Syrien: Auf dem Weg in den Gottesstaat?
Ich habe sie seit Februar 1979 schon zu oft gesehen: Die fahnenschwenkenden „Rebellen“ in islamischen Ländern, die die autokratischen Herrscher verjagen. Das jubelnde Volk auf der Straße, das sich über die Befreiung vom Tyrannen freut. Und die Folgen. Bis hin zu dem Punkt, an dem dieses einst jubelnde Volk sich fragt, ob der Wechsel wirklich etwas gebracht hat - oder ob das Übel von damals nicht das geringere Übel gewesen ist.
So geschehen in Iran, wo der autokratische Schah mit Billigung und Unterstützung des Westens ausgetauscht wurde gegen die umfassende Gewaltherrschaft der „Gotteskrieger“. So in Irak, wo der autokratische Herrscher Saddam Hussein in einem völkerrechtswidrigen Krieg des Westens (an dem sich die Regierung Schröder nicht beteiligte) ausgetauscht wurde gegen ein total rechtsfreies Chaos mit hartem islamistischem Kern. So in Libyen, wo der selbstherrliche Hoffnungsträger und „König von Afrika“, Muammar al-Gaddafi, durch eine völkerrechtswidrige Allianz des Westens (an der die Regierung Merkel sich nicht beteiligte) vom Thron gebombt wurde und jetzt Clans und die Islamisten herrschen.
Der sogenannte "Rebellenführer" in Syrien ist ein radikaler Islamist
Jetzt also Syrien. Der sogenannte „Rebellenführer“ Abu Muhammad al-Jolani, der sich jetzt wieder Ahmed al-Sharaa nennt, ist ein radikaler Islamist, der sich zurzeit moderat gibt. Wie lange noch? Seine Organisation „Hajat Tahrir al-Scham“ (HTS) wurde bisher im Westen zu Recht als „islamistische terroristische Vereinigung“ geführt.
Gleichzeitig mit diesen „Gotteskriegern“ bekämpften und bekämpfen Kurden und zivile Gegner das Regime des Autokraten Baschar al-Assad, diesen Sohn eines tyrannischen Vaters, der es nicht geschafft hat, es viel besser zu machen.
Diesmal scheint der Westen überrascht, ja überrumpelt von den Ereignissen und macht sich Sorgen. Zu Recht. „Das syrische Volk muss entscheiden“, erklären westliche Staatschefs - und bombardieren gleichzeitig in Syrien Stützpunkte des islamistischen IS (USA) sowie ex-staatliche Waffendepots in Ostsyrien (Israel), die in falsche Hände geraten könnten.
Syrer und Syrerinnen, die unter Assad gelitten haben, jubeln in Syrien und der ganzen Welt. Sie hoffen.
Klarer Profiteur des syrischen Wechsels ist Recep Tayyip Erdoğan
Erste Analysen benennen den türkischen Autokraten Recep Tayyip Erdoğan als klaren Profiteur des syrischen Wechsels. Er wird die über vier Millionen syrischer Flüchtlinge in seinem Land zurückschicken und die schon jetzt besetzte „Pufferzone“ jenseits der türkischen Grenze zu Syrien dauerhaft annektieren. Außerdem wird der überzeugte Islamist und Muslimbruder (wie al-Sharaa) Erdoğan - der früher als Oberbürgermeister von Istanbul offen für einen „Gottesstaat“ warb (und dafür vom linken Militärregime ins Gefängnis gesteckt wurde) - die von ihm angestrebte Position als Anführer der islamischen Welt weiter festigen.
Macht der Westen erneut den Fehler, die Falschen zu unterstützen? Oder werden die freiheitlich gesinnten Syrer (Syrerinnen sind, zumindest innerhalb von Syrien, schon jetzt kaum noch zu sehen) es schaffen, die offensichtlich stärkste Kraft innerhalb der „Rebellen“, die Anhänger eines „Gottesstaates“, in Schach zu halten? Haben sie wirklich eine Chance, in Zukunft in Freiheit und Frieden zu leben?
Wir werden sehen.
ALICE SCHWARZER
PS vom 11.12.2024 Die neuen Herrn von Syrien verlieren keine Zeit. Gerade scheint Shadi al-Waisi, der aktuelle Justizminister, verkündet zu haben, das alle Richterinnen ihre Prozesse an Richter zu übergeben hätten. Frauen dürften im Post-Assad-Syrien kein Recht mehr sprechen. Das wird nur der erste Schritt sein. Der neue Herrscher Ahmed al-Sharaa hat noch Kreide gefressen. Aber als überzeugter „Gotteskrieger“ und „Muslimbruder“ wird er bald die Maske fallen lassen und die Scharia einführen. Das heißt, sobald er fest im Sattel sitzt. Dazu muss er allerdings noch die Kurden, einige Minderheiten wie die Jesiden und den zivilen Widerstand gegen Aassad besiegen. Die aus Ägypten kommenden Muslimbrüder sind die Mutterorganisation des Islamismus, des politischen Islam. Zur Besiegung der „Ungläubigen“, Juden allen voran, paktierten sie einst auch mit Hitler. - Der Jubel wird den vom Autokraten Assad befreiten demokratischen Kräften also wohl sehr bald im Halse stecken bleiben. Wiederholt sich die Geschichte des Iran? Auch dort wurde der autoktatische, westlich orientierte Schah vertrieben in der Hoffnung auf eine gerechtere Zukunft. Heute gilt für so manche und manchen im Horror des iranischen „Gottesstaates“ die Rückkehr des im amerikanischen Exil lebenden Schahsohnes Reza Pahlavi als letzte Hoffnung.