Walentynowicz – die Arbeiterführerin

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Im Wohnzimmer von Anna Walentynowicz, 77, im Danziger Stadtteil Wrzeszcz hängen an den Wänden Fotos vom polnischen Papst und über dem Bett die Mutter Maria. Die Wohnung ist 40 Quadratmeter groß, hat zwei Zimmer und eine kleine Küche. Anna Walentynowicz wohnt hier allein. Die grauhaarige Frau sitzt hinter einem Holztisch mitten im Zimmer und sortiert Briefe und Zeitungsausschnitte. "Ich sammle Archivmaterialien für künftige Forscher", sagt sie. Es ist ein Uhr nachmittags und Anna Walentynowicz hat bereits drei Interviews gegeben.

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"Wenn Anna Walentynowicz nicht so stark in ihrer Überzeugung und ihrer Handlung gewesen wäre, würde die Mauer in Berlin vielleicht heute noch stehen", sagt Volker Schlöndorff, der sich von Anna Walentynowicz zu einem Film über die Heldin inspirieren ließ. In den Geschichtsbüchern soll die ganze Wahrheit stehen. Und Annas Version wirft auf den damaligen Streikführer und späteren Friedens-Nobelpreisträger Lech Walesa ein schlechtes Licht. Streikführerin Walentynowicz behauptet, "dass Genosse Walesa vom Geheimdienst SB geschickt wurde, um den Aufstand im Jahre 1980 zu beenden". Seit Jahren streiten die Historiker in Polen darüber.

Der eigentliche Auslöser für die Streiks der Arbeiter der Lenin-Werft im August 1980 und ihre Entlassung war Kranführerin Walentynowicz. Als unbequeme Betriebsrätin war sie der Werft-Leitung schon lange ein Dorn im Auge. Doch ihre Entlassung löste eine Streikbewegung aus, die letztlich ganz Polen und in Folge den gesamten Ostblock ins Wanken brachte. Der Konflikt zwischen Walentynowicz und Walesa hat schon am dritten Tag der Streiks begonnen. Sie ist bis heute überzeugt, ihre Genossen von der Gewerkschaft 'Solidarno´sc´' hätten sie damals verraten, um die "guten Posten" unter sich aufzuteilen. "Sie haben sich nur um ihre eigenen Interessen gekümmert." Die offizielle Haltung des Instituts für Nationales Gedenken lautet: Lech Walesa, der erzkatholische und erzkonservative Vater von acht Kindern, sei ein Opfer des polnischen Geheimdienstes gewesen.

Anna Walentynowicz kam 1929 in Rowne, in der heutigen Ukraine, zur Welt. Ihr Vater fiel im Zweiten Weltkrieg an der Front, kurz danach erlitt ihre Mutter einen Herzinfarkt. Die 12-jährige Anna kam zu Pflegeeltern. 1945 kam sie nach Danzig. Das Pflegekind musste hart arbeiten in der fremden Familie. "Ich durfte mit niemandem sprechen. Ich habe wie eine Sklavin gearbeitet", erzählt sie. "Als ich ein Mal nach Ferien gefragt habe, wurde ich hart geschlagen." Mit 20 flüchtet sie. "Ich lief einfach durch die Straßen von Danzig und habe geweint. Fremde Leute haben mich zu sich nach Hause genommen."

Ein Jahr später fing Anna die Arbeit auf der Werft an. In den ersten 16 Jahren war sie Schweißerin. "Ich habe in der Doppelbilge gearbeitet, weil ich klein war. Kein Mann hat da reingepasst. Ich konnte keine Schutzmaske tragen. Dafür war es dort zu eng." Gewohnt hat sie in einer Kellerwohnung. Sie wurde schwanger, erfuhr aber, dass ihr Freund eine Freundin hatte und verließ ihn. Als sie im Jahre 1952 das Kind bekam, lebte sie mit einer fremden Familie zu sechst in einem Raum: Ein Ehepaar mit seinen drei Kindern und sie mit dem Neugeborenen.

In den 70er Jahren stieg Anna Walentynowicz zur Kranführerin auf. "Ich habe mich gewerkschaftlich engagiert, weil ich dem Volk helfen wollte. Ich wollte ihnen klarmachen, dass sie keine Angst haben sollen." Ihr Anker war der letzte polnische Papst: "Seine Worte 'Fürchtet Euch nicht' auf seiner ersten Reise als Papst durch Polen haben uns damals Kraft gegeben, uns zu erheben. So konnte die 'Solidarnosc´' entstehen."

Im August 1980 ist Anna Walentynowicz voller Hoffnung. Doch heute, nach über 40 Jahren Arbeit auf der Danziger Werft, ist sie enttäuscht. Sie fühlt sich von ihren "alten Freunden" betrogen und hofft, dass man eines Tages die Wahrheit aufdeckt – ihre Wahrheit.

Einen Versuch, diese Wahrheit der 'Solidarno´sc´'-Initiatorin Anna Walentynowicz zu zeigen, unternimmt jetzt Volker Schlöndorff in seinem neuesten Film: 'Streik – Vergessene Heldin'. Doch schon die Drehbuchversion, die ihr erst nach langem Hin und Her ausgehändigt wurde, fiel bei Schlöndorffs Heldin durch. "Bis zum Beginn der Dreharbeiten hatte Schlöndorff noch nie versucht, mit mir zu reden", klagt sie. Dass auf der Werft ein Film über ihr Leben entsteht, hat sie zufällig von einer befreundeten Schauspielerin erfahren. "Ich habe Schlöndorff zur Überlassung des Drehbuchs über mein Leben regelrecht zwingen müssen."

Im Herbst 2005 begannen die Dreharbeiten. "Nachdem ich mir den Film dann bei einer privaten Vorführung in Danzig angeschaut habe, war ich schockiert", schüttelt Anna Walentynowicz den Kopf. Die Titelheldin des Films heißt Agnieszka Kowalska. Sie hat im Film einen Sohn namens Krystian, ein uneheliches Kind mit dem Parteisekretär Henryk Sobecki. Das Mutter-Sohn-Verhältnis ist im Film angespannt, als sich Krystian gegen den Willen der Mutter entscheidet, in der Armee Karriere zu machen. Es sind Passagen wie diese, gegen die Anna Walentynowicz protestiert. Ihrer Meinung nach wurden Fakten aus ihrer Biographie verdreht.

Schlöndorff verteidigt sich mit dem Hinweis, der Film sei zwar stark von Walentynowicz inspiriert, aber kein Dokumentarfilm. Dass die Stärke seiner Heldin sich auch gegen ihn selbst richten könnte, damit hatte der Regisseur offenbar nicht gerechnet. Die ehemalige Streikführerin verlangt, dass vor und nach jeder Vorführung des Films eingeblendet wird: "Dieser Film ist gegen den Willen von Anna Walentynowicz entstanden." Von dem deutschen Regisseur fordert sie eine Million Dollar Entschädigung. Der Kampf von Anna Walentynowicz um die Wahrheit geht weiter.

Katarzyna Tuszynska, EMMA 2/2007

In 'Streik – Vergessene Heldin' wird Anna Walentynowicz beeindruckend verkörpert von Katharina Thalbach.

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