"Frau Hirsi Ali, was ist eine Frau?"
René Scheu Ich beginne ganz elementar. Würden Sie von sich behaupten, Sie seien eine Frau?
Ayaan Hirsi Ali Hahaha! Fragen Sie mich das im Ernst?
Klar. Ernst.
Sie wollen mich aufs Glatteis führen?
Höchstens ein wenig.
Okay, ich spiele mit: Ja, ich bin eine Frau. Absolut. Ohne Zweifel. Und ich sage es nicht nur, ich bin tatsächlich eine, ich kann das belegen. Denn ich verfüge über ein Chromosomen-Paar XX. Aber das war nicht die Antwort, die Sie haben wollten, oder?
Durchaus. Als Nächstes möchte ich von Ihnen wissen, was eine Frau ist. Bitte definieren!
Ich bin ein Individuum, das sich nicht über Geschlechtsmerkmale definiert. Aber wenn es unbedingt sein muss, dann so: Im Gegensatz zu Ihnen, einem männlichen Exemplar der menschlichen Gattung, bin ich in der Lage, Kinder auszutragen. Insofern kann, biologisch gesehen, kein Zweifel daran bestehen, dass ich eine Frau bin. Das ist keine Frage des persönlichen Fühlens oder der eigenen oder fremden Wahrnehmung. Nein. Das ist eine biologische Tatsache.
Fühlen Sie sich denn auch als Frau?
Oha! Natürlich kann, ja muss ich mich zu mir als geschlechtlichem Wesen verhalten. Das tun wir alle. Ich kann es mögen oder nicht, eine Frau zu sein. Aber der Punkt ist: Unabhängig davonbin ich eine. Und in meinem Fall bin ich sogar gerne eine – ich habe mich vor vielen Jahren aus den Fängen des Patriarchats in Somalia befreit. Ich liebe es, mich für die Freiheit der Frauen einzusetzen, ich habe mich politisch betätigt, ich habe Bücher geschrieben, ich bin verheiratet und habe zwei Kinder.
Ketanji Brown Jackson, mittlerweile designierte Richterin am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, ist ebenfalls verheiratet und hat zwei Kinder. In einer Anhörung vor dem Senat antwortete sie jüngst auf die Frage, ob sie eine Definition des Wortes Frau liefern könne: „Nein, das kann ich nicht. Nicht in diesem Kontext.“
Dieses Statement ist heuchlerisch – zumal Ketanji Brown Jackson von Joe Biden ja explizit deshalb nominiert wurde, weil sie eine schwarze Frau ist. Der US-Präsident wollte mit seiner Wahl – das waren seine Worte – Geschichte schreiben. Also muss mindestens er wissen, was eine Frau ist, auch wenn er selbst keine ist. Dies im Gegensatz zur nominierten und mittlerweile designierten Richterin, die offensichtlich ein weibliches Exemplar der menschlichen Spezies ist, aber so tut, als wüsste sie nicht, was das sei.
Frau Jackson war zweifellos klar, dass diese Antwort bei den meisten Menschen Kopfschütteln auslösen würde. Die Frage ist: Warum hat sie die Sätze trotzdem zu Protokoll gegeben?
Sie wollte damit Un- bzw. Überparteilichkeit signalisieren. Doch eine simple Frage verlangt nach einer ehrlichen, simplen Antwort. Zum Beispiel so, einer künftigen Richterin würdig, in meiner Diktion: Eine Frau ist eine weibliche erwachsene Person, aber das Geschlecht soll für mich als Richterin keine Rolle spielen. Brown Jackson hingegen wich aus. Und die Pointe ihrer Nicht-Antwort besteht gerade darin, dass diese politisch nicht neutral ist, sondern letztlich eine klare Parteinahme bedeutet – zugunsten jener Gender-Theoretikerinnen, die leugnen, dass es überhaupt so etwas wie ein natürliches Geschlecht, also eine weibliche Natur gebe. Und das halte ich in diesem Zusammenhang für besonders problematisch.
Inwiefern?
Brown Jackson hat künftig das höchste Richteramt inne. Sie wird in ihrer neuen Funktion über menschliche Streitigkeiten letztgültig entscheiden. Gerade sie müsste die faktische Wirklichkeit und rechtsstaatliche Prinzipien als Richtschnur ihres Handelns begreifen, nicht ideologische Konstruktionen und Wortklaubereien. Ihre Nicht-Antwort bedeutet insofern einen Kniefall vor einer weltfremden Ideologie. Diese Politisierung des höchsten Gerichts der USA wird dessen Glaubwürdigkeit auf Dauer unterminieren. Aber ich muss bei all dieser Kritik im Umgang mit der Frage nach der geschlechtlichen Identität etwas Wichtiges sagen.
Jederzeit. Was denn?
Es gab und gibt Menschen, die tatsächlich an Geschlechtsdysphorie leiden.
Also daran, sich nicht mit ihrem Geschlecht zu identifizieren.
Das ist selten, aber nicht trivial. Diese Menschen gehen durch die Hölle, sie haben mein volles Mitgefühl und meinen ganzen Respekt. Wir sollten sie ernst nehmen – aber gerade deshalb sollten wir ihre Perspektive nicht zur Norm aller Menschen erheben, so hart das klingen mag.
