Alice Schwarzer schreibt

Bei Toten ist es zu spät

Die Franzosen demonstrieren auf dem Place de la République für Meinungsfreiheit (Bertrand Guay/AFP/Getty Images)
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Die 70-Jährige betete morgens gegen neun Uhr in der Basilika Notre Dame im Herzen der Altstadt von Nizza. Der Mann, der bei der Verhaftung, unter Allahu-Akbar-Rufen, seinen Namen mit „Brahim“ angab, köpfte die Betende. Sein zweites Opfer, den Kirchendiener, köpfte er ebenfalls. Seinem dritten Opfer, einer Frau, die aus der Kirche in das Café nebenan geflüchtet war, folgte er und tötete sie mit mehreren Messerstichen. Frankreich ist unter Schock. „Der Preis, den wir für diesen Islamo-Faschismus zahlen, ist zu hoch, “klagte Christian Estrosi, der Bürgermeister. In Nizza waren bereits am 14. Juli 2016, dem Nationalfeiertag, 86 Menschen einem islamistischen Attentat zum Opfer gefallen. Präsident Macron eilte umgehend an den Tatort.

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Im Stil einer Hinrichtung hatte auch der 18-jährige Tschetschene Abdoulakh Azorov 13 Tage zuvor, am 16. Oktober, auf offener Straße mitten in dem idyllischen Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine den Geschichtslehrer Samuel Paty enthauptet, mit zwei Schlachtermessern. Minuten nach der Tat postete Azorov eine Message an den Präsidenten der Republik: „Von Abdoulakh, Allahs Diener, an Macron, den Chef der Ungläubigen: Ich habe einen eurer Höllenhunde exekutiert, der gewagt hat, Mohamed zu erniedrigen.“

Macron kündigte umgehend „härteste Maßnahmen gegen den politischen Islam“ an. 231 Gefährder sollen ausgewiesen, verdeckt islamistische Organisationen verboten werden – wie der als links geltende CCIF (Collectif contre l'islamophobie en France), der gerne im Namen von „Antirassismus“ und „Muslimfeindlichkeit“ agiert. Vor allem aber: Der Sumpf, aus dem diese islamistischen Rechten kriechen, soll ausgetrocknet werden.

Dem Mord an dem Geschichtslehrer war eine neuntägige Hetze im Netz vorausgegangen

Allein in den ersten Tagen nach dem Attentat wurden 80 Verfahren gegen Menschen eröffnet, die im Netz die Enthauptung Patys gebilligt oder gar bejubelt hatten. Darunter eine bisher unauffällige Biologiestudentin in Besançon, die postete, der Lehrer habe „den Tod verdient“. Sie bereute und wurde zu vier Monaten Gefängnis mit Bewährung verurteilt, plus Staatsbürgerunterricht auf ihre Kosten. Oder der 21-Jährige aus Roubaix, der weit davon entfernt ist, zu bereuen und den Sicherheitsbehörden seit langem wohlbekannt. Der Franzose konvertierte mit 15 und betreibt seither eine intensive „djihadistische Propaganda“. Der Prozess steht noch aus.

Die Hatz im Netz gegen Paty war über neun Tage gegangen. Angefangen hatte der Vater einer seiner SchülerInnen. Die war allerdings an dem entscheidenden Tag gar nicht in der Klasse gewesen, sie hatte die Schule geschwänzt; ausgerechnet an dem Tag, an dem der als besonders engagiert geltende, beliebte Lehrer Karikaturen aus Charlie Hebdo gezeigt hatte. Er wollte an dem Beispiel mit seinen SchülerInnen über Meinungsfreiheit diskutieren. Anlass war der aktuelle Prozess gegen die Mörder der zehn Journalisten des Satiremagazins, die am 7. Januar 2015 wegen der Mohamed-Karikaturen von islamistischen Fanatikern erschossen worden waren.

Im Netz behauptete der Vater der Schülerin sodann, Paty habe „zum Hass gegen alle Muslime“ aufgerufen (Etwas , was auch hierzulande eine beliebte Unterstellung für KritikerInnen des Islamismus ist). Dem schloss sich umgehend der einschlägig bekannte Imam und Hassprediger Abdelhakim Sefrioui an und erließ eine Art Fatwa gegen Paty. Die erreichte den 18-jährigen Azorov im 90 Kilometer entfernten Evreux. Er machte sich auf den Weg.

Hatte jemand Paty während der neuntägigen Hatz beigestanden? Nein. Im Gegenteil. Er wurde von der Polizei vernommen und ermahnt. Der denunzierende Vater der Schülerin aber wurde zusammen mit dem Hassprediger von der Schulleitung empfangen.

In Tschetschenien gilt seit 1993 die Scharia, inklusive Hinrichtung "untreuer" Ehefrauen

„Bis heute ist das Schweigen die Religion des Staates“, klagte jetzt Schulinspektor Jean-Pierre Obin, der bereits 2004 einen alarmierenden Report veröffentlicht hatte über das Eindringen der islamistischen Parallelgesellschaft in die staatlichen Schulen. Da machen sie inzwischen das Gesetz, aufgeklärte LehrerInnen und aufgeklärte MuslimInnen stehen mit dem Rücken an der Wand.

