Auch der Staat hat Mutterpflichten!

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In der DDR wollen Konservative sie zumachen: die Kinderkrippen und Kindergärten. Ihre Motte: "Schluss mit der Kollektiv-Erziehung! Das Kind gehört zur Mutter." In der BRD Haben inzwischen sogar Konservative einsehen müssen, dass öffentliche Kinderbetreuung gut ist für das Kind - und für die Mutter.
Nach fünf vergeblichen Versuchen früherer Regierungen ist es der jetzigen endlich gelungen, das Jugendwohlfahrtsgesetz zu reformieren. Danach sollen jetzt, zumindest theoretisch, "alle Kinder, für deren Wohl eine Förderung in Kindergärten, Tageseinrichtungen und Horten erforderlich ist", einen solchen Platz bekommen; das Nähere regeln die Länder. "Dies ist", so kommentierte die zuständige Jugend- und Familienministerin Ursula Lehr, "zwar nicht der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für jedes Kind, den ich gefordert habe, aber doch ein entscheidender Fortschritt."
Ein wirklicher Rechtsanspruch aller Drei- bis Sechsjährigen auf Kindergartenbetreuung wurde von den Ministerpräsidenten der Länder strengabgelehnt. Es sei nicht genug Geld da, hieß es. Dabei fehlt in der Bundesrepublik nur jedem vierten Kindergartenkind ein Platz - und den zu schaffen, würde weder die öffentliche Ordnung noch die öffentlichen Kassen ruinieren! Bei den Krippen und Kindertagesstätten sieht es dagegen viel düsterer aus: Dort gibt es nämlich laut Jugendbericht der Bundesregierung für höchstens drei Prozent aller Kinder unter drei Jahren einen Platz.
Warum, so fragt frau sich, haben die Landesväter sich mit ihrer vordergründigen Argumentation durchsetzen können? Warum erscheint es Frauenpolitikerinnen heute auch nahezu sinnlos, auf die Beseitigung der wirklich katastrophalen Unterversorgung bei den Krippen und Tagesstätten zu hoffen?
Mehr als in unseren Nachbarländern - das haben vergleichende Studien ergeben - sind Frauen in der Bundesrepublik Deutschland auch 1990 noch ideologischen Angriffen ausgesetzt, wenn sie Beruf und Familie kombinieren wollen. Das gipfelt in der Verdächtigung, Mütter würden durch "Fürsorgeentzug" ein späteres antisoziales oder gar kriminelles Verhalten ihrer Kinder begünstigen. Wenn mehr öffentliche Betreuung angeboten würde, so wird gefolgert, biete man den Frauen nur einen gefährlichen "Anreiz zur Erwerbstätigkeit", und das führe zu weiteren Schädigungen durch "Mutterentbehrung".
Was die Diskussion so schwierig macht: Die Anhänger dieses konservativen Familienmodells sind felsenfest davon überzeugt, sich auf wissenschaftliche Ergebnisse stützen zu können. Diese wissenschaftlichen Ergebnisse gibt es. Sie sind zwar längst überholt, haben aber in den 50er, 60er und sogar noch in den 70er Jahren so große Zustimmung und Verbreitung gefunden, dass sie aus den Köpfen der heute politisch Verantwortlichen nicht herauszukriegen sind.
Selbst Bundespräsident Richard von Weizsäcker, dem ich kürzlich erklärte, wie enttäuscht viele Frauen über die Unverbindlichkeit des neuen Jugendwohlfahrtsgesetzes sind, erinnerte sich prompt an solche Forschungsergebnisse. Tenor: Die Fürsorge, die ein Kind in den ersten Lebensjahren von der Mutter erhält, sei für seine spätere seelische Gesundheit von lebenswichtiger Bedeutung. Das heißt im Umkehrschluss natürlich, dass das völlige oder teilweise Fehlen der Mutter die Ursache von Leiden und seelischer Erkrankung sein kann.
