Ernaux: Verdienter Nobelpreis
Der Ruhm jenseits ihrer Heimat kam spät. In Frankreich ist sie seit den Achtzigerjahren eine Größe in der Literatur, in Deutschland wurde Annie Ernaux erst 2019 entdeckt. In rascher Folge erscheinen nun Übersetzungen ihrer erfolgreichsten Bücher. Typisch für ihren Stil sind ihre stark autobiografisch geprägten Erinnerungen als Mensch und vor allem als Frau ihrer Zeit. „Bücher, die die Zeit außer Acht lassen, interessieren mich nicht“, sagt sie.
Als Annie geboren wurde, hatte der Zweite Weltkrieg gerade Frankreich erreicht, die Französinnen hatten noch kein Wahlrecht, in dem kleinen Dorf Lillebonne in der Normandie mühte sich die Mutter, mit einem kleinen Lebensmittelladen ihre Familie über Wasser zu halten. Der Vater ging in die Fabrik. Harte Jahre, geprägt von wirtschaftlicher Not. Doch die Epoche, die die Schriftstellerin zu ihrer machen wird, begann noch früher, noch elender: bei den Großeltern. Für Annie eine Epoche der Finsternis. "Wenn ich Proust oder Mauriac lese, kann ich nicht glauben, dass sie über eine Zeit schreiben, als mein Vater Kind gewesen ist. Seine Welt war das Mittelalter."
Vom gefühlten Mittelalter in die moderne Zeit; vom Schuften als Knecht in die Salons der Bourgeoisie; von einem Großvater, der weder lesen noch schreiben konnte, zum Nobelpreis - die über drei Generationen erzählte Geschichte ihrer Familie ist eine Geschichte von sozialem Aufstieg und Bildung. Und doch ist es für Annie Ernaux keine Geschichte von Stolz und Befreiung, sondern eine von Verrat und Scham.
Aber es ist auch der Stoff für ihr schriftstellerisches Werk. Vor allem in ihrem Buch über den Vater umkreist Annie Ernaux dieses Gefühl, das auch im hohen Alter noch an ihr nagt. Vater wie Mutter hatten sich ein Leben lang abgerackert, damit es die Tochter einmal zu etwas bringen würde, oder wie sie schreibt: "Meine Mitter verkaufte von morgens bis abends Kartoffeln und Milch, damit ich in einer Vorlesung über Platon sitzen konnte."
Doch während auch die Mutter einen gewissen Bildungshunger hatte, fremdelte der Vater – der als ungelernter Arbeiter oft noch Geld dazuverdienen musste, weil der Laden nicht genug abwarf – zeitlebens mit der Welt, die sich seine Tochter nach und nach eroberte. Die wiederum haderte mehr und mehr mit ihrer Herkunft.
Ein Gefühl, für das die Tochter sich schämte, dem sie aber nichts entgegenzusetzen hatte. "Er regte sich auf, weil ich den ganzen Tag Bücher las, dass ich gern nachdachte, war ihm suspekt", erinnert sie sich später. Doch trotz der Vorbehalte und trotz seines mangelnden Ehrgeizes für sich selbst war da auch seine unermüdliche Unterstützung, die sie mit poetischen Worten beschreibt. "Er fuhr mich auf dem Fahrrad zur Schule. Ein Fährmann zwischen zwei Ufern, bei Sonne und Regen."
Was blieb, war die Entfremdung, die sie als ihren „Verrat“ empfindet. "Ich wollte alles sagen, über meinen Vater schreiben, über sein Leben und über die Distanz, die in meiner Jugend zwischen ihm und mir entstanden ist. Eine Klassendistanz, die zugleich aber auch sehr persönlich ist, die keinen Namen hat. Eine Art distanzierte Liebe."
Nach seinem unerwarteten Tod, zwei Monate nach ihrem bestandenen Lehrerinnenexamen, begann sie, ein Buch über den Vater zu schreiben. Inzwischen war Annie selbst Mutter, hat Philippe Ernaux, einen jungen, selbstbewussten Studenten geheiratet, der mit ihrer proletarisch-ländlichen Verwandtschaft wenig anfangen konnte.
Der geplante Roman wird nie vollendet. Der einfache Mann und die literarische Form – es passt nicht. "Seit Kurzem weiß ich, dass der Roman unmöglich ist. Um ein Leben wiederzugeben, das der Notwendigkeit unterworfen war, darf man nicht zu den Mitteln der Kunst greifen, darf ich nicht 'spannend' oder 'berührend' schreiben wollen."
