Astrid Lindgrens ganz andere Seite
Am 1. September 1939, als Deutschland Polen überfiel und den Zweiten Weltkrieg auslöste, schrieb Astrid Lindgren: „Heute hat der Krieg begonnen. Niemand wollte es glauben.“ Damals war sie zweiunddreißig. Sie hatte zuvor als Sekretärin im „Königlichen Automobilclub“ gearbeitet, wo sie ihren Ehemann Sture kennengelernt hatte, war Mutter zweier Kinder, und bis auf einige Kurzgeschichten in Zeitschriften hatte sie noch nichts veröffentlicht.
Lindgren wohnte im Stadtteil Vasastan in Stockholm. Diese luftige, lichtdurchflutete Inselstadt versinnbildlicht das Lebensgefühl, das die sechs Kriegsjahre für Lindgren bestimmte. In den Tagebüchern beschreibt sie anschaulich ihr Oasen-Dasein, abgeschieden, aber halbwegs angenehm, eingeschränkt nur von Lebensmittelrationierungen, dem zeitweise lahmliegenden öffentlichen Verkehr, von Verdunkelungen, dem militärischen Bereitschaftsdienst des Mannes und steigenden Preisen. Sie lebte relativ sicher in einem Land, das der Krieg aussparte, vor dessen Grenzen die Tötungsmaschinerie haltmachte, obwohl die Fronten an allen Seiten näher rückten; durch den Überfall Polens, den sowjetischen Angriff auf Finnland, die Besetzung Dänemarks und Norwegens durch die Nazis, schließlich durch die sowjetische Übernahme des Baltikums, das vorher in deutscher Hand gewesen war.
Überall hatte faschistischer und stalinistischer Terror Millionen ermordete Menschen zur Folge, Ausgebombte, Verhungerte, Gefallene. Aber Schweden, das auf einer der Landkarten, die Lindgren zur Orientierung dienten, unmarkiert blieb – eine helle Fläche –, war davon ausgenommen. Hier konnte man spazieren gehen im Park, Sonne und Frühlingsblüher genießen, Weihnachten feiern am festlichen, reichgedeckten Tisch. Und doch ist jeder Tag dieser Aufzeichnungen auch von der Angst geprägt, das friedliche Leben konnte jeden Moment ebenfalls der Krieg erfassen.
Die Neutralität Schwedens ermöglichte es Lindgren, eine Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg einzunehmen, die innerhalb des kriegsgeschüttelten Europas einzigartig war. Es ist der Blick derjenigen, die vom privilegierten Standpunkt der Verschonten aus die Katastrophe verfolgt und zugleich aus diesem unheimlichen Wunder des Verschontseins ein Gefühl der Verantwortung entwickelt: Lindgren hat sich lebenslang für den Frieden starkgemacht. Damit spiegelt sich in ihr die Rolle, die auch das politische Schweden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für sich angenommen hatte als unermüdliche Weltpolizei. „Über Frieden zu sprechen“, sagte Lindgren 1978, in ihrer Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, „heißt ja, über etwas zu sprechen, das es nicht gibt.“
Was Lindgren veranlasste, bei Ausbruch des Krieges ein Tagebuch anzulegen, ist aus den Aufzeichnungen nicht zu erfahren. In einem Interview gab sie später folgende Erklärung: „Zum ersten Mal hatte ich eine tiefe politische Überzeugung.“ Die ganze Familie wurde in die Diskussion über das Kriegsgeschehen einbezogen, auch die Kinder sammelten Informationen, manchmal las Lindgren ihnen aus dem Tagebuch vor. Aus Zeitungen, dem Radio, mit Hilfe von Kartenmaterial und den Berichten von Flüchtlingen verschaffte sie sich ein Bild von Frontverläufen, scheiternden Friedensverhandlungen, Bombenangriffen. Die furchtbaren Auswirkungen, die das Kriegsgeschehen auf das Leben der Menschen hatte, führte ihr der „Schmuddeljob“ vor Augen; seit 1940 arbeitete Lindgren abends in der Abteilung für Briefzensur des schwedischen Nachrichtendienstes. Sie hatte in der Schule Deutsch gelernt und konnte die deutsche Post lesen, die aus den okkupierten Ländern kam oder aus Schweden. Ihre Aufgabe war es, die Briefe auf landeskritische Inhalte zu prüfen. Manchmal schrieb
sie einen ab und nahm die Abschrift mit nach Hause, was streng verboten war.