Sie haben die Gender-Theorie angesprochen. Gender meint das soziale Geschlecht, Sex das biologische. Halten Sie diese Unterscheidung denn nicht für sinnvoll?
Natürlich gibt es Stereotype über Weiblichkeit, wie auch über Männlichkeit, das ist doch völlig klar und auch trivial. Aber die weibliche Natur ist keine ideologische Konstruktion, ebenso wenig wie die männliche. Die Natur determiniert uns nicht, aber sie prägt uns. Stereotype über das Geschlecht und die geschlechtliche Natur selbst sind zwei verschiedene Dinge. Wenn wir uns darüber nicht mehr verständigen können, wenn wir die Natur nicht mehr als objektive, universale Wirklichkeit anerkennen, wenn Wissenschaft nicht mehr die Erforschung des Bestehenden meint, sondern eine ideologische pädagogische Agenda verfolgt, wenn wir unseren eigenen bewährten Institutionen misstrauen – nun ja, dann ist unsere Zivilisation von innen bedroht. Und dann sollten wir dringend mal innehalten.
Sie sehen in der Gender-Ideologie den Anfang vom Untergang des Abendlandes?
Nein. Aber ich erkenne darin einen gesellschaftlichen Rückschritt. Denn wenn jede Gruppe ihre eigene Wahrheit behauptet, dann reden wir irgendwann nicht mehr miteinander, sondern schlagen uns die Köpfe ein. Dann haben wir nichts mehr, worauf wir bauen können. Dann gibt es keine Möglichkeit mehr für einen Konsens. Dann ist, anders gesagt, alles politisiert – genauer: Dann ist alles dem politischen Kampf untergeordnet. Dann gilt tatsächlich der Kampf aller gegen alle, und der Stärkere – das ist in der Mediengesellschaft oftmals der Schrillere – gewinnt. Ist es das, was wir wollen?
Das Private ist politisch – das war einst die Losung der Frauenbewegung in den 1970er Jahren.
Gewiss. Aber gemeint war damit: Die Frauen sollten über ihren eigenen Körper bestimmen. Heute jedoch wird merkwürdigerweise gerade die Tatsache dieses Körpers geleugnet – der Feminismus hat sich im Westen in sein Gegenteil verkehrt. Ging es einst darum, den weiblichen Körper zu stärken, wird er in den postmodernen, angeblich fortschrittlichen Diskursen zum Verschwinden gebracht. Das Frausein wird auf eine bloße Selbstzuschreibung reduziert – und damit de facto getilgt. Was für ein Hohn!
Wenn ich Sie so reden höre, ist die Kämpferin in Ihnen erwacht. Sehen Sie sich als Feministin?
Das bin ich! Und deshalb beobachte ich mit Bedauern, was gerade um uns herum geschieht, oftmals im Namen eines angeblichen progressiven Feminismus. Denn der Feminismus als echte Emanzipationsbewegung, die sich für alle Frauen gleichermaßen einsetzt, ist tot. Stattdessen gibt es verschiedene Untergruppen von Aktivistinnen, die ihre eigene Agenda verfolgen – die Gender-Aktivisten, die Aktivisten der Postcolonial Studies, die Aktivisten der Critical Race Theory.
Hat der Feminismus im Westen alles erreicht, was er wollte: Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung?
Im Grundsatz ja. Der Feminismus war im Westen zum Glück sehr erfolgreich – er hat sich zu Tode gesiegt, jedenfalls fast. Die große Mehrheit der Frauen ist frei in der Wahl ihrer Biografien, zuweilen sind sie besser ausgebildet und in der Jobsuche mittlerweile sogar bevorteilt vor den Männern. In der Arbeiterklasse hingegen haben Mädchen und Frauen immer noch weniger Berufs- und Lebenschancen als Männer. Dasselbe gilt für Frauen in sehr religiösen Gemeinschaften, auch da werden Frauen in den USA wie in Europa benachteiligt. In anderen Teilen der Welt herrscht demgegenüber tatsächlich noch das Patriarchat, nicht symbolisch, sondern real. Wir sollten bedenken, dass der Westen nur einen kleinen Teil der Welt ausmacht. Die Feministinnen – und Feministen – sind global gesehen eindeutig in der Minderheit. Wir sollten deshalb unseren Feminismus stärken und nicht durch abstruse postmoderne Theorien in Misskredit bringen.
Wäre es denn an der Zeit für Feministinnen im Westen, aufzustehen und sich gegen die neuen antifeministischen Bewegungen zu wehren?
Es gibt antifeministische Impulse von Immigranten, die patriarchalisch sozialisiert wurden – und davon nicht abrücken. Darüber reden wir im Westen viel zu wenig. Und es gibt antifeministische Impulse von Gender-Theoretikerinnen, die die Frauen aus den Diskursen canceln wollen, weil Frausein angeblich ein bloßes Stereotyp sei. Die Ironie des Schicksals will es sogar, dass diese beiden Gruppen zuweilen zusammenspannen: Gender-Theoretiker sehen sich als Verteidiger aller möglichen benachteiligten Minderheiten, und dazu zählen für gewöhnlich auch Immigranten, egal, welches Frauenbild diese haben. Es ist höchste Zeit, aufzuwachen – und sich gegen beide Impulse zur Wehr zu setzen.
