Bei den Pfadfinderinnen: Von Wichteln
Ziemlich erschöpft sind sie zurückgekommen, EMMA-Redakteurin Chantal Louis und Fotografin Bettina Flitner, von ihrem Pfingst- Wochenende bei den Pfadfinderinnen. Denn bei den Wichteln und den Rangerinnen muss frau zulangen können. "Selbst ist das Mädchen!" lautet heute das Credo der Jugendverbände, wo es kräftig rumort. Sowohl bei den Pfadfinderinnen, die - klugerweise? - 'jungenfrei' geblieben sind, als auch bei den Falkinnen, die den Jungmachos Paroli bieten.
"Scheiße! Das Zelt hat jetzt irgendwie zu viele Ecken." - "Dann spannen wir die eben weg. Krümel, kann das hier nach innen gespannt werden?" Ein Teenagerkopf mit rappelkurzem Bürstenhaarschnitt taucht aus den schwarzen Stoffmassen, die ein Zelt werden sollen, auf und begutachtet sie mit Kennerinnenblick. "Vor allem müßt ihr mal die Stangen versetzen!" Krümels Kopf verschwindet wieder im faltigen Stoffberg.
Eine Viertelstunde später ist die Anzahl der Zeltecken korrekt, das selbstgebaute Holzkreuz aus Ästen hält die Spitze goldrichtig. Das Zelt - auf pfadfinderisch: die Jurte - steht. 20 Meter weiter hügelaufwärts kämpfen ein paar Mädchen zwischen sieben und zehn - in der Pfadfinderinnensprache: Wichtel - immer noch erfolglos mit Holzkreuz, Stangen und Planen.
"Wenn das ein Lager mit Jungen und Mädchen wäre - dann hätten jetzt die Jungen das Zelt aufgebaut...", sagt Martina Cleve, Bundesmitarbeiterin der Pfadfinderinnenschaft St. Georg. "Das geht hier aber nicht."
Stattdessen stoßen ein paar ältere Mädchen plus Lagerleiterin Martina Schellenberg dazu. Die zieht ihr Taschenmesser aus der Jeans und schneidet passende Stücke von der Seilrolle ab. Zehn Minuten später steht auch die Wichtel-Jurte auf der großen Wiese, zwischen Hühnerstall und Hauptgebäude. Das "Pfingstlager" auf dem idyllischen Pützerhof, einem renovierten Bauernhof mitten in den Hügeln des Bergischen Landes, kann losgehen.
Vor dem Nachmittagsprogram wird gemeinsam ein Lied gesungen. Aus allen Ecken des Geländes strömen die rund 80 Mädchen zusammen und hocken sich um die große Feuerstelle in der Mitte des Lagers. Das Wichtel-Lied ist dran, finden die quirligen Mini-Pfadfinderinnen, die nicht nur an ihrer Körpergröße, sondern auch an ihrem leuchtend gelben Halstuch zu erkennen sind.
Außer ihnen tragen nur die Gruppenleiterinnen ein blaugestreiftes Tuch, ansonsten ist von Uniform keine Spur - das Bild prägen Jeans, Sweatshirts und Gummistiefel. "Auch unsre Meinung ist richtig! Denn wir Wichtel sind wichtig! Wir entscheiden mit, was in der Welt passiert!" schmettern die Wichtelinnen zur Gitarre. Daß die Mädchen so früh wie möglich ihre Meinung vertreten, Verantwortung übernehmen und entscheiden, was sie wollen und was nicht, ist "einer der zutiefst feministischen Grundsätze der PSG", erklärt Martina Cleve.
"Eine Reise um die Welt" heißt das Motto dieses Pfingstlagers, und für die Ranger - die älteren Pfadfinderinnen zwischen 16 und 18 - steht heute nachmittag der Vergleich der Lage von Frauen und Mädchen in anderen Ländern auf dem Programm. Den Wichteln liest eine Rangerin den Anfang der Geschichte von dem kleinen Indianermädchen vor, das mutig auf die Jagd geht und in eine brenzlige Situation gerät. Die Wichtel sollen ein mögliches Ende in einem kleinen Theaterstück vorspielen.