„Niemand wollte es glauben.“ Möglicherweise löste die Unvorstellbarkeit der Tatsache, in einem aufgeklärten Europa könne ein Land ein anderes einfach überfallen und annektieren, den Impuls aus, sich mit Hilfe eines Tagebuchs darüber klarzuwerden, was da eigentlich geschah. Denn schon damals, vor Beginn ihrer Karriere, hatte Lindgren die Begabung, auf scheinbar einfache Weise an Wesentliches zu rühren: „Deutschland und Russland haben das Land zwischen sich aufgeteilt. Man kann kaum glauben, dass so etwas im zwanzigsten Jahrhundert passiert.“
Das Besondere am Tagebuch ist, dass unmittelbar aus den Ereignissen heraus gesprochen wird. So eröffnet sich heutigen Lesern vor einem Wissenshorizont, den der Abstand von mehr als 70 Jahren mit sich bringt, das Geschehen so, wie es sich Lindgren im schwedischen Insel-Dasein von Tag zu Tag darstellte: Zuvor Unvorstellbares erweist sich immer wieder als Wirklichkeit. Das Ausmaß der Gewalt, die täglichen Schreckensmeldungen übersteigen jede Vorstellungskraft. Unter anderem wird deutlich, wie stark sich die schwedische Bevölkerung vom stalinistischen Regime bedroht fühlte. Die Angst vor einer sowjetischen Invasion überstieg die Angst vor der Besetzung durch die Nazis; ein Verhältnis, das sich erst langsam änderte. 1940 bekannte Lindgren, lieber mit den Deutschen paktieren zu wollen, als sich den Sowjets auszuliefern.
Lindgren, geboren 1907, wurde als Kind und junge Frau von der Atmosphäre der 20er und 30er Jahre geprägt, einer Zeit gesellschaftlicher Demokratisierungsprozesse, emanzipatorischer Bewegungen, künstlerischer Experimente in Schweden und Deutschland. Beide Länder waren sich in ihrer gesellschaftlichen Offenheit und neuen moralischen Freizügigkeit nah.
"Die Menschheit hat den Verstand verloren." Astrid Lindgren 1942
Hier wie da gewannen Gewerkschaften an Einfluss, erhielten Frauen endlich das Wahlrecht, gab es die „neue Frau“ der Sachlichkeit, die sich über einen androgynen Kleidungsstil und Kurzhaarfrisuren ausdrückte, die auch Lindgren ausprobierte. In ihrer Jugend trug sie öfter Schlips, Anzug und Hut auf dem Bubikopf. Aus der Sowjetunion dagegen kamen seit der Oktoberrevolution Horrornachrichten. Russische und jüdische Künstler und Intellektuelle waren auf der Flucht. Der Rote Terror wütete, die Bolschewiki setzten ihren Machtanspruch mit Deportationen und Erschießungen durch.
Vor diesem Hintergrund werden die zunächst widersprüchlichen Reaktionen auf den faschistischen Terror nachvollziehbarer, auch das nur zögerliche Begreifen, dass nicht allein Hitler, „die Bestie“, und sein Regierungsapparat verantwortlich waren für die grausame Tötungsmaschinerie, sondern dass sie tatsachlich von einer Bevölkerung unterstutzt wurde, die vor kurzem noch in einer jungen Republik mit einer Hauptstadt gelebt hatte, die mit ihren Charleston- und Tango-Tanzbars, den Stummfilmen der UFA, den Einflüssen des Bauhaus oder des Theaters Max Reinhardts als Kulturmetropole Europas galt. Zuweilen nimmt Lindgren die deutsche Bevölkerung gegen die Regierung in Schutz. Andererseits schreibt sie schon Pfingsten 1940 mit Rückblick auf den Ersten Weltkrieg: „Mit einem Volk, das im Abstand von etwa 20 Jahren so gut wie die ganze übrige Menschheit gegen sich aufbringt, kann etwas nicht stimmen.“
So macht Lindgrens Tagebuch auch deutlich, mit welcher Geschwindigkeit und Absolutheit sich kollektives Bewusstsein von Grund auf verändern kann, wie gefährdet offene Gesellschaften sind und wie wichtig das manchmal mühsam erscheinende demokratische Aushandeln politischer Entscheidungen ist.
Die Autorin der Kriegstagebücher war noch keine Schriftstellerin. Aber sie hatte schon angefangen, für ihre Tochter Karin die Geschichte der Pippi Langstrumpf zu erfinden. Der Name war ein Einfall der Siebenjährigen, die in den Kriegsjahren häufig krank war. Astrid Lindgren erfand am Krankenbett eine Figur zum Namen und eine Geschichte zur Figur. Was im Winter 1941 als Gutenachtgeschichte begann, schrieb Lindgren auf, als sie wegen eines verstauchten Fußes das Haus nicht verlassen konnte; vielleicht schon mit dem Gedanken an eine Veröffentlichung.
