Anita und die Avantgarde
Anita Augspurg (1857 – 1943) war unter dem halben Dutzend Führungsfiguren der Historischen Frauenbewegung die wohl schillerndste. Obwohl die Nazis sofort, als sie an die Macht kamen, ihren gesamten Besitz vernichteten, und sie mit ihrer Gefährtin Lida G. Heymann in die Schweiz flüchten musste, sind zum Glück noch Fotos und Textdokumente erhalten. Die werden seit einigen Jahrzehnten mühsam von feministischen Historikerinnen ausgegraben. Ingvild Richardsen gelang nun ein besonderer Fund: Sie hat nicht nur bisher unbekannte Details aus dem sehr bewegten Leben von Augspurg ans Licht geholt, sie zeigt sie auch im Kontext ihres Aufbruchs innerhalb der künstlerischen Avantgarde von München – zu deren Kern und Inspiratorinnen die Frauenrechtlerin gehörte.
1886 siedeln zwei junge Frauen aus Dresden zusammen in die bayerische Residenzstadt München über: Die 28-jährige Anita Augspurg und die 21-jährige Sophia Goudstikker. Sie beziehen gemeinsam eine Wohnung und lassen sich den Winter über zu Fotografinnen ausbilden. Wer sind diese Frauen? Und vor allem: Wer ist die eine?
Anita Augspurg wird am 22. September 1857 in Verden (Niedersachsen) als jüngstes von fünf Kindern des Hannoveraner Obergerichtanwalts Wilhelm Augspurg und seiner Ehefrau Auguste Langenbeck geboren. Die Vorfahren ihrer Eltern sind seit Generationen als Juristen, Theologen und Mediziner tätig. Anita ist ein fantasievolles und sehr intelligentes Kind. Bereits mit vier Jahren kann sie schreiben und lesen. Sie verschlingt Märchen, versenkt sich in Ritter- und Heldengeschichten, identifiziert sich vornehmlich mit den männlichen Helden ihrer Abenteuerbücher. Verknüpft damit entwickelt sie ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl.
1864 wird Anita in die 1839 gegründete Pensions- und Unterrichtsanstalt für Töchter in Verden eingeschult. Als sie 16 ist und die Schulzeit endet, beginnt ein fünfjähriges Martyrium: Das „Höhere-Tochter-Spielen“, „ein Drohnen-Dasein ohne sinnvolle Betätigung“. Zweck ist die Vorbereitung auf einen Ehemann, um perfekt versorgt zu sein. „Höhere Tochter“ zu sein, bedeutet damals auch, in die „Gesellschaft“ eingeführt zu werden, Bälle zu besuchen und nach passenden Männern Ausschau zu halten.
Anita Augspurg hat absolut kein Interesse an all dem. Rückblickend äußert sie sich Jahrzehnte später so dazu: „Die heutige weibliche Generation kann sich von solcher Zumutung kaum noch eine Vorstellung machen, denn, von seltenen Ausnahmen abgesehen, ist das ‚Höhere-Tochter-Spielen‘ eine überlebte Institution geworden, aber sie hat den Töchtern des Bürgerstandes und des Adels unendlich viel stilles Leid, qualvolle Stunden bis zur völligen Verzweiflung gebracht, und der Gesamtheit gingen viel wertvolle Kräfte verloren – bis selbstsichere Naturen sich nicht mehr überlieferten Traditionen stillschweigend beugten, sondern sich mit Erfolg auflehnten und eigene Wege gingen.“
Anita flüchtet sich in eine Doppelexistenz – „das äußerliche Leben vollzog sich völlig getrennt vom innerlichen”. Heimlich unternimmt sie schriftstellerische Versuche. Als sie mit 21 volljährig wird, geht sie nach Berlin und lässt sich zur Lehrerin ausbilden. Sie wohnt bei zwei Musiklehrerinnen in Pension, die ihre Theaterleidenschaft unterstützen und ihr Freikarten für Konzert- und Theaterbesuche geben. Nebenbei nimmt sie Schauspielunterricht bei der bekannten Sängerin und Hofschauspielerin Johanna Frieb-Blumenauer. Anita hat perfekte Voraussetzungen aufzuweisen: immense Kenntnisse der dramatischen Literatur, ein ausdrucksstarkes Gesicht und eine herausragend schöne, dunkle Stimme.
Sie ist 22 Jahre alt. Das Glück will es, dass sie nun über ein großmütterliches Legat verfügen kann, das sie finanziell unabhängig macht. Vor den Eltern geheim gehalten, beendet sie 1881 auch ihre Ausbildung zur Schauspielerin. Ihr erstes Engagement erhält sie an der renommierten Meininger Hofbühne, mit der sie auf Tournee geht. Es folgen Stationen an den Theatern in Riga und Amsterdam, am Altenburger Hoftheater und in Dresden.
1885 kehrt sie dem Theater den Rücken. Schon länger spielt Anita Augspurg mit dem Gedanken, selbst am Wandel der Dinge in Staat und Gesellschaft mitzuwirken. Längst ist ihr bewusst, „mit welchen Schranken und Sperrgittern die Lebenschancen für das weibliche Geschlecht umhegt waren“. Sie beginnt, sich mit der Stellung der Frauen zu beschäftigen. Vorübergehend wohnt sie bei ihrer Schwester Amalie in Dresden, die hier eine Malschule führt. In dieser Malschule lernt sie Sophia Goudstikker kennen: „Diese war ein gescheites, künstlerisch begabtes und geschäftstüchtiges Mädchen.“
München genoss damals den Ruf, eine der bedeutendsten Kunstmetropolen Europas zu sein. Tatsächlich lebten um 1900 in der Maxvorstadt und in Schwabing die bekanntesten KünstlerInnen, SchriftstellerInnen und Frauenrechtlerinnen des deutschen Reiches, bewegten sich hier in den unterschiedlichsten literarischen, künstlerischen und lebensreformerischen Kreisen, die oft nur wenige Straßenzüge voneinander entfernt lagen oder sich auch überschnitten. Durch diese kreative Dichte entstand in München ein einzigartiges Soziotop. „Ab nach München!“ hieß es im In- und Ausland. Man war damals davon überzeugt, dass der Aufbruch zum „neuen Menschen“, der Aufbruch in die „Moderne“ nur hier erfolgen würde.
