Astrid Passin: Sie resigniert nicht
Ein schmaler Pfad zieht sich am Ufer des Sees entlang, gesäumt von dichtem Schilf. Astrid Passin geht diesen Weg fast jeden Tag, meistens allein. „Ich komme hier zur Ruhe“, sagt sie. Seit der Geburt ihrer Tochter vor 14 Jahren lebt die 47-Jährige, die bis zum ersten Lockdown ein Modegeschäft geführt hat, in einer kleinen Gemeinde in Brandenburg, am südöstlichen Rand von Berlin.
Am 19. Dezember 2016 verlor sie ihren Vater, weil ein islamistischer Attentäter mit einem gekaperten LKW in den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz raste. Zwölf Menschen wurden getötet, etwa hundert Menschen verletzt, die meisten davon schwer. Ein Jahr danach wurden die Namen der Toten in die Stufen vor der Gedächtniskirche eingeschrieben, auch der ihres Vaters: Klaus Jacob. Er hatte den Weihnachtsmarkt zusammen mit seiner Lebensgefährtin besucht.
„Ich beschäftige mich jeden Tag mit dem Attentat“, sagt Astrid Passin. Sie tut das mit einer Beharrlichkeit, die Politiker schon bald nach dem Anschlag in Erklärungsnot brachte. Noch unter Schock stehend begann sie für die Betroffenen des Attentats zu sprechen. Für Angehörige, Verletzte, Ersthelfer. Viele sind bis heute auf Hilfe angewiesen. Astrid Passin gibt den Betroffenen eine Stimme. Sie sagt: „Es ist gut, dass die Reformen, die wir angeschoben haben, bei Hanau und Halle schon gegriffen haben.“ Bürokratische Hürden aber bleiben.
„Warum muss ein sechsjähriger Junge, der seine Mutter am Breitscheidplatz verloren hat, begutachtet werden, um finanzielle Unterstützung zu bekommen? Das ist unwürdig“, sagt sie, so ruhig und klar, wie sie alle Ungeheuerlichkeiten ausspricht. Kurz nach dem Attentat wurde ihr die Rechnung für die Obduktion ihres Vaters zugeschickt.
Wenige Tage nach dem Attentat, an Weihnachten 2016, kamen Angehörige zum ersten Mal in der Kapelle der Gedächtniskirche zusammen. Astrid Passin erinnert sich: „Es hat mich bewegt, wieviel Leid in diesen Gesichtern zu lesen war. Ich wollte niemanden überfordern, aber ich bin zu jedem hingegangen, weil ich wusste, wenn wir uns jetzt nicht miteinander verbinden, dann verlieren wir uns.“ Intuitiv ahnte sie, dass sie nach dem erlittenen Verlust auch noch zu Bittstellern werden würden, die immer wieder beweisen mussten, dass sie geschädigt wurden.
Wie Mohamad W., der als Ersthelfer von einem herabfallenden Balken schwer verletzt wurde. Immer wieder muss er Anträge ausfüllen, deren Amtsdeutsch er nicht versteht. Astrid Passin vertritt ihn nun gegenüber den Behörden. Ein geeigneter Rollstuhl konnte bisher nur über Spenden finanziert werden.
Wer damals am Tatort war, wird die Bilder des Schreckens nicht los. Woher nimmt sie ihre Kraft? „Ich komme aus einem Geschäftshaushalt und bin es gewohnt, die Dinge einfach anzupacken“, sagt sie. In ihrer Mutter hat sie einen großen Rückhalt. Und sie hat wieder mit dem Flamencotanzen begonnen. In den ersten Jahren nach dem Attentat konnte sie es nicht. „Mir wurde der Boden unter den Füßen weggezogen.“ Über ihren Vater zu sprechen, fällt ihr schwer. Sie sagt: „Mein Papi war ein kluger Mann, ein Abenteurer und Weltreisender. Er war auch oft als Opi im Einsatz. Eine große Hilfe für mich als alleinerziehende Mutter – also ein doppelter Verlust.“
Im Untersuchungsausschuss des Bundestags wurde das Versagen von Sicherheitsbehörden und Verfassungsschutz vor und nach dem Anschlag offensichtlich. Astrid Passin hört auf dem Podium zu. Was sie dort erlebt, hat ihr Vertrauen in den Rechtsstaat noch mehr erschüttert. „Die vorherrschende Amnesie mancher Zeugen ist schon auffällig. Ich habe oft den Eindruck, dass das Staatswohl über der Aufklärung steht.“
Astrid Passin plädiert für einen nationalen Gedenktag für die Opfer terroristischer Gewalt. Auf EU-Ebene ist es der 11. März. In diesem Jahr hat Astrid Passin in diesem Forum online gesprochen. Mit ruhiger Stimme sagte sie: „Extremismus kennt leider viele Formen. Hier darf nicht unterschieden werden, ob es rechter, linker oder islamistischer Terror war. Das Leid ist das gleiche.“
CHRISTINA BYLOW