In den Kriegstagebüchern lässt sich die Entwicklung zur Schriftstellerin gut beobachten. Ein starker Gestaltungswille ist erkennbar. Auch die für Lindgren später so typische direkte Sprache mit der ihr eigenen Komik und Melancholie und ihrer Art, Wut und Angst in Ironie aufzulösen, findet sich. Das Kriegsgeschehen wirkt neben kleinen, zuweilen idyllischen Szenen von Urlauben in Småland, unbeschwerten Mittsommernächten oder Ausflügen in den Skansenpark in Stockholm nur umso grotesker. Der beinahe zwanghafte Drang, Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke zu notieren und die gehorteten Vorräte und Gerichte von Familienessen aufzulisten, spiegelt eine dauerhafte Sorge um die Kinder wider, die Angst, nicht mehr genug warmes Wasser, Gas und Lebensmittel zu haben, gibt aber auch Auskunft über Mentalitat und Essgewohnheiten: Kaffee und Zucker spielen eine große Rolle.
Eigene Gemütszustände dagegen erwähnt Lindgren selten. Nie gibt sie der dusteren Veranlagung nach, die manchmal unterschwellig zu ahnen ist und Lindgren von Kindheit an begleitet haben muss, wie Birgit Dankert in ihrer 2013 erschienenen Biographie zeigt. Lindgren hält keine Innenschau, macht sich fast nie zum Gegenstand der Betrachtung. Nur einmal, als ihr Ehemann sich 1944 in eine andere Frau verliebt und Lindgren verlassen will, notiert sie am 19. Juli, kurz nach der Invasion der Alliierten in der Normandie: „Blut fließt, Menschen werden zu Krüppeln, überall Elend und Verzweiflung.
Und ich kümmere mich nicht darum. Nur meine eigenen Probleme interessieren mich. Sonst schreibe ich immer ein wenig darüber, was zuletzt passiert ist. Jetzt kann ich nur schreiben: Ein Erdrutsch ist über mein Leben hereingebrochen, und ich bleibe einsam und frierend zurück.“
Wie sehr Lindgren unter dem Ehezwist litt, wird an den langen Pausen zwischen den Einträgen am sichtbarsten – ausgerechnet in einer der entscheidenden Phasen des Krieges schreibt sie am wenigsten. Schlaflosigkeit, Nervosität, Traurigkeit erwähnt Lindgren in verharmlosender Beiläufigkeit. Dabei war Sture ein halbes Jahr lang kaum zu Hause, verfiel mehr und mehr dem Alkohol, der 1952 zu seinem frühen Tod führte.
Lindgren gestattet sich weder Larmoyanz noch Selbstmitleid. Sie bleibt diszipliniert, schreibt nur umso pointierter. Und wenn sie wie von oben auf „die Lindgrens“ schaut oder sich dafür entschuldigt, längere Zeit nichts berichtet zu haben, wendet sie sich bereits an imaginäre Leser. Schließlich kristallisiert sich die entscheidende Erkenntnis heraus: „Am glücklichsten bin ich, wenn ich schreibe.“
Es würde noch einige Jahre dauern, ehe sie mit Pippi Langstrumpf und Büchern wie „Ronja Räubertochter“, „Karlsson vom Dach“ oder „Die Brüder Löwenherz“ zu Weltruhm kommen und ganze Generationen mit Figuren prägen sollte, die ikonographisch sind für unser heutiges Verständnis von Kindheit und von Kindern: Menschen mit eigener Persönlichkeit und Anspruch auf eigene Rechte. Diese Kinder sind selbstständig und betrachten Autorität mit Skepsis. Wenn nötig, rebellieren sie. Starke, eigensinnige Mädchen, tomboys, behaupten den Freiraum, eigene Fehler machen zu können; das dürfte eines der wesentlichen Elemente in dieser sensiblen Balance aus Gemeinschaftsgeist und Selbstbestimmung sein, die Lindgrens fiktive Welten ausmachen.
Als Lindgren 1978 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, gab es in der westdeutschen Gesellschaft noch das so genannte „Elternrecht auf körperliche Züchtigung“. Lindgren wurde nahegelegt, ihre später berühmt gewordene Rede zu ändern. Sie ließ sich nicht beirren und hielt ein flammendes Plädoyer für eine gewaltfreie Erziehung.
Sie selbst war behütet aufgewachsen, von beiden Eltern geliebt, „geborgen und frei“. Ihr Sohn Lasse hatte es schwerer, und das markiert einen großen Bruch, eine Erschütterung in Lindgrens Leben.