1886, als Anita Augspurg und Sophia Goudstikker nach München kommen, hat seit dem 10. Juni Prinz Luitpold die Regentschaft in Bayern inne, sein Neffe König Ludwig II. ertrinkt drei Tage später im Starnberger See. Im November quartieren die beiden Frauen sich bei Bekannten ein und gehen von dort aus auf Wohnungssuche.
Während des Winters lassen sie sich in einem fotografischen Atelier in Technik und Betrieb ausbilden. Bereits ein halbes Jahr später eröffnen sie das Atelier Elvira. Die Geldmittel hierfür hat Anita Augspurg aufgebracht. Am 13. Juli 1887 findet sich in den Münchner Neuesten Nachrichten die folgende Anzeige: „Neu eröffnet Atelier Elvira. Photographische Anstalt von Anita Augspurg und Sophia Goudstikker. München, v. d. Tannstrasse 15 parterre. Aufnahmen täglich von 8 – 6 Uhr. Specialität: Kinderaufnahmen.“
In München erregt das frischeröffnete Atelier Elvira, insbesondere die „Neuigkeit der weiblichen Leitung und Ausübung der Photographie“, großes Aufsehen. Tatsächlich begleiten viele Vorurteile Unternehmensgründungen von Frauen. Um was für Frauen es sich bei den beiden Fotografinnen tatsächlich handelt, muss sich rasch herumgesprochen haben. Weder hielten sich Anita Augspurg und Sophia Goudstikker mit ihrer Ablehnung überlieferter bürgerlicher Frauenrollen zurück, noch verschleierten sie, dass sie in gleichgeschlechtlicher Partnerschaft lebten. Im Gegenteil, sie trugen ihre Gesinnungen offen zur Schau: Ihre Haare tragen sie kurz. „Tituskopf“ nannte sich das damals. Sie kaufen einen Hund, Pferde und Fahrräder. Sie machen die Fahrradprüfung und reiten im Herrensitz durch den Englischen Garten. Außerdem tragen sie merkwürdige Reformkleidung, Radlerhosen und lange fließende Gewänder aus Samt oder auch männlich geschnittene Kleidung. Optisch und von ihrem Verhalten her verkörpern sie einen völlig neuen Typ Frau.
Das Selbstbewusstsein, mit dem die beiden Neu-Münchnerinnen von Anfang an als unverheiratete Geschäftsfrauen auftreten, und die Art, wie sie sich über alle geltenden Vorstellungen von dem, wie eine bürgerliche Frau auszusehen und sich zu verhalten hat, hinwegsetzen, ist selbst im liberalen München ein Novum. Ihr Auftreten „gab Spießbürgern und Neidern hinlänglichen Stoff zu allem möglichen Klatsch, der aber die beiden Frauen nicht nur völlig kalt ließ, sondern sie höchlichst amüsierte, was den Neid nicht eben minderte,“ heißt es im Rückblick.
Während es anfänglich eher Skandalcharakter hat, sich oder seine Kinder von diesen beiden unkonventionellen Frauen fotografieren zu lassen, wendet sich das Blatt schnell ins Gegenteil: Bald gilt ein Besuch im Elvira als äußert modern und angesagt. Durch die guten Kontakte von Anita Augspurg zur deutschen Theaterszene tummeln sich Schauspieler und Opernsänger vor ihren Kameras. Die Männer wollten bedeutend vornehm aussehen, die Frauen schön. Das Atelier Elvira zeigte Frauen erstmals auch charaktervoll. Überlieferte Fotos zeigen, dass sich auch Hedwig Dohm dort fotografieren ließ.
Neben dieser bürgerlichen Frauenbewegung entsteht im 19. Jahrhundert eine Bewegung der Arbeiterinnen innerhalb der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeitervereinigungen. Anita Augspurg resümiert später: „Frauen begannen sich spürbar zu regen. Kampf setzte ein, und zwar nicht nur der Kampf mit der Umwelt im Männerstaate, sondern in der deutschen Frauenwelt selbst, wo sich nun Ende der 1880er Jahre zwei Richtungen gegenüberstanden: die konservative und die radikale. (...) Die konservative wollte, immer unter Betonung der Andersartigkeit des weiblichen Geschlechts, den Frauen Bildungs- und Berufsmöglichkeiten schaffen, um ihnen stufenweise über soziale Tätigkeit in der Gemeinde das Hineinwachsen in eine helfende und unterstützende Betätigung im bestehenden Männerstaate zu ermöglichen. (...) Anders die radikale Richtung! Sie bestritt einfach unter Hinweis auf die unbefriedigenden Zustände in Staat und Gesellschaft den Männern das Alleinbestimmungsrecht.“
Ende 1889 werden Anita Augspurg und Sophia Goudstikker Mitglieder im Weimarer Frauenverein Reform. Ende November des Jahres war in der Münchner Stadtzeitung ein Artikel über den im Vorjahr von Hedwig Kettler gegründeten Verein erschienen, der das Universitätsstudium für Frauen propagierte. „München weist leider kein Vorstandsmitglied des Vereines auf“, hatte die Redaktion in dem Artikel bedauert.
Es ist ein Spezifikum der 1890 in München einsetzenden Frauenbewegung, dass sie von Anfang an in engstem Austausch steht mit den Vertretern der künstlerischen und literarischen Moderne und damit von Anbeginn auch Männer involviert sind. Max Halbe hält in seinen Lebenserinnerungen fest, dass der „herrschende Typus jener Frauengeneration der 1890er Jahre, jedenfalls derjenige, der in der Öffentlichkeit mitredete“, die Frauenrechtlerin, die Emanzipierte war: „Ihr also mußte gefallen, was literarisch mitzählen wollte. Gehirn- und Zwitterwesen etwa vom Schlage einer Anita Augspurg gaben in jenen ästhetischen Damenzirkeln den Ton an.”