Die Pfadfinderinnenschaft St. Georg, kurz: PSG, ist der einzige reine Mädchenverband in der Jugendverbands-Landschaft, und er betreibt erklärtermaßen feministisch-parteiliche Mädchenarbeit. Für die 20.000 Frau starke Pfadfinderinnenschaft heißt das: Die Interessen der Mädchen stehen im Mittelpunkt - schließlich sind keine Jungen da, gegen die frau sie verteidigen müßte. Und die Pfadfinderinnen müssen zwangsläufig selbst Verantwortung, Führungspositionen und "Jungenarbeit" übernehmen.
Was für die Pfadfinderinnenschaft St. Georg selbstverständlich ist, mußte und muß in den koedukativen Jugendverbänden hart erkämpft werden. Noch bis Ende der 1960er Jahre hatten fast alle Verbände getrennte Abteilungen für Mädchen und Jungen - falls sie nicht sowieso reine Jungenverbände waren. Ab Anfang der 1970er wurden die konservativen Moralvorstellungen, die oft hinter der Geschlechtertrennung standen, als 'gestrig' kritisiert. Viele Jungenverbände öffneten sich für Mädchen, und diejenigen, die männliche und weibliche Abteilungen hatte, schlossen sich zusammen.
Die Pfadfinderinnenschaft St. Georg rettete ihre Mädchen-Oase über diese Entwicklung hinweg: Als die Deutsche Pfadfinderschaft St. Georg den PSG-Frauen 1971 einen Zusammenschluß vorschlug, waren die zwar nicht gänzlich abgeneigt. Aber sie knüpften in weiser Voraussicht zwei Bedingungen an eine mögliche Fusion. Erstens: Es sollte nach wie vor 'jungenfreie' Räume geben. Zweitens: Die Mädchen sollten getrennt ihre eigenen - weiblichen - Leitungen und Vorsitzenden wählen. Das ging den Herren Pfadfindern dann doch zu weit.
Bei den anderen Verbänden, die sich so fortschrittlich zusammengeschlossen hatten, kamen erst Anfang der 1980er Jahre Zweifel darüber auf, daß die gemeinsame Arbeit mit Jungen und Mädchen für die Mädchen den erhofften Emanzipations-Effekt gebracht habe. Lange konnte die Kritik am Konzept Koedukation in den Jugendverbänden nicht ignoriert werden, denn bald erschienen die ersten alarmierenden Untersuchungen über die Folgen der 'gemischten' Jugendarbeit. So kam 1984 der 6. Jugendbericht der Bundesregierung zu dem Schluß, "daß Jugendarbeit in weiten Teilen Jungenarbeit geblieben ist."
"Und dieser Bericht war ganz, ganz ausschlaggebend dafür, daß die Mädchenfrage in den Verbänden diskutiert werden mußte", berichtet Gudrun Kreft, die Mädchenrefentin beim Bundesjugendring, der als Dachverband rund fünf Millionen organisierte Kinder und Jugendliche erfaßt. Selbst Verbände wie die sozialistischen 'Falken', die schon in den 20er Jahren koedukativ gearbeitet hatten, begannen nun in ihren Positionspapieren zu fragen, ob "die revolutionäre Praxis nicht doch eher eine reaktionäre Gewohnheit" sei.
Fünf Jahre später schlug sich die Forderung nach Mädchenarbeit auch im Kinder- und Jugendhilfegesetz nieder: Es forderte, "die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen und Jungen zu berücksichtigen, Benachteiligungen abzubauen und die Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen zu fördern." Heute ist kaum ein größerer Jugendverband ohne 'Frauenreferentin' und Konzepte zur 'Mädchenarbeit'.
Der Bundesjugendring zum Beispiel hat dank Quote einen halbe/halbe besetzen Vorstand, seit 1989 eine 'Arbeitsgemeinschaft Mädchen- und Frauenarbeit' und in jedem Landesjugendring eine Frauenreferentin. Konsens ist auch, daß es in den Verbänden Angebote nur für Mädchen geben muß. So betreibt zum Beispiel die Gewerkschafts-Jugend des DGB das Mädchenzentrum 'Mathilde' in Dresden oder die Deutsche Sportjugend das 'Bewegungs- und Kommunikationszentrum für Mädchen und Frauen' im münsterländischen Brochterbeck.
Dennoch beklagen die Expertinnen, daß "bei der Mädchenarbeit in der Praxis noch schwer gebremst wird. Mädchenarbeit gilt immer als Zusatzangebot." Mädchenangebote ziehen deshalb oft den kürzeren, wenn die Verbände das immer knappere Geld verteilen müssen. "Die Mädchenarbeit wird von den Männern oft ziemlich belächelt", erzählt Angela Franke. "Die sagen dann: 'Jaja, macht ihr mal eure Mädchenarbeit.' Aber die nehmen das nicht ernst. Mädchenarbeit gibt's nur dann, wenn engagierte Frauen die Initiative ergreifen."