Erst 16 Jahre später erscheint ihr Buch über den Vater, über die Familie, über sie selbst: „Der Platz“ (1983). Annie Ernaux hat eine passende Form gefunden, nüchtern, lakonisch, fast schon spröde. "Der sachliche Ton fällt mir leicht, es ist derselbe Ton, in dem ich früher meinen Eltern schrieb." Doch gleichzeitig hat sie damit einen Stil geprägt, den es so bisher nicht gab, wie ihr die Literaturkritik begeistert bescheinigen wird.
Ihre Zeitreise wird zur Zeitreise nicht nur der Eltern, sondern einer ganzen Gesellschaftsschicht mit ihren Ängsten, ihrem Misstrauen, ihren Hoffnungen, wird zur Soziologie eines Aufstiegs. Es entsteht der Begriff der "Sozioautobiografie". Ernaux selbst nennt sich eine "Ethnologin ihrer selbst" und sagt: "Ich möchte, dass die Worte genauso hart sind wie das Leben." Sie sucht "den höchstmöglichen Grad der Realität" und findet ein Leben, wo das Private zwangsläufig immer auch politisch ist. Sie wird zum Vorbild, zur Referenz für zeitgenössische AutorInnen der französischen Literaturszene.
Annie Ernaux geht ihren Weg der Betrachtung weiter. In "Eine Frau" (1988) beschreibt sie das Leben ihrer Mutter, der "einzigen Frau, die mir ernsthaft etwas bedeutet hat". Zehn Jahre später, in "Die Jahre", sind es Erinnerungen bis in die Kindheit zurück, die sie mit dem, was einmal Gesellschaft war, verknüpft und auffächert: "Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird."
In »Erinnerung eines Mädchens« (2016) kehrt sie schließlich dahin zurück, wo das Schreiben seinen Anfang nahm: die Jahre 1958 bis 1960. Noch nicht 18 Jahre alt, war sie in den Ferien als Helferin in ein Jugendcamp gegangen und hatte sich in den Chefbetreuer verliebt. Der servierte die Kleine vom Land nach zwei Nächten ab. Sie kompensierte ihren Kummer und Trotz mit Affären und galt bald als die »Schlampe« des Camps. Was wirklich geschehen war, die Macht des Angehimmelten, seine Übergriffigkeit und ihr Stillhalten, die Überheblichkeit der Gruppe, das begriff sie erst zu Hause, bei der Lektüre von Simone de Beauvoirs "Das andere Geschlecht".
Davor sei sie zwei Jahre wie vereist gewesen, ihre Regel war ausgeblieben, sie versank in Scham. Eine Scham, die sie bis heute spürt.
Ihre Erinnerung daran schreibt Annie Ernaux Jahrzehnte später in der dritten Person, über "das Mädchen". Doch eines Tages ist es so weit: »Ich kann sagen: Sie ist ich, ich bin sie.« Damals rettet sie sich und ihre geschundene Seele ins Schreiben, 30 Jahre später wird sie im Tagebuch festhalten: "Diese zwei Jahre, 1958–1960, haben mich zur Schriftstellerin gemacht, glaube ich."
Annie Ernaux ist eine der Protagonistinnen in der #MeToo-Debatte. Sie sagt: "Es fängt erst damit an, dass Nein Nein heißt … Man muss den Frauen sehr früh klarmachen, dass es keinen Grund gibt, alles mit sich machen zu lassen." Sie fordert Solidarität unter den Frauen, spricht über ihre Bulimie, über ihre Abtreibung, über ihren Brustkrebs. Geschichte teilen heißt für sie auch: Nicht mehr allein damit sein.
Erst jetzt, nach dem Original 1997, erscheint in Deutschland eines ihrer Schlüsselbücher: „Die Scham“. Darin geht es - nach der Scham über das Armsein und das Frausein - um die Scham der Tochter. Die erlebt die Gewalt des Vaters gegen die Mutter – und verstummt vor Entsetzen. Über ein halbes Jahrhundert später findet sie ihre Stimme wieder.
Heute lebt sie in einer Art "semi-solitude", wie sie sagt. Dem Milieu ihrer Herkunft fühlt sie sich weiter verbunden und hat sich ihm doch entzogen. Dem Milieu ihres Aufstiegs, bürgerlich und elitär, konnte sie sich innerlich nie anschließen, sie misstraut ihm. "Ich passe auf mich auf, indem ich mich fernhalte. Ich gehöre nicht zur Intellektuellenszene, nicht zum Bürgertum, nicht in Schriftstellerkreise, ich habe nichts zu tun mit der Welt der Mächtigen und Erfolgreichen."
Aktualisierter Text von Rita Kohlmaier in „Frauen 70+. Cool. Rebellisch. Weise“ (Sandmann). - Alle ins Deutsche übersetzten Bücher von Annie Ernaux sind bei Suhrkamp erschienen, zuletzt "Das andere Mädchen".