Die tödliche Pille
Sie waren jung, ledig – und verliebt. Sie waren in einer anspruchsvollen Ausbildung, sie waren kluge Frauen, sie hatten bereits von den Risiken der Pille gehört, sie gingen mit der Frage nach Alternativen zur hormonellen Kontrazeption zum Frauenarzt. Sie gingen dennoch mit einem Rezept wieder hinaus. Der Gynäkologe hatte ihnen gratis noch gleich eine Probepackung zugesteckt, keine schlichte Medikamentenschachtel, nein, ein schön bunt zurechtgemachtes, eigens für diese Zwecke entworfenes Werbepaket mit Sticker, Schminkspiegel, Schlüsselanhänger. Schicksalsschlag inklusive. Der Diddlemäßig verpackte Hormonmix entpuppte sich nämlich als gefährliche Zeitbombe, die das Leben der jungen Frauen – wenn sie überlebten – nachhaltig veränderte: tiefe Beinvenenthrombose, Lungenembolie, Gehirnschlag, Koma, Behinderung, lebenslange Einnahme von Gerinnungshemmern, Abbruch der Ausbildung, womöglich nicht mehr erfüllbarer Kinderwunsch.
Einzelfälle seien dies, heißt es von Seiten der Bayer AG, wenngleich bedauerliche Schicksale. Gleichwohl übertreffe nach wie vor der Nutzen die Risiken. So lautet die offizielle Haltung beim Hersteller jener Drospirenon-haltigen Kombi-Pillen wie Yasmin®, Yasminelle® und Yaz®, die als Pillen der dritten und vierten Generation Mädchen und Frauen weltweit als besonders gut verträglich angepriesen werden.
Der Gynäkologe steckte den Frauen noch gratis eine Probepackung zu
Weil sie sich aber keineswegs als Einzelfälle fühlen, treten Felicitas Rohrer und Kathrin Weigele nicht nur immer wieder auf der Bayer Hauptversammlung dem Konzern entgegen und fordern die Einstellung der Produktion dieser Präparate. Hierfür stellt ihnen die „Coordination gegen Bayer-Gefahren“ Eintrittskarten und Rederecht zur Verfügung, die die Initiative wiederum von den „Kritischen Aktionären“ bekommt. Rohrer und Weigele haben außerdem zusammen mit zwei weiteren Pillen-Opfern im Jahr 2011 die Selbsthilfegruppe Drospirenon-Geschädigter (SDG) gegründet und betreiben die Informationshomepage www.risiko-pille.de für interessierte Frauen.
Wer auf diese Homepage geht, erkennt tatsächlich anhand der zahlreichen Opferberichte ein Muster darin, wie die Anti-Baby-Pillen der neueren Generation beworben, wie sie an die Frau gebracht und wie Risiken systematisch klein geredet werden. Und wie sie daher nicht nur der Öffentlichkeit und den Nutzerinnen, sondern auch Ärzten derart wenig bewusst sind, dass die schwerwiegenden Gesundheitsschäden nicht ernst genommen, zu lange nicht erkannt, zu spät behandelt werden.
Rohrer und Weigele überblicken inzwischen Hunderte von Fällen, sie berichten von 28 offiziellen, das heißt offiziell dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gemeldeten Todesfällen allein hierzulande. Um ein Vielfaches höher liegt die Zahl der durch Thrombosen und Embolien geschädigten Frauen, von der Dunkelziffer ganz zu schweigen.
„Als ich Felicitas 2010 im Fernsehen sah, erkannte ich die Pillenpackung von Yasmin®, die sie in der Sendung zeigte. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Sie sprach mir aus der Seele, meine Ängste, das alles war nicht unnormal“, beschreibt Kathrin Weigele ihre Erleichterung, als sie auf eine Leidensgenossin traf.
Im Februar 2006 hatte die heute 33-Jährige erstmals Atemnot und eine rapide Verschlechterung ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit gespürt. Grund war eine Lungenembolie, die erst im August 2006 erkannt wurde, einen Monat vor ihrem Ersten Juristischen Staatsexamen. Nach langwieriger Behandlung auf der Intensivstation gab man ihr eine Überlebenschance von fünf Prozent. Sie muss seither mit deutlich verringerter Lungenkapazität atmen, der Rest ist aufgrund der lange unerkannt gebliebenen Embolie zerstört. Ihr Examen konnte sie erst drei Jahre später nachholen. Sie entschied sich dann jedoch, nicht zuletzt aufgrund ihrer Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem, für den Beruf der Logopädin und ist jetzt im zweiten Ausbildungsjahr.
