Ask Alice: Warum Frauenerniedrigung?

ich besuche die 12. Klasse einer Gesamtschule. Seit längerem setze ich mich nun schon mit dem Frauenrecht und der Gewalt gegen Frauen auf der ganzen Welt auseinander und bin sehr bestürzt über alles, was ich bisher erfahren habe. Ich bewundere Sie sehr für all das, was Sie in all den Jahren erreicht haben. Mich schockiert es immer wieder sehr, wie wenig gerade meine Generation über Vergewaltigung, Beschneidung, Gewalt in der Ehe, Zwangsheirat, Pornografie, frauenfeindliche Werbung im Fernsehen, Internet oder Zeitungen/Zeitschriften, Stellung der Frau in der Bibel und dem Koran, Bedeutung des Kopftuches, Frauenrechten etc. wissen.

Die meisten meiner Altersstufe gehen davon aus, dass ein Mädchen oder eine Frau in Deutschland sehr sicher ist und in jeder Hinsicht mit dem Mann gleichgestellt ist. Diese Meinung teilte ich bis vor ein paar Monaten auch noch. Eine schlimme Vergewaltigung in Worms war der Ausschlag dafür, warum ich nachdenklich wurde. Und je mehr ich erfuhr, desto entsetzter wurde ich - und je mehr stieg der Wille in mir auf, etwas zu verändern.

Meine Frage an Sie: Was sehen Sie als Hauptursachen, weshalb viele Männer Frauen erniedrigen? Ich hoffe sehr, dass ich mit meinem Text nicht unnötig Ihre Zeit in Anspruch nehme. Ich habe noch nie zuvor eine derartige E-Mail geschrieben.

Christina, 18, Biblis

 

Liebe Christina,

es ist wohl so, dass man es selber direkt oder indirekt erleben muss - wie du den Vergewaltigungsfall in Worms - damit man nicht länger die Augen verschließt, was ja auch verständlich ist. Wenn man 18 ist, wie du und deine KlassenkameradInnen, dann will man auch einfach das Leben genießen und sich nicht gleich das Elend der ganzen Welt reinziehen. Die Probleme kommen noch früh genug.

Dass du dich jetzt entschlossen hast, nicht länger wegzusehen, finde ich richtig. Aber bitte, Christina, vergiss darüber nicht, dass das Leben auch Spaß machen kann! Lass das Elend der anderen nicht zu tief in dich hineinkriechen. Denn davon haben diejenigen, denen es nicht so gut geht wie dir, auch nichts. Mein Rat wäre: Tu beides. Genieße dein Leben - und vergiss darüber nicht das Elend der Welt!

Du fragst, warum so viele Männer Spaß am Erniedrigen von Frauen haben. Darüber sind viele dicke Bücher geschrieben worden. Aber ich will versuchen, dir in ein paar Sätzen zu antworten.

Zum einen ist es einfach eine Machtfrage: Menschen haben leider Tendenz, das zu tun, was sie tun können - solange ihnen nicht Einhalt geboten wird. Das Problem ist, dass Frauen lange abhängig von Männern waren: ökonomisch, juristisch, sozial, emotional. Und zu viele Männer haben sich daran gewöhnt, die Herren zu sein - und Frauen wie Sklavinnen zu behandeln.

Stell dir vor: Bis 1976 konnte ein Ehemann in Deutschland noch die Stelle seiner Frau kündigen (so sie überhaupt berufstätig sein durfte) - ohne die Frau auch nur zu fragen! Und mit dem Argument: Meine Frau macht ihren Haushalt nicht ordentlich. Dieses Gesetz gibt es nicht mehr. Und auch das Denken ist von gestern.

Das ist der Frauenbewegung zu verdanken, die die Machtfrage gestellt hat. Sie hat gesagt: Frauen sind so viel wert wie Männer, sie müssen die gleichen Chancen und Rechte haben! Und da ist in den vergangenen dreißig Jahren sehr viel passiert. Es geht voran. Aber, du hast recht, das genügt noch nicht.

Das Zweite ist, dass gerade verunsicherte Männer - also solche, die sich früher auf dem Rücken der Frauen groß gefühlt haben - dass gerade diese Männer Tendenz haben, Frauen zu demütigen und zu unterdrücken. Ein Mann, der mit sich im Reinen ist, hat das nicht nötig. Und diese Verunsicherung von Männern hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass Frauen immer selbstbewusster werden. Was gut ist. Beide Geschlechter müssen durch diese Phasen der Veränderung durch. Und über all das müssen wir offen und unerschrocken reden.

Du, Christina, bist auf jeden Fall auf dem richtigen Weg. Du schaust über deinen Tellerrand hinaus, bist mitfühlend und wirst zweifellos ein sinnvolles Leben führen. Also: Nur Mut! Aber die Lebensfreude nicht vergessen.

Das wünscht dir

deine Alice Schwarzer