Der Intellektuelle gilt als neuer Typus der Moderne, dessen Existenz aber von der Emanzipation abhängt. Max Halbe bringt diese Symbiose wie folgt auf den Punkt: „Die Emanzipierte und der Intellektuelle. Ein Paar was sich gesucht und gefunden hatte. Der buntseidenen Modeweste auf der männlichen Seite entsprach in einer bemerkenswerten
Umkehrung der Geschlechtsmerkmale das schmucklose, puritanische Hängekleid auf der weiblichen. Hier Vermännlichung. Dort Verweiblichung.“
Festzuhalten ist: Um die Forderungen und Ziele der Frauenbewegung populär zu machen, setzt Anita Augspurg von Anfang an auf die Wirkung von Literatur, auf Lesungen revolutionärer Werke. Tatsächlich war sie der Auffassung, dass der Revolution mit dem Buch und der Feder eine Pionierrolle zukam, wenn es um die Durchsetzung politischer Ziele ging. Dies hat sie später so auf den Punkt gebracht: „Die grossen Ideen, die zu jener Zeit ausgesprochen wurden, sind dasjenige gewesen, was zumeist gewirkt hat. Bücher wie ‚Die Hörigkeit der Frau‘ von Stuart Mill, ‚Der Frauen Natur und Recht‘ von Hedwig Dohm, ‚Die Osterbriefe‘ von Fanny Lewald, ‚Die Frauen und ihr Beruf‘ von Luise Büchner, haben die Masse vorwärts gebracht – nicht die vorsichtig tastende, immerzu Concessionen und Compromissen bereite und den Heiland bei jedem Hahnenschrei verleugnende Vereinstätigkeit, die vielmehr den Beweis geliefert hat, dass meistens nicht mal ihre Leiterinnen den Geist des neuen Evangeliums erfasst haben.“
Anita Augspurg dichtete und schrieb auch selbst: „Schon in der Kindheit wurde im geheimen – man hütete das vor den Augen der Erwachsenen wie ein Heiligtum – geschrieben und gedichtet. Später wurden manch treffende Gelegenheitsgedichte und Knittelverse gemacht, voll köstlichen Humor oder beißendem Spott – Studentinnenlieder, eine Hymne auf das Frauenstimmrecht. Nichts blieb erhalten, alles wurde 1933 von den Nazis vernichtet“, wird sie 1941 in ihren Lebenserinnerungen schreiben.
Anita Augspurg beginnt damit, auf Anregung von Hedwig Kettler auch außerhalb von München Vorträge zu halten und in ihnen für die Anliegen der Frauenbewegung zu werben. Wegweisend ist die Rede, die sie im September 1892 im großen Saal des Karlsruher Rathauses hält: „Warum fordern wir die Erschließung der Universität für die Frau“. In der Karlsruher Zeitung ist man von ihr als Person, ihrer Erscheinung, ihrer Stimme und Eloquenz hoch beeindruckt: „Am Samstag Abend hörten wir im Rathhaussaale eine Dame Selbstgedachtes vor tragen, eine eigene Ansicht und eine selbständige Ueberzeugung mit dem Muthe eines männlichen Redners vertreten. Eine entschlossene und rührige Kämpferin für die Frauenemanzipation, Fräulein Anita Augspurg aus München (...) Sie war eine sehr sympathische Erscheinung mit einem prachtvollen Organ, um das sie von der Heroine jedes Theaters beneidet werden könnte, eine Dame mit einem pikanten Tituskopf, einem scharf und fein geschnittnen Gesichtchen. Auch die Vortragsart war, wie das ganze Wesen der Dame, frisch und temperamentvoll, der Stil von einer vorzüglichen Eleganz.“
Intellektuellen- und Künstlerkreise debattieren über die Gesellschaft der Zukunft, in der auch Frauen ihren Platz einnehmen sollen. Diese Zirkel vernetzen sich mit der Frauenbewegung und schaffen dieser zugleich damit eine Möglichkeit, publizistisch in die Öffentlichkeit zu treten.
Die unabhängige Frau wird in diesem Jahr zum Inbegriff des Modernseins. Anita Augspurg setzt 1893 ihren Kampf für Bildung, Hochschulstudium und das Recht der Frau fort. Erstmals systematisiert sie ihre Gedanken in „Die ethische Seite der Frauenfrage“. Sie ist überzeugt, dass der gesellschaftliche und kulturelle Fortschritt von der tatsächlichen Anerkennung der Frau als „Vollmenschen“ abhängt. Dass die Leistungsfähigkeit der Frauen gesellschaftlich nicht genutzt wird, sieht sie als großes Vergehen gegen die Gesellschaft an.
Ihre Rede im Karlsruher Rathaus, ihr Plädoyer für die Gründung von Mädchengymnasien, war folgenreich. Karlsruhe gebührt der Ruhm, dass hier unter dem liberalen Regierungsstil des Großherzogs Ernst Ludwig von Hessen am 16. September 1893 das vom Weimarer Verein Frauenbildungsreform organisatorisch getragene und finanziell unterstützte erste Mädchengymnasium des Deutschen Reiches feierlich eröffnet wird. Mit sechs Klassen wird es fortan junge Frauen auf ein Hochschulstudium vorbereiten. Der badische Kultusminister garantiert, dass die hier abgelegen Abiturprüfungen zum Studium an allen deutschen Hochschulen berechtigen.
Weil Anita Augspurg einen großen Anteil an diesem Erfolg hat, hält sie auch eine der Eröffnungsreden. In ihrer Schlussansprache fordert sie eine aktive Rolle der Frauen bei der Gestaltung des öffentlichen Lebens ein: „Denn der Gang der Geschichte will es und die sozialen Aufgaben heischen es, daß die Frau auf dem Kulturplatze erscheine und daß Frauenhände eingreifen in das Gestalten der sozialen Verhältnisse.“
Anita Augspurg erfährt aber auch weiterhin Gegenwind. Konservative Kreise lehnen ihre Aktivitäten ab und die Münchner Polizeidirektion geht nach ihren Recherchen über den Weimarer Frauenverein jetzt offiziell gegen sie und den Münchner Ableger des Vereins vor. Als die Berliner Frauenrechtlerin Käthe Schirmacher sich bei Anita Augspurg erkundigt, ob sie in München einen bezahlten Vortrag halten könne, schreibt diese zurück, dass der Verein Frauenbildungsreform in München „offiziell vollkommen impotent (sei), da wir politisch verboten, als staatsgefährdenden Bestrebungen huldigend, uns als geschlossenes Ganzes nicht sehen lassen dürfen“.