Das tut Angela Franke. Die 25-jährige Lehramt-Studentin leitet seit neun Jahren eine Jugendgruppe im Jugendheim der 'Falken' in Düsseldorf-Gerresheim. Und die ist eigentlich - bis auf einen Quotenjungen namens Mattes - ein reiner Mädels-Trupp, der sich einmal in der Woche in dem gemütlichen Raum trifft.
Zwar veranstaltet der 160.000 Mitglieder starke Verband alle zwei Jahre ein großes Mädchen-Kulturtreffen und eine Bundesfrauenkonferenz und fragte in der Studie 'Freiräume für Mädchenträume', wie sich die weiblichen Falken in ihrem Verband wohler fühlen könnten - reine Mädchengruppen sieht das Konzept der 'Sozialistischen Jugend Deutschlands - Die Falken' aber nicht vor. Bei der Gerresheim-Gruppe haben sich die Jungen im Laufe der Jahre verdünnisert, "weil ich immer drauf geachtet habe, das wir auch das machen, was den Mädchen Spaß macht".
Die Gruppenstunde freitags ist immer eine Mischung aus gemütlichem Beisammensein und inhaltlicher Arbeit. Im Moment beschäftigt frau sich mit den 'Girlies'. Nachdem sie schon ein paar Wochen gelesen und diskutiert haben und zu dem Ergebnis gekommen sind, "daß es Girlies hier ja eigentlich gar nicht gibt", will die Truppe jetzt selber einen Fotoroman zum Thema machen, so einen wie in Bravo oder Mädchen. Aber natürlich viel besser. Anni weiß auch schon, wie: "In diesen Fotoromanen sind es immer die Mädchen, die sich für so'n blöden Jungen den Arsch aufreißen, und die Jungs verhalten sich so mackermäßig. In unserem Fotoroman lassen wir den Jungen mal doof dastehen!"
Daß die Falkinnen bei ihren Zeltlagern fast alles mit den Jungs zusammen machen, finden alle "klasse". Genauso klasse finden sie auch, daß es seit zwei Jahren auf jedem Zeltlager des Bezirksverbands ein Mädchenzelt gibt - so hat es der Bezirk offiziell beschlossen. "Das ist ein Super-Gefühl, wenn wir mal die Macht haben zu sagen: Hier kommt ihr nicht rein", sagt Annika. "Die lassen uns bei ihren Saufabenden ja auch nicht mitmachen."
Die Rache folgte auf dem Fuß: Einige schmollende Jungs versuchten immer wieder, das Mädchenzelt einzureißen. Ab und zu ist das Mädchenzelt auch so, wie mann sich ein Mädchenzelt vorstellt: Wenn dort gebatikt, geschminkt oder Schmuck gebastelt wird zum Beispiel. "Das macht den Mädchen eben auch Spaß", sagt Angela Franke. "Wenn ich immer nur 'Fahrradwerkstatt' anbiete, dann kommen die nicht."
Also bietet die Falken-Frau den Mädchen die ganze Aktivitäten-Palette - genau wie die Pfadfinderinnenschaft St. Georg: Auf den Lagern und bei dem Gruppenstunden in den heimatlichen 'Stämmen' wird gemalt, gebastelt und gekocht, aber frau repariert auf den PSG-Wochenenden "Damit spielt ein Mädchen nicht!" auch Fahrräder oder baut Vogelhäuser. Und das Dortmunder PSG-Mädchenzentrum 'Kratzbürste' ist seit eineinhalb Jahren stolze Besitzerin einer Schweißwerkstatt. "Man wird hier immer wieder stark gemacht", erzählt Daniela. "Das Motto: 'Was Jungen können, können wir auch!" schwebt immer irgendwie über allem."
Die 17jährige Rangerin mit den blonden Wuschellocken aus dem 80köpfigen Stamm Düsseldorf-Hamm trifft sich einmal in der Woche mit ihren Mit-Rangern zur Gruppenstunde im Gemeindehaus. Daß die PSG erstens "so'n bißchen als Emanzenverband" und zweitens als altmodisches "Fähnlein Fieselschweif" verschrien ist, ist den Mädchen, die alle schon von Wichtelbeinen an dabei sind, reichlich egal.
