Meine Geschichte

In Würde leben

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Es erschüttert mich zutiefst, dass nach über einem Jahr noch keine der im Maßnahmekatalog zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs aufgelisteten Forderungen umgesetzt worden sind. Es heißt, die beste Rache sei ein glückliches Leben – nur stellt sich vielen Betroffenen täglich die ganz elementare Frage: Wie? Es geht nicht bloß um eine qualifizierte therapeutische Versorgung, sondern auch um eine finanzielle Absicherung.

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Bisher tritt man als nur eingeschränkt oder gar nicht arbeitsfähige Person als Bittstellerin um Almosen auf; wird als mutmaßliche Sozialbetrügerin behandelt, die sich unrechtmäßig Leistungen erschleichen will.

Ich wurde 22 Jahre lang in meinem Elternhaus körperlich, psychisch und sexuell misshandelt. Kein einziger Tag, an dem ich mich sicher fühlen konnte und nicht Gewalt ausgesetzt war. Mein Vater war Berufsoffizier und Politiker, ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft – und der Ideologie der Nazis, vor allem in seinen Erziehungsgrundsätzen, treu geblieben: Nur ja keine Zärtlichkeiten und kein Lob, damit man nicht verweichlicht. Schlechte Leistungen wurden bestraft, gute ebenfalls, denn gut war man nur, weil die Anforderungen zu niedrig gewesen waren, Misserfolge hatten zu unterbleiben, man durfte weder positiv noch negativ hervorstechen. Er hat mich nie eines Blickes ­gewürdigt und keine Gelegenheit ungenutzt gelassen, mir seine Verachtung zu zeigen. Für ihn war und blieb ich ein Nichts, trotz späterem Einser-Abiturs. Ich wusste, woran ich war. Bis zur Pubertät verging er sich an mir.

Kein einziger Tag, an dem ich mich sicher fühlte

Meine Mutter war unberechenbar, eine Sadistin, die mich ebenso lustvoll wie ausdauernd quälte, völlig willkürlich Regeln festlegte und wieder außer Kraft setzte, mir Befehle erteilte und mich umgehend dafür bestrafte, wenn ich ihnen Folge leistete, sich fortwährend Vergehen meinerseits ausdachte, für die sie mich bestrafen oder an meinen Vater verraten konnte. Sie schnüffelte in meinen gesamten Habseligkeiten auf der Suche nach etwas, das sie gegen mich verwenden konnte.

In einem Moment konnte sie die liebevolle Mutter sein und im nächsten übergangslos die keifende, prügelnde Furie. Sie liebte es, mich manchmal tagelang hinzuhalten, bis sie ihre Strafe vollzog, und zwar stets zu einem Zeitpunkt, wo ich mich schon in Sicherheit wog. Und dann steigerte sie sich in eine wahre Gewaltorgie, immer mit diesem heimtückischen Grinsen im ­Gesicht, das ich wohl nie vergessen werde.

Manchmal brachte sie mich nach einem  solchen Exzess zum Arzt, dem sie irgendwelche Märchen über die Herkunft der schweren Verletzungen auftischte – notfalls hatte ich sie mir angeblich selbst beigebracht. Oder sie ließ mich hungern oder zwang mich, Ungenießbares oder Wiedererbrochenes zu essen; sie gab mir im Hochsommer tagelang nichts zu trinken und erzählte dem Arzt, zu dem sie mich, völlig dehydriert, brachte, ich hätte ja nichts trinken wollen. Was der Arzt ihr glaubte und wofür er mich ausschimpfte und die arme Mutter eines solchen Kindes bedauerte. Sie richtete mich zu, Männern zu gefallen, und ließ diese sich an mir vergehen und bestrafte mich danach dafür, dass ich so ein verdorbenes Flittchen sei. Ich war noch nicht mal im Schulalter. Die Verletzungen im Genitalbereich, die ich mir natürlich angeblich selbst zugefügt hatte, ließ sie manchmal tatsächlich medizinisch versorgen, meist behandelte sie selber. Ich könnte noch stundenlang fortfahren …

Gleichwohl muss ich gestehen, dass nicht die körperlichen und auch nicht die sexuellen Misshandlungen für mich am schlimmsten waren, denn das waren zeitlich begrenzte Episoden. Wirklich schlimm, und das bis zum heutigen Tage, war der von permanenter Angst bestimmte Alltag mit meiner Mutter. Die Täterlogik, dass ich ja selber schuld sei und durch und durch verdorben; dass es also an mir liege, wie ich behandelt werde, ich müsste eben nur brav und gut genug sein, hatte ich mir schon früh zu eigen gemacht.
Nach außen hin waren wir eine heile ­Familie, und sollten doch mal Risse in der Fassade entstanden sein, war klar, wen man dafür verantwortlich machen und bestrafen würde.

Ebenso klar war mir, dass mir niemand glauben und dass ich zur Strafe in ein Heim kommen würde, sollte ich nicht mehr den schönen Schein wahren oder gar mein Schweigen brechen. Im Übrigen war es in Soldatenfamilien seinerzeit normal, Kinder zu schlagen, gerne in Gegenwart Außen­stehender, um zu demonstrieren, wie gut man seine Kinder erziehe.

Ich konnte nicht länger weglaufen.

Mit 22 Jahren gelang mir die Flucht. Ich studierte Medizin, bekam meine Wunschtochter, die ich ohne Kita und Ganztagsschule erzog, denn derlei gab es damals dort, wo ich wohnte, noch nicht, und die heute eine selbstbewusste junge Frau ist und ihrerseits studiert. Ich rannte wie besessen in meinem Hamsterlaufrad, um mich nur ja nicht erinnern zu müssen, ignorierte die Bedürfnisse meines schon damals chronisch erkrankten Körpers und erst recht meine seelische Befindlichkeit, arbeitete 20 und mehr Stunden am Tag – bis zum Umfallen. Im Alter von 40 Jahren war ich erstmals gezwungen, mich mit meiner Biografie auseinanderzusetzen, denn ich konnte nicht länger davor weglaufen.

Heute bin ich 44 Jahre alt und körperlich und seelisch schwer krank. Bei meinem „Seelenhandschuh“, wie ich meinen Therapeuten nenne, erfahre ich erstmals Wertschätzung und Geborgenheit, und dafür bin ich sehr dankbar! Ohne ihn wäre dieser mutige Brief nicht möglich. Dankbar wäre ich, wenn Menschen wie mir endlich geholfen würde, damit auch wir in Würde leben und nicht nur irgendwie-irgendwo überleben müssen. Man darf nicht immer nur auf die TäterInnen schauen, man muss auch mal den ­Opfern einen Blick, möglichst einen liebevollen, gönnen und ihnen die Zuwendung zuteil werden lassen, die sie schon als Kinder dringend gebraucht hätten.

Kirsten D., 44, Hamburg

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