Auch wenn die Frauenbewegung offiziell in München gestoppt ist –Frauintern trifft sich der Kreis um Anita Augspurg und Sophia Goudstikker weiter und berät das weitere Vorgehen. Käthe Schirmacher stößt trotz der Absage doch noch dazu und schreibt im Rückblick: „Es war zum Tollwerden schön. Und gute Gesellen dabei, dieser freie studentische Ton, das gemütliche Heim, das lockte, die Musik, die man machte – auch Violine war dabei: jetzt haben wir eine tüchtige Klavierspielerin hier (...), die eine liegt auf dem Divan, die andere auf der Erde, jetzt lacht, dann schweigt man, wer rauchen will, verkräuselt ein Zigarettchen (...) Anita Augspurg liest vor, Goethe, Heine, dazu lustige Einfälle.“ Gemeinsam planen sie, wie sie die Polizei an der Nase herumführen wollen.
Während das Atelier Elvira weiterhin floriert, beginnen sich die Wege von Anita Augspurg und Sophia Goudstikker zu trennen. Anita geht nach Zürich.
Tatsächlich ist ein Universitätsstudium für Frauen spätestens seit 1867 in der Schweiz möglich. Neben Russinnen stellen deutsche Frauen das stärkste Kontingent ausländischer Studentinnen dar. Die Universität Zürich verhilft damals vielen Frauen zur Promotion, auch Rosa Luxemburg. Auffällig ist, dass der Großteil der Frauen, die in den 1890er Jahren in Zürich promovieren, in der modernen Frauenbewegung aktiv ist: Gertrud Bäumer, Käthe Schirmacher, Ella Mensch und Frieda Duensing.
Es wird Anita Augspurg sein, die noch vor Rosa Luxemburg ihre Promotion abschließen und die erste Juristin im Wilhelminischen Kaiserreich sein wird. Sie findet, dass sich deutsche Frauen endlich juristische Kenntnisse aneignen müssen, um nicht länger auf männliche Beratung, Kompetenz und Stellvertretung angewiesen zu sein. Wichtiges steht an: Ein Vierteljahrhundert nach der Reichsgründung (1871) soll ein neues Bürgerliches Gesetzbuch geschaffen werden. Zum ersten Mal wollen die Frauen ihre Ansprüche auf Berücksichtigung und Gleichstellung im Zivilrecht anmelden. Sie planen Zentren für Agitation und Aufklärung.
Überzeugt davon, dass die Frauenbewegung ohne Kenntnisse des Zivil- und Staatsrechtes dilettantisch bleibt, tritt Anita Augspurg ihr Jurastudium an. Zur Immatrikulation an der Zürcher Universität genügte damals ein Zertifikat für Unterrichtsbefähigung an höheren Mädchenschulen. Ein solches besitzt sie. Sie mietet sich ein Zimmer in der Pension Rosenberg und schreibt sich zunächst für zwei Vorlesungen ein. Am 7. November schreibt sie an Hedwig Kettler: „Was nach empfangenen Aichzeichen, alias Dr. jur. aus mir werden soll, weiß ich nicht. Bewahrheitet sich das, was Frau Dr. Kempin behauptet, daß ich als Winkeladvokat in Deutschland Amtsgerichtspraxis führen kann, so bin ich damit zufrieden, wo nicht gehts nach Amerika. Mir wird das heimische Schneckengehäuse sowieso immer zu eng zum Ekel.“
Die von Anita Augspurg erwähnte Emilie Kempin ist die erste Juristin der Schweiz. Sie lehrt seit 1892 in Zürich römisches, englisches und amerikanisches Recht und ist deshalb in ganz Europa eine Sensation. Schon länger steht auch sie in Kontakt mit der deutschen Frauenbewegung, ist Ehrenmitglied des Berliner Vereins Frauenwohl. Emilie Kempin ist in den ersten Semestern Anita Augspurgs großes Vorbild und ihre Lehrerin. Sieben Semester wird sie mit Unterbrechungen in Zürich verbringen. In den Semesterferien hält sie sich meist in München auf, wo sie weiterhin mit Sophia Goudstikker zusammenwohnt.
Am 28./29. März 1894 wird in Berlin im Lettehaus der Bund deutscher Frauenvereine (BDF) gegründet nach dem Vorbild des seit 1888 existierenden National Council of Women. Auch Anita Augspurg ist anwesend. In einer nicht unumstrittenen Entscheidung schließt der BDF von Anfang an die sozialdemokratischen Frauenvereine von der Mitgliedschaft aus. Anita Augspurgs Haltung dazu ist widersprüchlich. Zum einen kritisiert sie diese Ausgrenzung, zum anderen hatte auch sie eine Zusammenarbeit des Weimarer Vereins Frauenbildungsreform mit den Sozialdemokraten abgelehnt.
Was Augspurg an den Sozialdemokraten stört, ist die Inkaufnahme einer blutigen Revolution. Im September 1896 wird sie sich auf dem Internationalen Frauenkongress in Berlin – in persönlicher Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratin Klara Zetkin, die die „Frauenrechtlerei“ und das „Petitionsheldentum“ der bürgerlichen Frauen stets höhnisch kommentiert hat – so zum Thema Revolution und Sozialdemokratie äußern: „Endlich muss ich Frau Zetkin noch einer schneidenden Inkonsequenz zeihen, wenn sie glaubt, durch die Bluttaten einer Revolution aller Segnungen höherer Kultur herbeizuführen. Blutvergießen, Greuelthaten können immer nur auf lange Zeit die Keime einer segensbringenden Entwickelung hemmen und hinausschieben.“
Anita Augspurg vertritt den Standpunkt, dass für den „Kampf um Frauenbefreiung“ in Deutschland weder die konfessionellen Frauenvereine geeignet sind noch die Vereine der deutschen Arbeiterinnen. Beide sieht sie unter einer Vormundschaft: die konfessionellen Vereine unter der Herrschaft der Kirche, die sozialdemokratischen Frauen unter der männlichen Vormundschaft der Partei. Die wahre Befreiung der Frau kann nur mit Vereinen erkämpft werden, die selbst unabhängig und parteilos sind. Das Problem der Sozialdemokratie besteht für sie darin, dass die Frauenfrage hier an den Klassenkampf gebunden ist, was dazu geführt habe, „daß die Masse der sozialdemokratischen Männer und Frauen in Deutschland, wie in anderen Ländern für die bürgerliche Frauenbewegung keine Sympathie bekundete, ihr eher feindlich gegenüberstanden“.