Mit 18, als Volontärin bei der Ortszeitung von Vimmerby, wurde sie vom Chefredakteur schwanger. Sie entschied sich gegen eine Heirat, verließ das dörfliche Småland, die idyllische Jugend und zog nach Stockholm, um das Kind allein zu bekommen; ein Skandal. Lindgren wandte sich an die Frauenrechtlerin Eva Anden, die ihr zu einer Entbindung in Kopenhagen riet. Dort blieben Geburten anonym; als alleinstehende Frau mit unehelichem Kind wäre sie sonst gebrandmarkt gewesen. Ihren Sohn musste sie zu einer Pflegefamilie geben, während sie in Stockholm die Ausbildung zur Sekretärin beendete.
Obwohl sie ihn besuchte, sooft es ging, litt sie lebenslang an der Traurigkeit und den Schuldgefühlen, die diese drei Jahre in ihr auslösten (1931, nach der Heirat mit Sture, holte sie Lasse zu sich). Erst 1970 sprach Lindgren überhaupt zum ersten Mal darüber. Allerdings führte sie schon 1952 in einer eigenen Radiosendung Interviews mit unverheirateten Müttern und machte deren prekäre gesellschaftliche Stellung öffentlich zum Thema.
Das Kriegstagebuch beendete Lindgren Silvester 1945. Mit Blick auf die jüngste Politik heißt es dort hellsichtig: „Zwei denkwürdige Ereignisse hat das Jahr 1945 gebracht. Frieden nach dem Zweiten Weltkrieg und die Atombombe. Ich möchte wissen, was die Zukunft über die Atombombe sagen wird, ob sie eine ganz neue Epoche im Dasein der Menschen markiert oder nicht. Der Frieden bietet keine große Geborgenheit, die Atombombe wirft ihren Schatten auf ihn.“
Das Kriegsende fiel für Lindgren aber auch mit dem Beginn einer ungeheuer produktiven Schaffensphase zusammen. Nachdem der führende schwedische Verlag Bonniers das Manuskript von „Pippi Langstrumpf“ als zu gewagt abgelehnt hatte und es 1945 bei Rabén och Sjögren erschien, löste das eine Energie aus, die es ihr ermöglichte, in den folgenden zehn Jahren immerhin 20 Bücher zu schreiben.
"Ein Erdrutsch ist über mein Leben herein-
gebrochen."
Erst im Oktober 1953, ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes, bereiste Lindgren wieder das Land, das verantwortlich war für die europäischen Katastrophen, mit denen sie sich von ihrer schwedischen Enklave aus so intensiv beschäftigt hatte. Eine Lesereise führte sie nach Hamburg, Bremen und Berlin. Mit eigenen Augen sah sie die Spuren des Zweiten Weltkriegs. In Berlin traf sie die Kinder- und Jugendberaterin Louise Hartung wieder.
Hartung schleuste Lindgren heimlich nach Ost-Berlin hinüber, und so war Lindgren auf einmal auch konfrontiert mit der Lebenswirklichkeit, die jene „Russen“ aufzubauen begannen, die ihr immer die größte Angst gemacht hatten. Erst im Juni jenes Jahres war in der DDR der Volksaufstand durch sowjetisches Militär brutal niedergeschlagen worden. Lindgren wird die Atmosphäre der eisernen Indoktrinierung der kommunistischen Ideologie wahrgenommen haben, und vielleicht sah sie darin ein erstes Anzeichen fur den Beginn des Kalten Krieges, jenen „Schatten, den die Atombombe wirft“.
Aus der Begegnung mit Louise Hartung entwickelte sich eine enge Freundschaft. Einmal im Jahr trafen sich die Frauen in Berlin, Schweden, der Schweiz oder auf Ibiza. Louise sandte Geschenke und Blumen und schrieb: „Ich möchte deinen wunderschönen Körper liebkosen und küssen. Dein ganzes Wesen hat mich schon in deinen Büchern fasziniert, überwältigt.“
Beide unterhielten elf Jahre lang, bis zu Louises Tod, einen intensiven Briefwechsel, dessen mehr als sechshundert Briefe – sollten sie veröffentlicht werden – erneut eine unbekannte Seite aufdecken dürften an dieser scheinbar so vertrauten Persönlichkeit Astrid Lindgrens, so wie jetzt die Kriegstagebücher: Hinter der unbeschwerten, freundlichen, heiteren Schriftstellerin als die Lindgren oft gezeichnet wird, zeigt sich hier auch ein desillusionierter Mensch, vielleicht zum ersten Mal in dieser Deutlichkeit.
Antje Rávic Strubel
Weiterlesen
Der Text ist das gekürzte Vorwort aus: Astrid Lindgren „Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939–1945“. Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch und Gabriele Haefs (Ullstein, 24 €). Ebenfalls 2015 erschienen: Jens Andersen „Astrid Lindgren. Ihr Leben“. Ü: Ulrich Sonnenberg (DVA, 26.99 €).