Ask Alice: Schlechtes Gewissen...
Liebe Irene,
dein Brief ist für mich, die ich seit 44 Jahren für das Recht auf Abtreibung kämpfe, bedrückend aber tröstlich zugleich. Immerhin: Du musstest dir nicht heimlich Geld leihen, um in die Schweiz zu fahren. Du musstest dich auch nicht demütigen oder gar belästigen lassen von einem Arzt, der die Gnade bzw. Profitsucht hatte, dir illegal zu helfen. Und du musstest nicht deine Gesundheit oder gar dein Leben auf dem Küchentisch einer "Engelmacherin" riskieren. Du konntest, nachdem du die "Erlaubnis" eingeholt hast, im Jahr 2014 in Deutschland legal und nach modernsten medizinischen Methoden abtreiben (auch die sind dem Kampf der Frauenbewegung zu verdanken). Das ist ein gewaltiger Fortschritt.
Aber du hast trotzdem ein schlechtes Gewissen. Hättest du dieses schlechte Gewissen wohl auch vor 20, 30 Jahren gehabt? Ich wage zu behaupten: Nein! Denn damals nannte man einen Fötus noch Fötus (und nicht Baby) und vom "Schutz des ungeborenen Lebens" sprachen nur die selbsternannten "Lebensrechtler", diese fundamental-christlichen Abtreibungsgegner, und nicht alle Parteien, von rechts bis links.
Was ich sagen will, ist: Dein schlechtes Gewissen hat natürlich mit dem aktuellen gesellschaftlichen Klima zu tun. Und das ist leider rückläufig. Selbst so manche Frauenbewegten bzw. Linken reden inzwischen wie die Tiefschwarzen oder die "Lebensrechtler" - diese fanatischen Abtreibungsgegner, die Krankenschwestern bespitzeln und abtreibende Ärzte in den USA wie die tollwütigen Hunde erschießen.
Inzwischen haben diese fundamentalistischen Christen in Amerika erreicht, was sie in Europa noch anstreben: Die Abtreibung, dieser häufigste medizinische Eingriff bei Frauen, wird dort schon seit vielen Jahren nicht mehr im Medizinstudium gelehrt. Und es gibt kaum noch Ärzte, die es überhaupt wagen, die (noch) legale Abtreibung durchzuführen. Eigentlich tun es nur noch die alten ÄrztInnen, die das Elend der früher an illegalen Abtreibungen verbluteten Frauen kennen.
Ich meine also, du solltest kein schlechtes Gewissen haben, sondern dich freuen, dass du gesund bist und vielleicht irgendwann, wenn du willst und es in dein Leben passt, ein Kind zur Welt bringen kannst. Du solltest dich freuen, dass du in einem Land lebst, in dem Abtreibung nicht tödlich ist: Weltweit sterben jährlich 50.000 Frauen an illegalen Abtreibungen! Sie leben in Ländern, in denen Fanatiker ihnen im Namen des Glaubens oder der Sitten vorschreiben, auszutragen - auch wenn sie ungewollt schwanger sind oder gar vergewaltigt wurden.
In Deutschland gibt es, im Gegensatz zu unseren Nachbarländern, übrigens bis heute kein Recht von Frauen auf Abtreibung. Frankreich und Italien zum Beispiel haben die "Fristenlösung", das heißt, innerhalb der Frist von drei Monaten kann eine Frau selbst bestimmen, ob sie austragen will oder nicht. Deutschland gewährt mit der "Fristenlösung mit Beratungspflicht" sozusagen nur die "Gnade" der Abtreibung - so zwei ExpertInnen zustimmen. Auch das ist ein Sieg der Gegner, der Frauenentmündiger.
Aber Frauen treiben ab, wenn sie ungewollt schwanger sind und keine Perspektive für sich und ein Kind sehen. Oft: keine Perspektive für noch ein Kind. In Deutschland sind zwei von drei abtreibenden Frauen bereits Mutter, oft mehrerer Kinder. Frauen treiben ab, in der ganzen Welt, egal, was die Sitten oder Gesetze sagen. Denn sie wissen, was ein Kind für ihr Leben bedeutet. Sie vor allem haben schließlich die Verantwortung.
Du solltest dich also freuen, dass du ein weitgehend selbstbestimmtes Leben führen kannst und einen Partner hast, der zu dir hält. Und solltest du jemals ein Kind bekommen, wird es der richtige Moment sein für dich - und für das Kind.
Du musst dich nicht schämen. Die Menschen, die ungewollt Schwangeren diese Scham suggerieren, sollten sich schämen!
Mit lieben Grüßen
Alice Schwarzer