Die Forscher, die dies als erste verbreiteten, waren R. A. Spitz mit seiner Untersuchung über Heimkinder ("Hospitalismus", 1945) und J. Bowlby mit den Studien "Mütterliche Betreuung und geistige Gesundheit" (1951), "Bindung und Verlust" (1969) und "Trennung, Angst und Zorn" (1973).
Schon aus den Titeln geht hervor, dass die Untersuchungen nicht das geringste mit der Erziehung in Kindergärten oder in anderen Einrichtungen zur familienergänzenden Betreuung von Kindern zu tun haben. Dennoch lebt ihr geistiges Vermächtnis fort. Spitz und Bowlby befassten sich mit Säuglingsheimen bzw. mit der dauerhaften Trennung von Kindern und Eltern und deren Folgen.
Eine Studie an 102 jugendlichen Delinquenten, die im Alter von 15 bis 18 Jahren in einem englischen Fürsorgeerziehungsheim lebten, habe gezeigt - so Bowlby - "wie die aus unbefriedigenden frühkindlichen Beziehungen entstandenen Ängste die Kinder dazu veranlassten, in antisozialer Weise auf spätere Anforderungen zu reagieren". Die meisten dieser frühkindlichen Ängste seien typische Reaktionen auf Mutterentbehrung gewesen.
Diese Thesen stießen rasch auf Widerspruch. Bereits 1979 fasste Michael Rutter vom Institut für Psychiatrie in London in einem Aufsatz Forschungsergebnisse aus den 70ern zusammen, die den Begriff der "Mutterentbehrung" (englisch: "maternal deprivation") als Generalschlüssel für alle seelischen, charakterlichen und intellektuellen Fehlentwicklungen der Kinder wieder in Frage stellten. Es seien ganz unterschiedliche psychologische Mechanismen für Entwicklungsstörungen verantwortlich, stellte Rutter fest.
So wirke sich zum Beispiel die Trennung von den Eltern weniger schädlich auf die Kinder aus als das Fortbestehen zerrütteter Familienverhältnisse. Die Mutterbindung unterscheide sich nicht so wesentlich von allen anderen Beziehungen des Kindes wie ursprünglich angenommen, und viele Kinder trügen durch eine Trennung von der ursprünglichen Familie überhaupt keinen Schaden davon.
Inzwischen hat die Forschung der letzten zehn Jahre, insbesondere in England, Deutschland und den USA(wo bereits 71 Prozent der verheirateten Mütter mit schulpflichtigen Kindern erwerbstätig sind) sogar die ursprüngliche Annahme widerlegt, dass die ausschließliche Betreuung und Erziehung des Säuglings und Kleinstkindes durch die Eltern eine notwendige Vorbedingung für seine optimale Entwicklung sei.
E. Kuno Beller, Professor für Kleinkindpädagogik an der Freien Universität Berlin, fasste diese neuen Ergebnisse jüngst so zusammen: Erstens haben viele Kinder unter drei Jahren mehr als eine Bezugsperson. Zweitens zeigen wissenschaftliche Untersuchungen, dass Kinder im Alter von 12 bis 18 Monaten ebenso häufig sichere Bindungen zur Mutter wie zum Vater hätten (die unsicheren Bindungen sind ebenfalls gleich verteilt). Und drittens ist erwiesen, dass gerade das Fehlen von weiteren Bezugspersonen neben der Mutter, der Mangel an Unterstützung für die Mütter, mit ungünstigen Persönlichkeitsentwicklungen der Kinder zusammenhängt. Beller folgert:
"Die Bindung eines Kindes zu mehr als einer Bezugsperson ist also eher förderlich für eine gesunde soziale und emotionale Entwicklung und keineswegs bedrohlich."
Außer Beller kommen noch mehr als 50 (fünfzig!) Untersuchungen zu dem Schluss, dass Kinder in "Kleinkindergärten" (also Einrichtungen für Kinder unter drei Jahren) mehr soziale Kompetenz und mehr Reife entwickeln als Kinder, die ausschließlich in der Familie betreut werden. Diese Kindergartenkinder würden durch ihre Gruppenerfahrungen selbstsicherer und selbstständiger, aber dennoch hilfsbereiter und kooperativer als die Familienkinder. Doch dies spricht sich einfach nicht herum.