Ein Sozialdemokrat, der große Sympathie für die bürgerliche Frauenbewegung hat und sie auch verdeckt unterstützt, ist der bayerische Landtagsabgeordnete Georg von Vollmar, mit dem Anita Augspurg und der Kreis der Münchner Frauenrechtlerinnen in engem Austausch steht. Es ist Georg von Vollmar, der am 7. März 1894 im Bayerischen Landtag einen Vorstoß bezüglich des Frauenstudiums startet und dabei an die 1893 erfolgte Eröffnung des Mädchengymnasiums in Karlsruhe erinnert, an der Anita Augspurg beteiligt war. Nur wenige Wochen später, am 9. Mai 1894, wird in München immerhin ein Verein zur Gründung eines Mädchengymnasiums ins Leben gerufen.
Kaum hatte sich Anita Augspurg Ende 1893 an der Universität Zürich eingeschrieben, beteiligte sie sich an der Gründung des Schweizerischen Vereins Frauenbildungsreform. Hier findet sie einen Kreis gesinnungsverwandter, radikaler Frauenrechtlerinnen, mit denen sie fortan auch in der Schweiz für die politische Gleichberechtigung der Frauen kämpfen wird.
Von Anfang an beschränken sich die Aktivitäten der Zürcher Frauenrechtlerinnen nicht nur auf den Bildungsbereich, man kämpft hier auch für die politische Gleichberechtigung. Außerdem setzt man hier das Theater zu Propagandazwecken ein – vermutlich eine Idee Anita Augspurgs. Zu der vom Verein organisierten Theateraufführung „Ein Handschuh“ von Björnstjerne Björnsons im Zürcher Stadttheater im März 1895 dichtet sie einen Prolog, den sie unter großem Erfolg selbst im Theater vorträgt, und gewinnt damit manchen, „der im Grunde anders denken mochte“. Die Zürcher Frauenrechtlerinnen wollen: eine andere gesellschaftliche Moral, eine andere Ehegesetzgebung und politische Rechte für Frauen. Im Juni 1894 berichtet Anita Augspurg aus Zürich an Hedwig Kettler nach Weimar: „Für hier haben wir für nächsten Winter bereits ersten Sturmlauf aufs Wahlrecht geplant, beneidenswertes Land, nicht wahr?“
Doch Anita Augspurg ist auch noch mit einer anderen Aufgabe beschäftigt: Die Juristin Emilie Kempin, die 1894 als erste Frau dem Schweizerischen Juristenverein beigetreten ist und gerade an den Verhandlungen zum geplanten Schweizerischen Zivilgesetzbuch teilnimmt, hat sie damit beauftragt, eine Stellungnahme zum Eherecht des Zivilgesetzbuches zu schreiben – aus Sicht der Frauen. Im August des Jahres erhält der Schweizer Juristenverein Augspurgs Abhandlung.
Absender ist der Schweizer Verein Reform – und dieser verbreitet ihre Stellungnahme noch weiter. Im September schreibt Anita Augspurg an Hedwig Kettler: „Unsere Schweizer Eingabe ist über die ganze Schweiz als Flugblatt verteilt worden, in 700 Exemplaren an die Bundesrichter und sämtliche Teilnehmer am Juristentage versandt, und – die verlangte Gütertrennung als normaler Vermögensstand hat wirklich Anklang gefunden gegen den ‚Entwurf‘.“
In München haben Anita Augspurgs Mitstreiterinnen in der „Gesellschaft zur Förderung geistiger Interessen der Frau“ das Ruder fest in der Hand, an vorderster Stelle Sophia Goudstikker, Ika Freudenberg, Emma Merk, Marie und Martha Haushofer. Im Zentrum der hiesigen Avantgarde-Szene steht weiterhin das Atelier Elvira, die Münchner Keimzelle der Frauenbewegung.
Im Januar 1895 erscheint in Berlin die erste Nummer der Zeitschrift Die Frauenbewegung. Herausgegeben wird sie von Minna Cauer und Lily von Gilzycki, die Mitglieder im Berliner Verein Frauenwohl sind. Von Zürich aus schickt ihnen Anita Augspurg einen Beitrag mit dem Titel: „Gebt acht, solange noch Zeit ist!“ Den Artikel hat sie in Hinblick auf das neue Bürgerliche Gesetzbuch geschrieben, das 1896 verabschiedet werden soll. Er schließt mit einem flammenden Aufruf zu Protest und Kampf gegen den vorliegenden Entwurf, vor allem gegen das geplante Eherecht: „Um unsere bisherigen Ehegesetzgebungen kurz zu charakterisieren (...) stehen dieselben durchweg auf dem Standpunkte, dasjenige Maß von Unrecht zu normieren, welches man, ohne mit ihnen in Konflikt zu geraten, seiner Ehefrau zufügen darf.“
Von Zürich aus rüstet sich Anita Augspurg für den politischen Kampf. Das bevorstehende Wintersemester will sie in Berlin verbringen, weil die Königliche Friedrich-Wilhelms-Universität für dieses Semester erstmals Frauen als Gasthörerinnen zugelassen hat; Voraussetzung sind eine schriftliche Genehmigung des Rektors, des Kultusministers und eine persönliche Genehmigung des vortragenden Professors. Als Anita Augspurg im Herbst in Berlin ankommt, wird sie auch noch Mitglied im Verein Frauenwohl. Sie referiert über den Entwurf des geplanten Bürgerlichen Gesetzbuches.
Hingerissen von Anita Augspurg beschließt der Berliner Verein Frauenwohl sie gegen das erste Bürgerliche Gesetzbuch auf eine Agitationsreise durch das Wilhelminische Kaiserreich zu schicken. In möglichst vielen Städten soll sie die Frauen über die Rechtslage aufklären. Im Herbst 1895 schreibt sie an Hedwig Kettler, sie habe ihren Vortrag „bereits in einigen Städten: Dresden, Breslau, Danzig, Königsberg gehalten, werde ihn im Lauf der nächsten Zeit aber noch viel öfter halten, z. B. in München, Ulm, Stuttgart, Potsdam, Berlin, Wiesbaden, Hamburg etc. (...), das Thema des event. Vortrages lautet: ‚Die Frau im Entwurf des neuen Bürgerl. Gesetzbuches‘.“ Anita Augspurgs Kritik am Entwurf des BGB gilt dem Familienrecht. Sie findet es juristisch eine Frechheit, dass dem Ehemann das Entscheidungsrecht in allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten zugestanden wird. Sie ist überzeugt davon, dass nur die „Wahrung des Männerinteresses (...) der Vater solcher juristischer Mißgeburten“ sein kann. Unter einer solchen Gesetzgebung, so wird Augspurg in ihrer Rede auf einer vom Verein Frauenwohl einberufenen Volksversammlung in Berlin Anfang 1896 kundtun, bedeutet die Ehe den bürgerlichen Selbstmord für die denkende Frau.