Trotzdem gibt es zu wenig Mädchen in Danielas Alter im Verband. Ein Problem, das fast alle Jugendverbände haben: Während die Mädchen im Kindesalter noch einen Anteil von 50 Prozent und mehr ausmachen, sinkt der Mädchenanteil im Jugendalter gewaltig: Laut einer Studie des Instituts für soziale Arbeit in Münster liegt der Rückgang zwischen 10 und 35 Prozent.
"Wenn die einen Freund haben, sind die weg", erklärt Falkin Franke das Problem. Wenn hingegen ein Junge eine Freudin hat, geht die oft mit in seinen Verband. Der Mädchenmangel in den Verbänden führt logischerweise auch zu einem Mangel an weiblichen Freiwilligen für Führungspositionen. Selbst in Verbänden, in denen Mädchen über die Hälfte der Mitglieder stellen, so belegen Studien der Landesjugendringe in Bayern und Schleswig-Holstein, sind Frauen in den Entscheidungs-Gremien höchstens zu 30 Prozent vertreten. Eine erste Vorsitzende gibt es nur in acht Prozent der untersuchten Verbände, eine zweite Vorsitzende in 16 Prozent - ein Problem, das die Pfadfinderinnenschaft St. Georg naturgemäß nicht hat.
Zwar fehlen ihr durch den Teenie-Mangel Gruppenleiterinnen, aber natürlich sind alle Positionen von der Wichtel-Gruppenleitung bis zur Verbandsvorsitzenden mit Mädchen und Frauen besetzt. "Inzwischen fragen uns die anderen Verbände nach unserem Know-how und versuchen sogar, unsere Gruppenleiterinnen abzuwerben", erzählt Vorstandsmitglied Connie Inkmanns. Die katholischen Pfadfinderinnen bieten sogar eine Fortbildung namens 'Fit für die Spitze' an, die auch Frauen aus anderen Verbänden offensteht.
"Die frauenpolitischen Vorstöße in den Jugendverbänden kommen aus dem katholischen Bereich", stellt Mädchenreferentin Kreft fest. Das scheint erstaunlich - aber nur auf den ersten Blick. "Die katholischen Frauen mußten sich eben gerade immer mit der Amtskirche reiben." "Stimmt", bestätigt Karin Kortmann, Vorsitzende des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend, kurz: BDKJ. Aber es sei auch gerade die strikte Geschlechtertrennung, die dafür gesorgt habe, "daß wir zum Beispiel für die Mannesjugend immer einen männlichen Vorsitzenden und für die Frauenjugend eine weibliche Vorsitzende hatten - ganz ohne Quote." Und eine Referentin für Frauenbildung - die sich andere Verbände mühsam erkämpfen mußten - hatte der BDKJ, der mit rund 500.000 Mitgliedern nur knapp halb so groß ist wie die Arbeitsgemeinschaft der evanglischen Jugend (aej), schon vor 50 Jahren.
Langsam, aber sicher geraten auch die Jungen ins Schußfeld. Die Forderung nach 'antipatriarchaler und antisexistischer Jungenarbeit' wird allerorten von den 'Mädchenarbeiterinnen' erhoben. Die finden, daß jetzt auch mal die Herren der Schöpfung an sich arbeiten sollten. Allerdings scheinen weder die männlichen Betreuer noch die Jungen allzu begeistert davon zu sein. Das 'Jungenzelt' auf dem letzten Falken-Lager stand jedenfalls die meiste Zeit leer und wurde "von den Jungs nicht angenommen."
Auch so ein Problem, das die Pfadfinderinnenschaft St. Georg, die Pfingsten mit einem großen Bundestreffen in Stuttgart ihr 50jähriges Bestehen feiert, gar nicht erst hat. Und das wird auch so bleiben. Als kürzlich die Debatte um eine mögliche Öffnung für Jungen noch einmal losging, bestätigten die Wichtel auf ihrer 'Bundeswichtelversammlung', daß sie auf jeden Fall jungenfrei bleiben wollen. Und so wird es auch gemacht. Schließlich sind Wichtel wichtig.
Zentrale Adressen:
Pfadfinderinnenschaft St. Georg, www.pfadfinderinnen.de
Mädchentreff Kratzbürste
Sozialistische Jugend Deutschlands, Falken
Bund der katholischen Jugend, BDKJ
Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Jugend
DGB-Jugend
Deutsche Sportjugend