Erklär mir die Liebe!
Wir küssen uns, mein Freund und ich, aber Geschlechtsverkehr machen wir noch nicht", sagt die elfjährige Jennifer, "das macht man ja erst mit zwölf." Anja widerspricht: "Nein, das macht man erst mit 13." Ivonne fragt: "Warum eigentlich erst so spät?" Jetzt meldet sich Esther Schonbrood zu Wort. "Das wäre ja schon im nächsten oder übernächsten Jahr. Mal ehrlich, wünscht ihr euch das wirklich?" Die Fünftklässlerinnen machen große Augen. "Muss man das gar nicht? Das ist ja gut!" Solche Seufzer der Erleichterung bekommt die Essener Ärztin mehrmals pro Woche zu hören.
Seit zehn Jahren und 150 Mal im Jahr steht Dr. Esther Schonbrood vor pubertierenden Mädchengruppen und klärt sie auf: über Klitoris, Koitus und Kondome. Vor allem aber darüber, dass sie nicht alles tun müssen, was ihnen Bravo, RTL II und das Internet suggerieren. Denn der Ärztin war aufgefallen, dass "mich plötzlich elfjährige Mädchen nach Analverkehr und Sadomaso-Sex fragten und wissen wollten, ob man Jungs wirklich einen blasen müsse". Der "Erwartungsdruck" auf die Mädchen sei in den letzten Jahren enorm gestiegen. Weil sie, ganz wie die Jungs, an allen Ecken und Enden mit Sex und Pornografie konfrontiert sind und Handypornos und Internet-Blondinen "für bare Münze nehmen" respektive "für Aufklärung halten".
Da sind die Eltern gefordert. Aber die unterliegen aufgrund des medialen Bombardements ihrer Kinder immer öfter dem Trugschluss, die wüssten ohnehin schon alles oder gar mehr als sie selbst. So manche Mutter scheut sich, Stellung zu beziehen und Grenzen zu setzen, weil sie ihrer Tochter lieber coole Freundin als strenge oder gar prüde Erziehungsberechtigte sein will. Um Mütter (oder Großmütter, Pädagoginnen und natürlich auch Väter) zu einer engagierten Aufklärung zu ermutigen, hat Esther Schoonbrood, selbst Mutter zweier Töchter, gemeinsam mit der Journalistin Barbara Dobrick jetzt einen Aufklärungs-Ratgeber herausgegeben, in dem sie das Ende der Beliebigkeit fordert: "Erklär mir die Liebe!"
EMMA-LeserInnen sind der Ärztin bereits begegnet. Chantal Louis und Bettina Flitner begleiteten sie für das EMMA-Dossier "Zu früher Sex?" (EMMA 2/2006) in eine Aufklärungsstunde an die Gesamtschule Essen-Nord. Das Projekt, das Schoonbrood gemeinsam mit 80 Kolleginnen der "Ärztlichen Gesellschaft zur Gesundheitsförderung der Frau" (ÄGGF) an die Schulen führt, war zwischen all den libertinären Tönen durch klare Worte aufgefallen. Die Ärztinnen, die die Politik bereits wegen des Anstiegs der Teenager-Schwangerschaften alarmierten, hatten auch die "brisante Mischung aus massenmedialer Stimulation und Halbwissen" beklagt, die für Mädchen so oft unschöne Konsequenzen haben kann.
Ein Jahr später lud Alice Schwarzer die Aufklärerin in eine Talkshow ein, Titel: "Früher, härter, unromantischer – Sex ohne Liebe." Dort fiel sie Barbara Dobrick auf, die ihr vorschlug, ihre Erfahrungen zu einem Buch zu machen. Schoonbrood war begeistert.
Sie fordert mit "Erklär mir die Liebe!" von Eltern etwas ein, das im Zeitalter des Anything goes häufig verloren gegangen ist: Haltung. "Früher brauchten Eltern Mut, nicht die prüde und repressive Sexualmoral weiterzugeben. Heute braucht man Mut, um sich tatsächlich als Erzieherin und Erzieher der nachwachsenden Generation zu verstehen und zu verhalten." So finden Mütter, Väter & Co. nicht nur die klassischen Infos über Eisprung und Embryo, sondern praktische und einfühlsame Tipps für Gespräche über Pornografie und Prostitution. Denn: "Mädchen brauchen in der übersexualisierten und durch Pornografie beeinflussten Gegenwart dringend Unterstützung! Sie brauchen Hilfe von Erwachsenen, die Aufklärung mit Wertungen und Maßstäben verbinden, so dass Mädchen zuversichtlich und selbstbewusst reif werden können für ein erfülltes Leben und ein erfülltes Liebesleben. Allein können sie das schwerlich schaffen."
Dr. Esther Schonbrood/Barbara Dobrick: Erklär mir die Liebe (Zabert Sandmann, 19.95 Euro)