Bauerfeind: Omas Panik, Mutters Horror

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Die kleine Panik wohnt auf dem Spielplatz. Dort hatte ich neulich Aufsicht über das Kind einer Freundin und saß also als Leihmutter mit anderen Müttern am Sandkasten und hörte ihnen zu. „Alina, nicht da runterspringen! Du tust dir weh!“ – „Passt du bitte mit der Schüppe auf, Lea!“ – „Nicht so rennen, Chiara, da sind überall Scherben!“ – „Lea, die Schüppe!“ – „Gleich fliegt einer von der Wippe, wenn ihr so doll wippt!“ – „Lea, ich sag’s nicht noch mal!“ – „Vorsicht, Mäuschen, da sind andere Kinder!“ – „Lea, gleich hat das Mädchen die Schüppe im Auge!“ – „Bleibt bitte da, wo ich euch sehen kann!“ – „Nicht so doll wippen! Das ist gefährlich!“ – „So, Lea, jetzt weint das Mädchen!“

Eine der anderen Mütter wandte sich an mich und riet, ich solle mal ein Auge auf mein Kind haben. Das stand oben auf dem Klettergerüst wie King Kong jr. und war bereit herunterzuspringen. „Ach, der Junge macht das schon“, sagte ich, „den haben wir adoptiert, der war Kindersoldat im Kongo und hat schon ganz andere Sachen überlebt.“ Die Mutter holte schleunigst ihre Tochter aus dem Sandkasten und ging heim. – Nein, so war’s nicht. Den letzten Teil hab ich mir ausgedacht, weil ich ihn gern gesagt hätte, wenn er mir da eingefallen wäre.

Der erste Teil aber ist streng dokumentarisch. Mütter sind Panikmacher, Verbieter, Alarmveranstalter. Die meisten Verbote auf Spielplätzen kommen nicht von den städtisch aufgestellten Schildern, sondern von Müttern. Ich kenne diesen Soundtrack noch aus meiner Kindheit. Damals war der im Vergleich zu heute zwar noch sehr leise, aber Minimum eine halbe Stunde musste man nach dem Essen warten, bis man wieder ins Wasser durfte, sonst ging man unter wie Blei und war binnen Sekunden mausetot. Mit nassen Haaren raus führte zu Lungenentzündung und Tod. Ohne Strümpfe zum Spielen war gleichbedeutend mit Blasenentzündung und baldigem Ableben, nachts noch vor die Tür zu gehen war eine Einladung an alle Hobby­mörder im Umkreis.

Das Leben an sich war in den Augen meiner weiblichen Erziehungsberechtigten mordsgefährlich. Neben meiner Mutter waren das auch meine Omas. Sie alle meinten es gut, wollten mein Bestes und hatten nur mein Wohlergehen im Blick, so wie die Mütter auf dem Spielplatz. Aber aus heutiger Sicht, denke ich, führt diese Art der Fürsorge am Ende zu Angst. Die meisten Frauen, die ich kenne, haben Angst, trauen sich wenig zu und sind in der Tiefe ihrer Seele unsicher. Auch Lea, Chiara und Alina werden im Laufe des Tages deutlich mehr Ermahnungen als Ermunterungen gehört haben. Das meiste, was sie am Nachmittag rund um den Spielplatz geplant hatten, schien jedenfalls mordsmäßig gefährlich zu sein. Meine Oma hat sich anscheinend mit ihrem pädagogischen Konzept durchgesetzt.

Omas Sätze wirkten auf mich damals so wie die Werbeslogans aus dem Fernsehen. Am Ende wusste man einfach, dass die schönsten Pausen lila sind. Man hatte es schlicht zu oft gehört, um es nicht zu wissen. Und auch, wenn man, wie ich, als Kind eher zu den Unbekümmerten gehörte, fragte man sich eben doch irgendwann, ob nachts da draußen nicht wirklich das Böse lauerte, ob ein weggelassenes Unterhemd nicht womöglich tatsächlich der Beginn von Krankheit, Elend und Tod war, und befürchtete eines Tages, einen lustigen Abend werde man am nächsten Tag auf jeden Fall bereuen, wegen Kater, Kopfschmerz und den liegengebliebenen Pflichten.