Wo sehen Sie Anzeichen für eine Bewegung gegen die antifeministische Agenda mancher Gender-Aktivistinnen?
Meine persönliche Heldin ist J.K. Rowling, die Autorin von „Harry Potter“. Sie weiß, was eine Frau ist, und sie sagt es auch. Dabei kümmert sie sich nicht um die Transgender-Aktivistinnen, die in den sozialen Medien mobilmachen, was wiederum von den etablierten Medien genüsslich aufgenommen wird. Und es gibt mittlerweile immer mehr J. K. Rowlings, die aufstehen und sagen: Stopp. Jetzt reicht‘s. Wir wollen nicht, dass der Begriff der Frau aus Enzyklopädien gestrichen wird. Wir wollen nicht, dass geborene Männer – auch nicht nach einer Hormonbehandlung – im Frauensport mittun. Und wir wollen auch nicht, dass geborene Männer auf Frauentoiletten oder in Frauengefängnissen verkehren. Vielleicht wird daraus eine neue Bewegung.
Sie exponieren sich gerade ziemlich stark, ich sehe schon den nächsten Shitstorm aufziehen. Denn die Gender-Theorie ist längst im akademischen Mainstream der Geisteswissenschaften angekommen.
Einspruch. Das ist nicht der Mainstream – es ist die Position einer kleinen radikalen Minderheit, die laut schreit und gut organisiert ist. Und alle anderen halten still, weil sie eingeschüchtert sind. Also entsteht der Eindruck, dies sei der Mainstream. Und Sie haben dieses Framing in Ihrer Frage übernommen, Sie sind den angeblich Progressiven in die Falle getappt!
Touché. Verstehe ich Sie richtig: Sie sagen, dass die Progressiven unserer Tage oftmals die rückschrittlichen Kräfte sind?
Was ich sage, ist Folgendes: Gesellschaftlicher Fortschritt ist großartig. Gäbe es ihn nicht, könnten wir dieses Gespräch nicht in dieser Offenheit führen. Zugleich nehmen jedoch Leute das Prädikat Fortschrittlichkeit für sich in Anspruch, die dazu kaum berufen sind. Ist es fortschrittlich zu sagen, es gebe kein biologisches Geschlecht? Nein, dies führt zu einer Fortführung der Unterdrückung von Frauen. Ist es progressiv zu sagen, alle westlichen Institutionen seien Ausdruck eines tief verwurzelten weißen Patriarchats? Nein, denn so zer-stören wir die einzigen liberal-demokratischen Institutionen, die wir bis heute auf diesem Planeten geschaffen haben.
Postmoderne Denker werden Ihnen sagen: Sie halten mit Ihren Statements die heteronormativ-patriarchalische Ordnung in der westlichen Gesellschaft aufrecht.
Klar. Das sagen sie. Denn eigentlich müsste ich – als Frau, als Schwarze – ein Opfer sein und mich über die herrschende Ordnung beklagen. Aber das tue ich nicht, weil es keinen Grund hierfür gibt. Stattdessen beklage ich mich über jene, die unsere freiheitliche Ordnung mit ihren bewährten Institutionen abschaffen wollen. Sie sind die neuen Kulturkämpfer, und wir sollten sie nicht gewähren lassen.
Gehen wir einmal davon aus, dass Sie recht haben – warum verfangen diese Theorien, zumal ja angeblich die meisten Leute nicht daran glauben?
Ganz einfach – weil es bequemer ist, den Kopf einzuziehen. Niemand will unnötig Ärger, niemand erleidet gerne den sozialen Tod. Und den erlebt man heute in den sozialen Medien ziemlich schnell. Dadurch erlangen die Aktivisten, die eine Kulturrevo-lution angezettelt haben, immer mehr Macht. Und genau das ist es, was sie anstreben: gesellschaftliche und politische Macht.
Gilt für diese Kulturrevolution, wie schon für manche zuvor, was der Girondist Pierre Ver-gniaud am 31. Oktober 1793, kurz vor seiner Hinrichtung, sagte: Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder?
Ja. So geht es mit den meisten Revolutionen, auch jenen der kulturellen Art. Zuerst sind alle vereint gegen einen gemeinsamen Gegner, in diesem Fall: das Zerrbild des weißen, heterosexuellen Manns. Aber schon bald beginnen die internen Streitigkeiten. Was ist nun höher zu gewichten, um den Opferstatus zu bestimmen – das Geschlecht, die sexuelle Orientierung, die Hautfarbe oder die Ethnie? Nach den Männern sind die Frauen dran, die gecancelt werden sollen. Andere Gruppen werden folgen. Diese extremen Aktivisten wollen zurück in die Stammesgesellschaft. Aber das wird ihnen nicht gelingen.
Das Interview von René Scheu, Philosoph, erschien zuerst im Schweizer Blick.
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