Annette Bening in Venedig
Alberto Barbera, der Direktor der Internationalen Filmfestspiele von Venedig, hätte die Jurypräsidentin des Jahres 2017 nicht besser beschreiben können: „Annette Bening gestaltet ihre Rollen mit so viel Understatement, Wärme und natürlicher Eleganz, dass ihre Filme zu einer wunderbaren, lebensbereichernden Erfahrung werden“, stellte der Piemonter die amerikanische Schauspielerin bei der Ernennung zur Chefin der Goldenen Löwen vor. Die 59-Jährige zählt zu den seltenen Filmschaffenden in Hollywood, deren Erfolg weniger an Trophäen und Selbstdarstellung gemessen wird als in der Tiefe ihrer Rollen.
Dass Bening auch vor Frauenbildern nicht zurückschreckt, die auf der Leinwand alles andere als eine gute Figur hergeben, hat sie in den vergangenen fast 30 Jahren zu einer Orientierungsfigur für Millionen Amerikanerinnen werden lassen. Ihre Botschaft? Auch Frauen dürfen scheitern!
Erziehung mit feministischen Literatur und Punk-Musik
In Sam Mendes’ Familienporträt „American Beauty“ schießt Bening als karrierebesessene Immobilienmaklerin über das Ziel vorstädtischer Makellosigkeit hinaus. Das Filmdrama „Krass: Running with Scissors“ zeigt sie als psychisch angeschlagene Deirdre Burroughs, die ihren pubertierenden Sohn Augusten sich selbst überlässt. In der Tragikomödie „The Kids Are All Right“ spielte Bening die lesbische Nic, die Julianne Moore als ihre Ehefrau Jules vernachlässigt und in die Arme des Samenspenders ihrer Kinder treibt.
Auch ihre Rolle in Mike Mills’ Produktion „Jahrhundertfrauen“, die seit Juni in deutschen Kinos läuft, erinnert nicht im Entferntesten an das Ideal mütterlicher Häuslichkeit. Als Benings alleinerziehende Dorothea keine Beziehung zu ihrem 15-jährigen Sohn Jamie entwickeln kann, bittet sie zwei junge Frauen, bei der Erziehung zu helfen – mit der feministischen Literatur der späten Siebziger und Punk-Musik. „Das Beste an dem Film ist Benings Darstellung als sehr spezieller, sehr widersprüchlicher Freigeist: geschieden und stolz, mit viel Herz und Seele, aber noch mehr gefühliger Sprunghaftigkeit“, lobte das Branchenblatt Variety den Part, der ihr die vierte Oscar-Nominierung einbrachte.
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Bei ihrem Talent, Frauen in vielen Facetten darzustellen, schöpft Bening aus dem eigenen Leben. Nach einer Kindheit im beschaulichen Mittleren Westen und einem Theaterstudium in San Francisco trat sie Ende der Achtziger am Broadway auf, bevor sie für die Filmkomödie „Great Outdoors – Ferien zu dritt“ nach Hollywood kam. In den folgenden Jahren reihten sich Dreharbeiten an Dreharbeiten.
Am Set des Gangsterfilms „Bugsy“ lernte die damals 31-Jährige Hollywoods prominentesten Womanizer Warren Beatty kennen. Der 21 Jahre ältere Schauspieler, der Affären mit Stars wie Cher, Elizabeth Taylor und Diane Keaton pflegte, verliebte sich in die hübsche, aber unauffällige Bening. Wie Beatty später verriet, wurde das erste Kind des Paares während des ersten Dates einige Tage vor Ende der „Bugsy“-Dreharbeiten gezeugt. „Ich kannte Warrens Ruf als Herzensbrecher. Das war aber nie ein Problem. Ich habe eine Beziehung mit ihm begonnen, weil ich mich in ihn verliebt habe“, fasste Bening die Ehe mit Beatty kurz vor dem 25. Hochzeitstag zusammen.
Das Paar verbindet eine Partnerschaft, in der sich die Schauspielerin Unabhängigkeit und Selbstständigkeit bewahrte. Fast instinktiv kehrte sie nach ihren vier Schwangerschaften zügig wieder an Filmset oder Bühne zurück. „Ich mag mein Leben und stolpere vor mich hin. Ich bin impulsiv“, bot Bening dem britischen Express Anfang des Jahres einen ungewohnt privaten Einblick in ihr Leben in Los Angeles. Einige Monate zuvor hatte ihr Ehemann in einem ähnlich seltenen Interview bekanntgegeben, dass das älteste Kind des Paares, die 25 Jahre alte Kathlyn, transsexuell sei und nach geschlechtsangleichenden Operationen künftig als Stephen lebe.
Filmfestspiele Venedig: Nach
elf Männern
nun eine Frau
Benings instinktive Bodenständigkeit hat sie auch Hollywoods Altersfalle umgehen lassen. Während die kalifornische Filmenklave die meisten Darstellerinnen in der Regel nach dem 30. Geburtstag in den Ruhestand verabschiedet, kann die 59-Jährige vor den Augen des Publikums altern. In Michael Mayers Filmversion von Anton Tschechows Bühnenstück „Die Möwe“ stand sie im vergangenen Jahr als verblühende Schauspielerin Irina Arkadina vor der Kamera; in den kommenden Monaten wird sie in der Rolle der krebskranken, von Selbstzweifeln geplagten Filmdiva Gloria Grahame in Paul McGuigans Produktion „Film Stars Don’t Die in Liverpool“ zu sehen sein. Außerhalb von Amerika fast unbemerkt spielt Bening auch weiter Theater. Seit Jahren tritt sie in Produktionen des jährlichen Shakespeare-Festivals in New Yorks Central Park und auf kalifornischen Bühnen auf. „Bei der Schauspielerei geht es nicht darum, berühmt zu sein. Es geht darum, die menschliche Seele zu ergründen“, philosophierte die Schauspielerin.
Dass Bening nach elf Jahren Männern in diesem September die Jury der Filmfestspiele von Venedig führt, gilt auch als Signal an Hollywood. Wie wir sehen können und die Medienwissenschaftlerin Stacy Smith in einer Studie der University of Southern California in Los Angeles belegte, spielen weibliche Filmschaffende in der angeblich so weltoffenen US-Unterhaltungsindustrie weiterhin eine Nebenrolle. Laut Smith wurde in den vergangenen zehn Jahren nur knapp jeder dritte Sprechpart der beliebtesten 900 Hollywood-Filme mit einer Frau besetzt.
Da Venedig seit Jahren auch als Taktgeber für die kalifornische Academy of Motion Picture Arts and Sciences gilt, könnte Benings Juryvorsitz am Canale Grande ein Wink mit dem Zaunpfahl für Hollywoods Herrenriege sein.
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