„Boah, Oma, mach dich mal locker“, sagte ich in der Pubertät oft, sie aber blieb so locker wie ein Kilo Eisen. Im Winter musste man jederzeit mit Glatteis rechnen, im Sommer konnte es abends trotzdem schnell kühl werden, wer ein Fenster offen ließ, konnte den Einbrechern im Grunde gleich die Wertgegenstände vors Haus stellen. Das Leben war wie das Kleingedruckte in Versicherungsverträgen. Von beidem war nichts Gutes zu erwarten, überall lauerte das Unheil. Meine Oma war in ständiger Alarmbereitschaft, und nichts konnte sie umstimmen. Ich hab es weiß Gott versucht: Oma, wenn alle dauernd ertrinken würden, hätte sich Schwimmen als Freizeitspaß doch bestimmt nicht durchgesetzt; wenn nachts alle immer umgebracht würden, stünde es doch in der Zeitung; wären die Straßen wirklich so unsicher, gäbe es doch deutlich weniger Autos. Aber meine Oma ließ sich nicht überzeugen. My home is my castle, war ihr Motto, und die Zugbrücken waren permanent hochgezogen.

Ein älterer Mann klingelte vor Jahren an der Haustür meiner Oma. Sie ging an die Sprechanlage und fragte, wer da sei. Der Mann erzählte, er habe meinen Opa gekannt und von ihm geträumt. Früher hätten sie sich manchmal im Hallenbad getroffen. Mein Opa jedenfalls habe ihm im Traum aufgetragen, meiner Oma Blumen vorbeizubringen, sagte der ältere Herr, deswegen sei er jetzt da. Tatsächlich stand er mit einem Strauß weißer Rosen vor der Tür. Mein Opa war seit vielen Jahren tot, war aber früher tatsächlich regelmäßig schwimmen gegangen. Die Chancen, dass der Mann die Wahrheit sagte, waren also deutlich größer als die, dass sich ein Trickbetrüger eine clevere Masche hatte einfallen lassen. Meine Oma aber sagte: „Ich kenne Sie nicht, gehen Sie bitte wieder!“

Die Grundbefürchtung, dass jederzeit immer etwas passieren kann, ist irgendwann auch mein Begleiter im Leben geworden. Freiheit, Leichtigkeit und Unbeschwertheit wurden in kleinen Schritten durch nagende Zweifel zerfressen. Der stete Sorgentropfen höhlte den Stein, und es kam der Tag, an dem man merkte: Jetzt hat sie einen, die Oma-Angst! Sie wird von einer Generation zur nächsten weitergegeben, wie eine mentale Aussteuer, und sie bleibt in vielen Fällen Frauensache. Vermutlich sind viele meiner zahlreichen Macken darauf zurückzuführen.

Ich muss immer, immer, immer noch mal kontrollieren, ob ich das Auto auch wirklich abgeschlossen habe. Ich gucke jedes Mal doppelt und dreifach, ob ich den Reisepass auch tatsächlich eingesteckt habe. Ja, ich habe das vorhin schon kontrolliert, aber seitdem saßen wir doch im Auto, wo der Fahrtwind mir das Ding doch gut und gerne aus der Tasche geweht haben könnte. Und apropos Auto, hab ich das eigentlich abgeschlossen? Was ist mit der Uhr am Handy, geht die richtig? Die hat sich neulich doch von selbst verstellt. Was heißt, das war die Umstellung auf Sommerzeit? Als könnte man darauf vertrauen, dass die Applefuzzis in Kalifornien wissen, wie oft bei uns in Deutschland Sommerzeit ist. Am Ende steh ich gleich am Schalter, und der Flieger ist seit einer Stunde weg. Wenn ich dann noch nicht mal den Reisepass habe, und das Auto ist offen, dann ham wa den Salat …

Alle Frauen in unserer Familie haben sich Ängste angewöhnt. Sorgen zu haben gehört zum Tagesablauf wie Zähne putzen. Alles, was man anfängt, kann schiefgehen. Auch Schönes wie eben Urlaub. Der Koffer, den man grad gepackt hat, kann aufplatzen, die Bahn Verspätung haben, das Hotel kann blöd sein, das Essen schlimm oder so, dass man es nicht verträgt. Und was ist, wenn man im Ausland krank wird? Wenn es trotzdem schön wird, hat man Glück gehabt. Beim nächsten Mal kann’s schon wieder ganz anders aussehen!

Liebe Spielplatz-Mütter, vielleicht lasst ihr Lea ruhig mal gefährlich mit der Schüppe spielen, Alina ungefedert vom Klettergerüst springen und Chiara schneller laufen, als sie kann. Sie werden vielleicht hinfallen, bestimmt sogar, und heulen werden sie auch, aber beim nächsten Mal werden sie’s bestimmt von selber anders machen. Ich weiß, ich hab gut reden, ich hab keine Kinder, und wenn ich mal welche habe, bin ich vermutlich die Erste, die dem Nachwuchs auch zum Essen einen Helm aufsetzt, aber trotzdem, probiert’s mal! Später, viel später, werden euch eure Töchter dankbar sein, dass sie so mutig geworden sind.

Der Text ist eine von 45 Glossen aus dem Buch „Hinten sind Rezepte drin“ von Katrin Bauerfeind (Fischer, 14.99 €). www.katrinbauerfeind.de

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