Anita Augspurg ist erschöpft von ihrer Vortragsreise und dem anstrengenden Leben in Berlin. Nach ihrem Gastsemester will sie im Frühjahr 1896 nach München zurückkehren, um auch hier ein Gastsemester zu absolvieren. Ihr Antrag wird jedoch von der Münchner Universität abgelehnt. Die Fakultät hat nicht nur grundsätzliche Bedenken gegen das Jurastudium von Frauen, sie lehnt auch Anita Augspurg als Person ab. Ihre bisherige „Reihenfolge der Vorlesungen“ entspreche nicht den Anforderungen an einen „geordneten juristischen Studiengang“, außerdem habe sie durch Agitation gegen den Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches „in nicht vorteilhafter Weise von sich bekannt gemacht“.
Anita Augspurg arbeitet weiterhin eng mit der Münchner Gesellschaft zusammen. Sie operiert nun im Hintergrund, macht Vorschläge, arbeitet Anträge aus, die die Gesellschaft an den Berliner Reichstag schickt. Dort reagiert man verblüfft auf „unverfrorene“ Ansinnen aus München. Anita Augspurg hält im April 1896 in einem Brief fest: „Habe auch hier diese verflossenen 4 Wochen wieder tapfer in unserer Protestsache gearbeitet. Jetzt sitzen die weisen Männer + brüten über unseren unverfrorenen Anträgen, die sie sich wahrscheinlich aus der ‚gemässigten Münchener Frauenbewegung‘, die im Plenum des Reichstages soviel Anklang und Sympathie gefunden hat, in dieser Weittragfähigkeit nicht vorgestellt hatten. So mancher sieht aus einem harmlos aussehenden Hühnerei einen jungen Drachen ausschlüpfen.“
Im Sommer 1896 wird das Bürgerliche Gesetzbuch in zweiter und dritter Lesung gegen die Stimmen der SPD vom Reichstag gebilligt. Die wesentlichen Forderungen der Frauen bleiben unberücksichtigt.
Deutschlands Frauenrechtlerinnen setzen ihren Kampf fort. Bereits im September 1896 tagt in Berlin im Roten Rathaus der erste Internationale Kongress für Frauenwerke und Frauenbestrebungen. Organisiert hat ihn eine kleine Gruppe von Frauen, die sich seitdem als die „Radikalen in der Frauenbewegung“ verstehen. Als Vortragsrednerin für den „Rechtstag“ ist Anita Augspurg nominiert, die über „Die Frau und das Recht“ spricht. Im Publikum sitzt auch die junge Lida Gustava Heymann. Sie, die Anita Augspurgs zweite Lebenspartnerin werden wird, erlebt die Rede wie eine Befreiung: „Die ersten Worte, die ich von Anita Augspurg vernahm, lauteten: ,Wo ist das Recht der Frau?‘ Diese mit Kraft und selten klangvoller Stimme in den mächtigen Saal gerufene Frage traf mich tief, ließ mich aufhorchen und aufschauen. Am Rednerpult stand ein Mensch in an griechische Art erinnerndem Gewände aus braunem Sammet. (...) Die Klarheit ihrer frei gehaltenen Rede, die Schärfe ihrer Beweiskraft und hernach in der Diskussion die kompromißlose Verteidigung der von ihr aufgestellten, von anderen angezweifelten Behauptungen – das alles imponierte mir restlos. Hier vereinte sich starkes Selbstbewusstsein mit einer völlig natürlichen, uneitlen Art sich zu geben.“
Anita Augspurg ist zum Wintersemester 1896/97 nach Zürich zurückgekehrt. Als sie sich bei dem Staatsrechtler Gustav Vogt zur Promotion anmeldet, ist er erstaunt: „Schon jetzt?“, fragt er. „Rosa Luxemburg studierte zehn Semester, ehe sie sich zur Ablegung der Prüfung meldete.“
Anita Augspurg arbeitet schnell und konzentriert. Auch, weil das deutsche BGB, dessen Entwurf unverändert genehmigt worden ist, zum Jahrhundertbeginn in Kraft treten soll und die Zeit zur weiteren Agitation gegen die familienrechtlichen Zurücksetzungen der Frauen drängt. In ihrer Doktorarbeit „Über die Entstehung und Praxis der Volksvertretung in England“ vertritt sie die These, dass die Staatsbildung selbst nur aus dem Willen eines ganzen Volkes kommen kann, was impliziert, dass die Frauen, als unverzichtbarer Teil des Volkswillens, an der Staatsleitung beteiligt sind. Im Juni 1897 reicht Anita Augspurg an der staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich ihre Doktorarbeit ein. Die Arbeit wird angenommen. Im Juli wird sie zur mündlichen Prüfung zugelassen und erhält die Note rite (genügend). Anita Augspurg ist die erste promovierte Juristin im Wilhelminischen Kaiserreich. Auf der Rückfahrt nach München reist sie über Burg Syrgenstein, wo sie mit Feuerwerk und Böllerschüssen gefeiert wird.
In Berlin angekommen wendet sie sich weiter dem radikalen Flügel der Frauenbewegung zu. Sie orientiert sich an der von ihr bewunderten Minna Cauer, die als führender Kopf der radikalen Richtung gilt. Mit ihr arbeitet sie nun eng zusammen. Die 56 Jahre alte Cauer ist Mitbegründerin und 1. Vorsitzende des Berliner Vereins Frauenwohl. Außerdem ist sie die Herausgeberin der Zeitschrift Frauenbewegung. Bald arbeitet Anita Augspurg im Vorstand des Vereins mit, hilft Minna Cauer bei der Herausgabe der Zeitschrift, in der sie auch regelmäßig als Autorin vertreten ist.
