hieß es, sie habe natürlich Anrecht auf ein Einzelbüro, aber leider herrsche derart Platzmangel, dass sie sich das Büro mit einer Sekretärin und einem Trainee teilen müsse. Sie fand nichts dabei. Bis drei Monate später in derselben Abteilung auf gleicher Hierarchie-Stufe ein Mann eingestellt und diesem ganz selbstverständlich ein Einzelbüro zugewiesen wurde. Andrea Gisler ärgerte sich. Und schwieg.
„Ich weiß nicht, wie ich vorher durch die Welt gegangen bin“, sagt Andrea Gisler, 49, heute. „Aber mir war bis zu diesem Zeitpunkt nie aufgefallen, dass ich benachteiligt werde. Erst als ich merkte, dass ich für alles, was für Männer selbstverständlich war, jedes Mal kämpfen musste, begann ich, genauer hinzuschauen.“ Und da sah sie eine Menge, das ihr nicht gefiel.
"Ich musste für alles kämpfen, was für Männer selbstverständlich war."
Den Vorfall mit dem Einzelbüro bezeichnet Andrea Gisler daher als „Initialzündung“. Die nicht nur dazu geführt hat, dass sie sich nach ihrer Zeit beim Bankverein als Anwältin auf Familienrecht spezialisierte, sondern auch, dass sie 2001 in den Vorstand der Frauenzentrale Zürich, eine von 16 Schweizer Frauenzentralen, eintrat. Seit fünf Jahren ist sie deren Präsidentin.
Die Frauenzentrale wurde 1914 ins Leben gerufen und ist ein Verein mit einer langen Geschichte und überaus cleveren Gründerinnen. Die hatten 1929 die Weitsicht gehabt, eine Liegenschaft am Schanzengraben zu kaufen, nur einen Steinwurf vom Paradeplatz entfernt. Die Mieten des sechsstöckigen Hauses in bester Lage machen es möglich, dass die Frauenzentrale finanziell zwar nicht gerade auf Rosen gebettet ist, sich aber den Luxus der absoluten Meinungsfreiheit leisten kann, weil sie nicht am Subventionstropf der öffentlichen Hand hängt.
Als 2012 wegen des überbordenden Straßenstrichs am Sihlquai für die Freier so genannte „Verrichtungsboxen“ im Industriequartier gebaut wurden, protestierte die Frauenzentrale lautstark – und störte damit die Eintracht beinahe aller, die einhellig der Meinung waren, die Befriedigung männlicher sexueller Bedürfnisse solle mit dem Geld von Steuerzahlerinnen finanziert werden. Anders gesagt: Die Frauenzentrale kann unbequem sein.
Andrea Gisler findet das sehr nötig, denn es gibt genug Dinge, die sie ärgern. Am meisten ärgert sie, wie betonhart die traditionellen Rollenbilder in den Schweizer Köpfen hocken, bei beiden Geschlechtern. Weil sie die Frauen ebenfalls in die Pflicht nimmt, muss sie sich mitunter anhören, weshalb „gerade sie als Frau“ andere Frauen so streng beurteile. Tut sie gar nicht. Sie ist bloß konsequent. Das Präsidium der Frauenzentrale ist ein 40-Prozent-Pensum. Denn „die Geschäftsstelle mit ihren Rechts-, Budget- und neuerdings Vorsorge-Beratungen läuft auch ohne die Präsidentin“. Die restlichen 60 Prozent arbeitet Juristin Gisler als selbstständige Anwältin.
Traditionelle Rollenbilder sitzen noch fest in Schweizer Köpfen
Und weil sie eben gerade nicht im Elfenbeinturm sitzt, bekommt sie täglich mit, wie viele Frauen nach wie vor davon ausgehen, dass irgendwann jemand für sie sorgen wird, spätestens dann jedenfalls, wenn sie geheiratet haben. „Der Versorger-Gedanke“, sagt Andrea Gisler und seufzt, „sitzt tief“. Dabei bedeute Freiheit doch, Verantwortung zu übernehmen – für sein eigenes Leben und damit auch ökonomisch. Dass sich gerade die Schweiz so schwer tut mit einem modernen Rollenverständnis, sieht Gisler als Kehrseite des Wohlstandes: Er macht träge, weil ein einziges Gehalt für eine Familie meist ausreicht. Drei Viertel aller Mütter arbeiten Teilzeit, in einem kleinen Pensum.
Andrea Gisler bezeichnet die Frauenzentrale bewusst als Lobby-Organisation: „Ich halte es für grundfalsch, nicht selbstbewusst zu sagen, worum es uns geht. Wir sind wie jede andere Interessenvertretung auch, nämlich Partei: Wir vertreten die Interessen von Frauen.“ Deshalb hält sie auch nichts davon, Männer in den Vorstand zu holen. „Wir müssen nicht raus aus der ‚Frauenecke‘, denn an der Frauenecke ist nichts falsch.“ Vielmehr kämpft sie dafür, dass Frauen die männerlastige Politik aufmischen. Wie zum Beispiel im Frühjahr 2015 mit einer Wahlkampagne für mehr Frauen im Zürcher Regierungsrat (Foto, Gisler: Mitte).
Eine nicht unbeträchtliche Portion Humor bewies die Frauenzentrale 2015 mit ihrer Kampagne für Lohngleichheit: In einer fiktiven Verkaufssendung ließ sie bekannte Kabarettisten Produkte wie Toaster, Bohrer, Rasierer anpreisen. Zu jedem Produkt gab es ein weibliches Pendant: „Nehmen Sie doch die Toasterin!“ riet der Verkäufer. „Kann genau das gleiche, ist aber 20 Prozent billiger!“ Mit ihrem abgründigen Witz sorgten die Videoclips für Diskussionen über die Stadtgrenzen hinaus.
Sie fühlt sich den Kämpferinnen für Frauenrechte verpflichtet
Manchmal ist Andrea Gisler etwas ernüchtert, weil es nicht in forschem Tempo vorwärts geht, sondern vielmehr ein Stillstand oder gar ein Rückschritt auszumachen ist. Das macht sie manchmal müde. Trotzdem kommt Aufgeben nicht in Frage. Schon ihres ausgeprägten Gerechtigkeitsempfindens wegen nicht. Und weil sie sich verpflichtet fühlt. Nicht nur der Teenager-Tochter ihres Lebensgefährten gegenüber. Sondern gegenüber all jenen Frauen, die in der Vergangenheit für mehr Rechte gekämpft haben. Unermüdlich, unerschrocken, unbeugsam. „Deshalb tingle ich auch mit meinen Vorträgen durchs Land: Ich will den Leuten in Erinnerung rufen, dass wir bis 1987 ein Eherecht hatten, in dem festgehalten war, dass der Mann das Oberhaupt der Familie ist“, sagt Andrea Gisler. „Das geht oft vergessen.“
So gesehen, muss man dem Schweizerischen Bankverein für seinen Umgang mit Andrea Gisler eigentlich dankbar sein.