Auch Felicitas Rohrer musste umsatteln: Die heute 31-Jährige erlitt 2009 eine dramatische Lungenembolie, als sie gerade ihr Studium der Tiermedizin erfolgreich beendet hatte. Auf der Straße brach sie zusammen. Nur dank der Hilfe und Geistesgegenwart ihres damaligen Freundes überlebte sie. Sie wurde zunächst erfolglos wiederbelebt, dann ihr Brustkorb in einer dramatischen Notfalloperation geöffnet. Nur wenige Prozent der Betroffenen überleben eine solche fulminante Lungenembolie, wie es fachmedizinisch heißt. Gerettet ist sie, gesund wird sie nie wieder. Ihre Beinvenen – in denen sich die großen Blutgerinnsel bildeten, die dann über die Blutbahn in die Lunge schwemmten und dort die Strombahn der Lungenblutgefäße verstopften – sind bis heute schwerwiegend geschädigt. Sie muss Stützstrümpfe tragen, damit das Bein nicht dick wird. Der auch körperlich anstrengende Job einer Tierärztin kam nicht mehr in Frage, Felicitas Rohrer arbeitet inzwischen als Journalistin.
Beide haben ihre Plattform gegründet, um andere Frauen und Mädchen über das Thrombose- und Embolierisiko verschiedener Pillen, auch der Drospirenon-haltigen Pillen aufzuklären. Sie nehmen ihren Ärzten bis heute übel, dass diese genau das versäumt haben: „Eigentlich wollte ich gar nicht die Pille, sondern fragte nach anderen Verhütungsmethoden“, erklärt Kathrin Weigele im Gespräch, „aber der Gynäkologe schwärmte regelrecht von der supersicheren neuen Pille, die viel verträglicher sei als die älteren Präparate.“
Für Bayer sind die 28 toten Frauen "bedauerliche Einzelfälle" ...
Felicitas Rohrer bestätigt: „Die Frauen, die uns kontaktieren, berichten regelmäßig, dass von den Ärzten andere Verhütungsmittel abgetan, die neueren Pillen der dritten und vierten Generation fast marktschreierisch angepriesen werden.“ Das hat seinen Grund: Pillen der neueren Generation sind seltener mit Gewichtszunahme verbunden als die älteren Pillengenerationen, die zum Beispiel Levonorgestrel in ihren Kombinationen enthalten. Gerade junge Mädchen hoffen auf eine Verbesserung des Hautbildes oder schönere Haare, „da ist ein mögliches Risiko weit weg“, sagt Rohrer. Sie hatte in einer ihrer Reden auf der Hauptversammlung des Bayer Konzerns die „Feel good/Figur-Bonus und Smile-Effekt“-Werbung, wie sie insbesondere für die Pille Yasminelle® betrieben wird, vehement angeprangert.
Dabei hat nicht erst in diesem Jahr eine englische Studie aus Nottingham belegt, um wieviel gefährlicher in Sachen Gerinnselbildung neuere, gerade auch Drospirenon-haltige Präparate sind. Pillen, die Cyproteron und Desogestrel enthalten, erwiesen sich in dieser Studie ebenfalls als besonders risikoträchtig. Ist das neu? Keineswegs! Die Studie bestätige „was wir schon lange wussten“, hält Dr. Hannelore Rott vom Gerinnungszentrum Rhein-Ruhr in Duisburg gegenüber der Ärzteinfoplattform Medscape Deutschland fest, und betont: „Im Alter von 14 bis 15 Jahren schnellt die Zahl der Lungenembolien beim weiblichen Geschlecht in die Höhe.“ Dies geht einher mit der Einnahme von Kombipräparaten zur Verhütung, eine Koinzidenz, die inzwischen auch mit wissenschaftlichen Studien aus anderen Ländern, zum Beispiel Australien, bestätigt wird.