Augspurg und Cauer werden zu den führenden Köpfen der radikalen Frauenbewegung, treten öffentlich auch als Paar auf. Sie gehen im Reichstag ein und aus, berichten über die politische Arbeit. Sie halten Reden, leiten Diskussionen, verfassen zusammen Petitionen und organisieren deren Verbreitung. Einfallsreich und mutig bauen sie eine radikale, außerparlamentarische Opposition von Frauen auf – was im politischen Leben des Kaiserreichs weder vorgesehen noch erwünscht ist.
Anders als in der politischen Zusammenarbeit lockert sich die persönliche Beziehung der beiden Frauen aber bereits nach einem Jahr wieder, was für Minna Cauer eine herbe Enttäuschung ist. Sie, die ein Kind und zwei Ehemänner verloren hat, hatte gehofft, in Anita Augspurg einen ihr zugehörigen Menschen gefunden zu haben.
1899 hat Anita Augspurg den nunmehrigen Münchner Verein für Fraueninteressen als Mitglied verlassen. Definitiv schließt sie sich jetzt dem „radikalen Flügel“ der Frauenbewegung an, dem sie sich schon seit mehreren Jahren stark zugewandt hat. Von der Gründung des Deutschen Vereins für Frauenstimmrecht (DVF) im Jahr 1902 an gilt ihr Kampf – zusammen mit ihrer neuen Lebenspartnerin Lida Gustava Heymann – nun national und international dem Frauenwahlrecht und dem Pazifismus; sie, Heymann und Minna Cauer, konnten den DVF aufgrund einer liberalen Vereinsgesetzgebung in Hamburg aus der Taufe heben. An einer kurz darauf folgenden Kundgebung in Berlin nehmen bereits rund 1.000 Frauen und Männer teil.
Zusätzlich versucht Anita Augspurg, Politik im Rahmen einer Partei zu betreiben. Zusammen mit Heymann tritt sie 1903 der Hamburger Freisinnigen Volkspartei (FVP) bei. 1904 wird Anita Augspurg Mitbegründerin und 2. Vorsitzende des Weltbundes für Frauenstimmrecht. An der Gründungskonferenz des Weltbundes, die in Berlin stattfindet, nehmen Frauen aus diversen Ländern teil.
Seit 1904 lebt sie in fester Gemeinschaft mit Lida Gustava Heymann in Irschenhausen und München. 1907 kaufen sie zusammen den Gutshof „Siglhof“ in Peissenberg. Hier sind sie, wie zuvor schon in Irschenhausen, auch als Landwirtinnen tätig und versuchen sich im ökologischen Anbau.
Ab 1908 wohnen sie wieder in München, in der Kaulbachstraße 12. In diesem Jahr tritt Anita Augspurg aus der FVP aus, weil die Partei sich weigert, die Forderung nach dem Frauenstimmrecht in ihr Programm aufzunehmen. Sie und Heymann unterstützen nun die englischen Suffragetten. Als 1908 ein neues Reichsgesetz den Frauen erstmals erlaubt, Mitglied in politischen Vereinen zu werden, wird Anita Augspurg Mitbegründerin und 1. Vorsitzende des Bayerischen Vereins für Frauenstimmrecht.
Als 1911 der erste Internationale Frauentag stattfindet, wird das Frauenwahlrecht in den Folgejahren zu einem zentralen gesellschaftlichen Thema. Seit dem Frühjahr 1912 gibt Anita Augspurg in München die Zeitschrift Frauenstimmrecht. Monatshefte des Deutschen Verbandes für Frauenstimmrecht heraus. In der ersten Ausgabe präsentiert sie eine von ihr selbst verfasste „Nationalhymne der Frauen“:
Im Sommer 1914 bricht der Erste Weltkrieg aus. Am 31. Juli 1914 wird in München der Kriegszustand verkündet, am 1. August die Mobilmachung. Auch die Frauenbewegung in München und im ganzen Deutschen Reich wird vom Kriegsrausch erfasst und propagiert die Rettung des „Vaterlandes“ und die „Kriegshilfe“ der Frauen als heiliges Ziel.
Innerhalb der Frauenbewegung in Deutschland gibt es aber auch eine völlig andere Haltung zum Krieg. Vom 28. April bis zum 1. Mai 1915 tagt in Den Haag der Internationale Frauenkongress, an dem über 1.100 Delegierte aus zwölf Ländern teilnehmen, auch aus Ländern, die Krieg gegeneinander führen. Aus Deutschland ist der „radikale Flügel“ vertreten, an vorderster Front Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann, die von München aus gegen den Ersten Weltkrieg agieren und den Kongress mit der Holländerin Aletta Jakobs und anderen initiiert und mitorganisiert haben. Der Kongress protestiert gegen den Krieg als „Wahnsinn“, der nur durch eine „Massenpsychose“ möglich geworden sei. Er fordert die Regierungen zu Friedensverhandlungen auf. Nach dem Friedenskongress in Den Haag wird Anita Augspurg Mitbegründerin des Internationalen Frauenausschusses für dauernden Frieden, der späteren Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF), zu dessen Führerin sie sich im nächsten Jahrzehnt auch entwickelt.
Nach Ende des Ersten Weltkriegs wird am 7. November 1918 in Bayern die Monarchie gestürzt. Revolutionsführer Kurt Eisner (USPD), der eng mit Anita Augspurg zusammenarbeitet, ruft am Abend in München den Freistaat Bayern aus, proklamiert das Frauenwahlrecht und kündigt Parlamentswahlen an. Anita Augspurg wird als Vertreterin der Frauenbewegung Mitglied des provisorischen bayerischen Parlaments, Eisner selbst wird provisorischer Ministerpräsident. Die offizielle Geburtsstunde des Frauenwahlrechts ist der 12. November 1918, an diesem Tag verkündet die provisorische Reichsregierung in Berlin ihr Programm.
Für Anita Augspurg ist die Münchner Revolution eine Erlösung. Sie und Lida Gustava Heymann beschließen die Gründung der neuen Zeitschrift Die Frau im Staat. Die erste Nummer erscheint am 1. Februar 1919. In der Münchner Türkenstraße wird ein Laden gemietet, in dem ein Frauenzentrum entsteht. Flugblätter liegen in diesem Treffpunkt aus und Aktionen werden koordiniert. Bei den Landtagswahlen in Bayern am 12. Januar 1919 sollen die Frauen zum ersten Mal das aktive und passive Wahlrecht praktizieren.