Es besteht im übrigen ein wissenschaftlicher Konsens darüber, dass die Entwicklung der intellektuellen und sprachlichen Fähigkeiten des Kindes überhaupt nicht von der Betreuung durch die Mutter abhängig sind. Tizard und Mitarbeiterinnen stellten 1970 und 1974 fest, dass eine Gruppe von Kindern aus öffentlichen Erziehungseinrichtungen eine ganz normale Intelligenz entwickelten. Clarke-Stewart und Fein wiesen daraufhin 1983 nach, dass Kinder in Kindergärten oder "Kleinkindergärten" bei Intelligenztests sogar höhere Leistungen erzielen als Familienkinder.
Obwohl die gesellschaftlichen Vorbehalte gegen eine gezielte und professionelle Förderung der Entwicklung im Säuglings- und Kleinkindalter immer noch massiv sind ("Das Kind gehört zur Mutter"), hat sich die Forschung in der Kleinstkindpädagogik in den letzten Jahren rapide entwickelt. Diese neuere Forschung bezieht neben der Erziehung in der Familie auch die familienergänzenden Einrichtungen wie Krippen und Kindertagesstätten mit ein. Gleichzeitig hat sich das Forschungsgebiet verlagert. Das Kind steht nicht mehr ausschließlich im Zentrum der Forschung.
Das Interesse gilt mehr und mehr den Faktoren, die das Kind beeinflussen: der seelischen Verfassung der Eltern: ihrer (ehelichen) Beziehung, der Rolle des Vaters und der Qualität des Eltern-Kind-Verhältnisses. Wie sich nun die Erwerbstätigkeit der Mutter auf diese Faktoren und damit auf das Wohl des Kindes auswirkt, das- so hat sich gezeigt- ist vor allem abhängig von den Einstellungen der Eltern, der Zahl der Arbeitsstunden der Mutter, der Unterstützung durch das soziale Umfeld und - vom Geschlecht des Kindes. Jungen ertragen die Abwesenheit der Mutterschlechter als Mädchen-vermutlich Folge ihrer größeren Verwöhnung schon im Säuglingsalter.
Lois Wladis Hoffman von der Universität in Michigan berichtete jüngst über die Ergebnisse von 80 empirischen Untersuchungen zu diesem Themenkomplex: Mütter, die einem Beruf nachgehen, sind danach durchweg mit ihrem persönlichen Leben zufriedener, können besser mit Krisen und auch mit schwierigen Kindern umgehen. Sie haben weniger Depressionen als Hausfrauen. Sie misshandeln Kinderseltener. Die Bindungen zu ihren Kindern sind weniger von Abhängigkeit bestimmt, denn ihre Mutterrolle ist nicht die einzige Quelle ihrer Selbsteinschätzung. Erwerbstätige Mütter lösen sich auch leichter, wenn es für die Kinder Zeit wird, das Elternhaus zu verlassen. Besonders Mädchen reagieren auf die Berufstätigkeit der Mütter langfristig positiv: sie lehnen die traditionellen Geschlechterrollen ab und entwickeln ein höheres Selbstwertgefühl.
So ist das also. Die Erkenntnis, dass die Berufstätigkeit der Mütter fast nur positive Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder hat, ist nicht neu. Aber es ist beschämend, dass es immer und immer wieder bewiesen werden muss.

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Die Studien zum Nachlesen: Michael Rutter, "Maternal Deprivation, 1972/1978: New Findings, New Concepts, New Approaches", ChildDevelopment2, 19 79; E. Kuno Beller, "Kontrovers: Sollen Kinder schon mit zwei Jahren in den Kindergarten?", psychomed 2, 1989; Lois Wladis Hoffman, "Effects of Maternal Employment in the Two-Parent Family", American Psychologist 44 (2), 1989.

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