Um „Einzelfälle“ geht es also keineswegs. Was Rohrer und Weigele vor allem ärgert, ist das Verschieben der Ursachen weg von der Pille auf das individuelle Risiko der Frau: „Wir waren nicht übergewichtig, haben nicht geraucht und hatten keinerlei andere Risikofaktoren“, ereifern sich beide im Gespräch. Sie trieben Sport und lebten gesundheitsbewusst, so wie viele der Frauen, die ihnen inzwischen im Laufe der Jahre von ihren Embolien berichten, oder deren Eltern nach dem Tod ihrer Töchter davon erzählen. Ihre Warnung lautet daher nicht zuletzt: „Es kann jede treffen“.
Hierzulande verschreiben fast ausschließlich GynäkologInnen den 6,6 Millionen Frauen, die hormonell verhüten, die Pille. Und die kommunizieren die Risiken nach Ansicht von Rohrer viel zu wenig: „Hier fehlt es mir an Rückgrat der Frauenärzte, vor allem gegenüber den ganz jungen Mädchen, die sich dem Sog der Firmenwerbung und dem Versprechen von schönerem Aussehen kaum entziehen können“, kritisiert sie. Die deutschen „Frauenärzte im Netz“ weisen in einer Pressemitteilung vom 23. Oktober 2014 darauf hin, dass „viele Thrombosen folgenlos“ ausheilten und dass Thrombosen schließlich auch bei Frauen aufträten, die nicht mit Pille verhüten: „Thrombosen sind bei Frauen, die Drospirenon-haltige Antibabypillen einnehmen, eine sehr seltene Komplikation.“
Solche Stellungnahmen vermitteln einen vergleichsweise harmlosen Eindruck von den Pillenrisiken. Zwar hat ein so genannter „Rote Hand Brief“ im Januar 2014 wenigstens ein wenig wachgerüttelt: Darin mahnen die Hersteller von hormonellen Kontrazeptiva, aber auch die Europäische (EMA) und deutsche Arzneimittelbehörde (BfARM) diejenigen, die die Pille verschreiben, unmissverständlich, über die Risiken „umfassend aufzuklären“. Nicht allen ist diese Aufforderung willkommen. Manche Frauenärzte sehen darin „einen neuen überladenen Aufklärungsaufwand“ bei der Verordnung von Kontrazeptiva, wie es in einer deutschen Fachzeitschrift für Frauenärzte heißt. Das ist umso problematischer, als es keine klaren, verbindlichen Empfehlungen für die Frauenärzte gibt. Denn die offiziellen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) zur Empfängnisverhütung sind längst abgelaufen. Sie werden seit 2013 überarbeitet. Umso besorgter klingen andere Ärztefachorganisationen. So berichtete die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AKdÄ) schon Ende 2013, dass immer mehr Mädchen mit Thrombembolien in die Ambulanzen kommen – ein Phänomen, das man früher nicht kannte. „Deshalb geht es mir mit meiner Klage gegen den Bayer Konzern auch nicht um Geld“, betont Felicitas Rohrer. „Ich will erreichen, dass Bayer diese Präparate vom Markt nimmt!“
Was das bedeuten könnte, lehrt das Nachbarland Frankreich: Die breite öffentliche Diskussion wurde dort nicht zuletzt durch die Opferorganisation AVEP befeuert, die ähnliche Ziele verfolgt wie die SDG. Bewegend war der Auftritt der 26-jährigen Marion Larat, einer der führenden Anklägerinnen aus Frankreich auf der Bayer Hauptversammlung im Jahr 2014. Die halbseitig gelähmte junge Frau hatte unter der Pille Meliane®, ebenfalls ein Präparat von Bayer, einen Schlaganfall erlitten. Sie hat seither epileptische Anfälle und Sprachstörungen und musste ihre Rede deswegen von einer anderen Frau vortragen lassen.
Risiko Pille: Die Frauen beklagen die mangelnde Aufklärung
Die Tatsache, dass in Frankreich die Kosten für Pillen der dritten und vierten Generation seit 2013 nicht mehr übernommen werden, ließ die Verordnungen um 45 Prozent einbrechen, wie das pharmakritische Arznei-Telegramm in diesem Jahr meldete. Interessant ist außerdem, dass gleichzeitig die Klinikaufnahmen wegen Lungenembolien um 27,9 Prozent bei den 15 bis 19 Jahre alten Mädchen und Frauen zurückgingen. Doch hierzulande sind nach wie vor gerade diese neueren Pillen mit zwei Dritteln die am häufigsten verschriebenen Kombipräparate.