Kurt Eisner bietet Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann an, für die anstehenden Wahlen als parteilose Kandidatinnen der Unabhängigen Sozialdemokraten (USDP) zu kandidieren. Augspurg kandidiert für den bayerischen Landtag, Heymann für die Deutsche Nationalversammlung. Beide Kandidatinnen gehen nicht durch. Kurt Eisner erhält im bayerischen Landtag nur 3 von 180 Sitzen. Der Dichter Ernst Toller schlägt vor, Anita Augspurg als Ministerin für Soziale Fürsorge zu ernennen. Auch dies findet keine Unterstützung. Acht Frauen werden schließlich in den bayerischen Landtag gewählt.
Am 19. Januar 1919 finden in der Weimarer Republik erstmals allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlen zur verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung statt. Zum ersten Mal dürfen Frauen im Deutschen Reich wählen und gewählt werden. 300 Frauen kandidieren, 37 werden gewählt: insgesamt gibt es 423 Abgeordnete.
Am 21. Februar 1919 wird Kurt Eisner erschossen. Anita Augspurg ist zutiefst erschüttert und schreibt einen Nachruf auf ihn.
Als Anita Augspurg am 22. September 1927 ihren 70. Geburtstag feiert – es ist das Jahr, in dem sie auch ihren Führerschein macht –, werden ihre Verdienste in Deutschlands Zeitungen überall gewürdigt. Ein Artikel, der am 21. September in der Münchner Post erscheint, sei beispielhaft zitiert: „Am 22. September begeht Anita Augspurg ihren 70. Geburtstag. Wir haben allen Grund, dieses Tages dankbarfreudig zu gedenken. Ohne je irgendeiner Partei anzugehören, weil ihre Ideen und Forderungen über jedes innerhalb irgendeiner Partei zulässige Programm weit hinausgingen, war und ist Anita Augspurg nie etwas anderes als Sozialistin und Demokratin, vertrat und setzte sie sich ein für die freiheitliche Sache der Welt in allen ihren Formen und Ausstrahlungen. Daß weder der wahre Sozialismus noch die wahre Demokratie je Wirklichkeit werden können ohne die völlige Einbeziehung auch der Frau, war die treibende Kraft, die Idee ihres jahrelang mit Intensität und Leidenschaft geführten Kampfes für das Frauenstimmrecht, in dem sie an erster Stelle stand. Und als am 9. November 1918 das scheinbar noch in unwirklicher Ferne liegende Tatsache, den Frauen der Weg zur Wahlurne freigegeben war, da war es vor allem Anita Augspurg, deren Vorarbeit man diese Errungenschaft von unzweifelhafter Weltbedeutung zu danken hatte. (...) Anita Augspurg ist nicht nur ein starker, ein reich und vielseitig angelegter Mensch, sondern auch gütig-menschlich, von jedem einseitigen Intellektualismus frei, dabei mit Humor und unerschöpflicher Vitalität begabt.“
Als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kommen, bedeutet dies auch das Ende der radikalen Frauenbewegung in Deutschland. Um der Gleichschaltung zu entgehen, löst sich 1933 der „Bund deutscher Frauen“ auf.
Viele Frauen, die in der Frauenbewegung engagiert waren, werden jetzt in diffamierender Absicht als „Jüdin“ bezeichnet, selbst wenn sie nicht jüdischer Herkunft sind. Antisemitische Hetzparolen sind zu diesem Zeitpunkt allerdings nichts Neues. Schon vor der Jahrhundertwende haben antisemitische Blätter wie die Staatsbürgerzeitung die Frauenbewegung als „jüdische“ Bewegung dargestellt, die führenden Vertreterinnen der Frauenbewegung als „entartet“ diffamiert, die Begriffe „jüdisch“, „feministisch“ und „international“
verknüpft. Eine verhetzende Darstellung der „jüdischen“ Physiognomie Anita Augspurgs fand sich schon 1919 auf einem antisemitischen deutschnationalen Flugblatt. Die Nationalsozialisten konnten daran fast nahtlos anschließen.
Als die Nationalsozialisten an die Macht kommen, befinden sich Anita Augspurg und ihre Lebensgefährtin Lida Gustava Heymann gerade auf einer Urlaubsreise. Als Kämpferinnen für Frieden und Freiheit haben sie Hitler von Beginn an bekämpft. Seit November 1923 standen sie im Fall eines siegreichen nationalsozialistischen Putsches auf der Liste der zu liquidierenden Personen. Sie begeben sich sofort nach Zürich ins Exil. Niemals werden sie nach München zurückkehren: „Es wäre Wahnsinn gewesen, uns den Hitler-Schergen auszuliefern, diesen sadistischen Psychopathen.“
Anita Augspurgs gesamter Besitz wird von den Nationalsozialisten konfisziert, ihr gesamtes Schriftgut vernichtet. Dabei gehen auch die Bibliothek und alle Unterlagen über Heymanns und Augspurgs Wirken in der deutschen und internationalen Frauenbewegung verloren, gelten bis heute als verschollen. Von Zürich aus versuchen die beiden Frauen, unterstützt von einem internationalen Frauen-Netzwerk, gegen Hitler und später auch gegen den Zweiten Weltkrieg zu agieren.
1941 verfassen sie ihre „Lebenserinnerungen“. Hier findet sich folgendes nach wie vor hochaktuelles und brisantes Statement: „Gewalt aber kann niemals durch Gewalt überwunden werden, sondern nur, und zwar im Keime ohne Zaudern durch Vernunft und Geist. Diese einzig richtige Erkenntnis hat sich nicht rechtzeitig durchsetzen können — jetzt in letzter Stunde der Gewalttotalität aller gegen alle gibt es kein Aufhalten mehr — eine in ihrer Mehrheit dem Wahnsinn verfallene Menschheit ist weder durch Verstand noch Vernunft zu meistern; sie muss letzten Endes an ihrer eigenen Torheit zerschellen — ‚Stirb und werde‘.“
1943 stirbt Anita Augspurg (wenige Monate nach dem Tod von Heymann), die Vorreiterin der deutschen und der internationalen Frauenbewegung, krank und verarmt in ihrem Exil in Zürich.
INGVILD RICHARDSEN
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