Ask Alice: Versöhnung mit der Mutter?
Liebe Nele,
tja, das ist wirklich keine einfache Frage. Aber die halbe Antwort gibst du ja schon selbst: Auch deine Mutter war natürlich ein Opfer dieses autoritären Vaters. Doch du wirst dich fragen: Warum hat sie mich (und sich) nicht geschützt? Warum ist sie nicht gegangen? Und du hast natürlich auch Beziehungsprobleme, weil du dieses Muster auf keinen Fall wiederholen willst.
Andererseits, Nele, du bist jetzt 55 Jahre alt. Also sehr erwachsen. Und irgendwann kann man nicht mehr alles mit seiner schwierigen Kindheit erklären oder gar entschuldigen. Ich meine, du solltest versuchen, den Schatten der Vergangenheit zu entkommen und dein Leben selbstbestimmt in die Hand nehmen.
Und vermutlich würde es sowohl für deine Mutter wie auch für dich Sinn machen, wenn du sie einmal offen und direkt auf alles ansprichst. Oder? Du musst auch nicht alles verstehen. Du bist ja ihre Tochter, nicht ihre Therapeutin. Aber entweder du verstehst sie doch noch – oder du magst dich nicht mehr mit ihr versöhnen. Dazu hast du auch das Recht.
Die große und leider im vorletzten Jahr verstorbene Analytikerin Margarete Mitscherlich hat einmal den Satz geprägt: „Man muss auch hassen können!“ Manchmal sogar die eigene Mutter.
Also entscheide dich: Verstehen oder Hassen. Aber verharre nicht im Selbstmitleid. Greife dein Leben beim Schopf.
Und grüß’ mir herzlich deine zwei Kater!
Deine Alice Schwarzer