Die mangelnde Aufklärung setzt sich fort in einer völlig ungenügenden Wahrnehmung der Folgen: „Ich hatte solche Schmerzen beim Atmen, ich saß am Ende senkrecht nachts im Bett, um überhaupt schlafen zu können“, schildert Kathrin Weigele ihren Zustand. Keiner „traute“ ihr eine ernsthafte Lungenerkrankung zu. „Junge Frau, Angst vorm Examen, die hyperventiliert, …“, beschreibt sie die falschen Reflexe der Ärzte, denen sie im Laufe der monatelangen Odyssee ihre Beschwerden schilderte. Erst nach massivem Druck seitens ihres Mannes im Uniklinikum Regensburg wurde schließlich doch ein CT gemacht, nachdem man die schwerkranke Frau vier Stunden im Flur hatte warten lassen. Dann seien plötzlich alle in „Riesen-Wahnsinns-Hektik“ geraten, Intensivstation und das ganze große Programm. „Ich war so schwer krank, dass es am Ende des Klinikaufenthaltes nicht einmal eine passende Rehabilitation für mich gab“, erzählt Kathrin Weigele. Sie hat sich mühsam alle Maßnahmen selbst zusammengesucht – und auch zum Großteil selbst bezahlen müssen.
Ähnlich geht es den anderen jungen Frauen. Sie bezahlen zur gerinnungshemmenden Therapie dazu, sie bezahlen die Sticks zur Kontrolle der Blutgerinnung, sie bezahlen für eine alternative Ausbildung, aber vor allem bezahlen sie emotional: vielleicht mit dem Abbruch einer Beziehung, vielleicht damit, dass sich ein Kinderwunsch nie erfüllt. Denn es ist äußerst problematisch, unter gerinnungshemmender Therapie Kinder zu bekommen. Denn das Standardpräparat, Marcumar, schädigt den Fetus, Alternativen sind riskant oder in Bezug auf die Schwangerschaftsrisiken kaum untersucht.
Marion Larat hatte einen Schlaganfall. Seither ist sie halbseitig gelähmt
Während Felicitas Rohrer – neben sieben weiteren Frauen – bereits Klage eingereicht hat, sind die gerichtlichen Schritte, die Kathrin Weigele gegen die Bayer AG unternommen hat, noch im Stadium des Vorverfahrens. Sie alle verlangen angesichts ihrer Kosten und Gesundheitsschäden Schadensersatz in äußerst bescheidener Höhe, wollen aber vor allem andere Frauen ermutigen, den Klageweg zu beschreiten. Dieser Mut ist notwendig, denn statistisch stehen die Chancen schlecht, bisher hat noch kein Kläger gegen den Pharmariesen ein solches Verfahren gewonnen. Selbst nicht die Schweizerin Céline, die im Alter von 16 Jahren 2008 eine schwere Lungenembolie erlitt, nachdem sie Yasmin® nur einige Wochen eingenommen hatte. Sie ist seither schwer behindert und ihr Schicksal hat immer wieder Schlagzeilen gemacht. Das Bundesgericht der Schweiz hat inzwischen in dritter Instanz den Anspruch auf Schadensersatz der Familie Pfleger gegen die Bayer (Schweiz) AG rechtskräftig abgewiesen. Allerdings wurden freiwillig – ohne Schuldeingeständnis – 200.000 Schweizer Franken für die Behandlung gezahlt, da die Intras-Versicherung die Kosten der Rehabilitation in unmittelbarer Nähe des Wohnortes nicht tragen wollte.
Außerdem zahlte Bayer inzwischen im Rahmen eines außergerichtlichen Vergleichs in den USA weitere 1,9 Milliarden Dollar an rund 8.900 Frauen, die dort eine Sammelklage gegen den Konzern anstrengten. So wurde ein öffentlicher Prozess mit Offenlegung der Fakten vermieden. Sollte eine der hiesigen Klagen Erfolg haben, dürfte das eine Lawine lostreten – die Webseite www.risiko-pille.de zählt inzwischen schon fast 2 Millionen Seitenaufrufe.
Aktualisierung: Felicitas Rohrers Klage gegen Bayer wurde im Dezember 2018 in erster Instanz vom Landgericht Waldshut abgewiesen. Jetzt liegt die Klage beim Oberlandesgericht Karlsruhe. Felicitas Rohrer: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Urteil Bestand haben wird. Ich will und werde weiterhin kämpfen.“
Dr. med. Martina Lenzen-Schulte