Doch was geschah? Nichts. Die LehrerInnen werden alleingelassen. Viele haben längst resigniert.

Auch in Deutschland. „Wir haben tiefe Sorge, dass ein Klima der Einschüchterung entsteht“, erklärte zwei Tage nach dem Attentat der Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger. Dieses Klima ist schon lange da, auch in Deutschland. „Es gibt doch schon jetzt abstruse Forderungen von Moscheen, was Schulen im Unterricht alles nicht machen sollen“, klagt der Vorsitzende der Schulleitervereinigung NRW, Harald Willert. „Da wird zum Beispiel die generelle Freistellung vom Schwimmunterricht oder die Absetzung der Sexualkunde gefordert.“ Und viele Themen sollen tabu sein im Unterricht, zum Beispiel: Darwins Entwicklungslehre, der Holocaust, Amerika etc. Denn das verletze „die Gefühle muslimischer Kinder“.

Diese Entwicklung ist nicht neu. Seit vielen Jahren berichtet EMMA über die Klagen von Lehrerinnen über „islamistisch indoktrinierte Schülerinnen und Schüler“, die sie „ausbuhen“, wenn sie zum Beispiel Röcke tragen, die über dem Knie enden.

Das alles hat sich lange angekündigt. Seit Mitte der 1990er Jahre, dem Start der islamistischen Offensive in Europa, unterwandert der politische Islam systematisch die westlichen Sitten, den Rechtsstaat und die Bildungsinstitutionen. Dieser Islamismus ist kein Glaube, sondern eine Ideologie – und nimmt die Religion in Geiselhaft. Die Mehrheit der aufgeklärten MuslimInnen in unserem Land ist das erste Opfer dieser Fanatiker. Auch und vor allem sie haben wir im Stich gelassen.

Und was ist mit den Tschetschenen? Solche wie Azorov. „Sie waren bisher ein blinder Fleck auf unserer Terrorismuskarte“, erklärte der französische Sicherheitsdienst. Erstaunlich. Schließlich sind die Eltern des 18-jährigen Mörders Teil einer Community, deren Radikalisierung seit Jahren unübersehbar ist. Ja, sie sind vielleicht vor zwölf Jahren schon radikalisiert aus Moskau eingewandert.

In Russland wütete der tschetschenische Terror seit Ende der 1990er Jahre. Bei Attentaten wie der Geiselnahme an einer Schule, den verminten und ferngezündeten „Schwarzen Witwen“ in einem Theater oder der Sprengung eines Wohnblocks hatte es Hunderte von Toten gegeben. Die Täter: Tschetschenen. Die kämpfen keineswegs nur um die Unabhängigkeit der russischen Teilrepublik, sondern vor allem um den „Gottesstaat“ statt der Republik. Schon 1993 (!) führte Tschetschenien die Scharia als Gesetz ein, inklusive Zwangsverschleierung und Steinigung „untreuer“ Ehefrauen.

Im November 1999 warnte Putin in einem Artikel in der New York Times vor der islamistischen Radikalisierung der Tschetschenen und bot dem Westen die Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terrorismus an. Vergebens. In dem von mir 2002 herausgegebenen Buch „Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz“ analysierte der damalige FAZ-Korrespondent Günter Lerch den zweiten Tschetschenien-Krieg als von Islamisten angezettelt und mit Petro-Dollars finanziert. Niemand wollte es wissen.

Seit Jahren gelten tschetschenische Söldner als die brutalsten Ausbilder der Soldaten des IS. Andere Tschetschenen wiederum wichen aus Russland vor dem Gegendruck des Staates ins Exil nach Frankreich aus. Oder Deutschland. Unter ihnen auch Islamisten.

Bei der Unterwanderung des Rechtsstaates durch Islamisten wurde untätig zugesehen

Deutsche Verfassungsschützer warnten 2018 vor „gewalttätigen Islamisten aus Tschetschenien“ in einer „mittleren, dreistelligen Zahl“. Wann also tritt der Erste aus dieser Community zum Köpfen an?

Doch wenn erst Tote da liegen, ist es längst zu spät. Der Terrorismus ist nur die Spitze des Eisberges des politischen Islam. Letzterer treibt sein Unwesen seit einem Vierteljahrhundert auch in Deutschland – wo Politik und Medien ihn lange gewähren ließen. Aus Angst vor dem Vorwurf des „Antirassismus“ und argumentierend mit der „Religionsfreiheit“. Als ginge es hier um Glauben - und nicht um eine Ideologie, eine rechte Ideologie.

Diese Kräfte wüten nicht nur im Netz. Auch in ihrer legalistischen Variante, den Scharia-gläubigen Islamverbänden, vergiften sie die Köpfe. Die sind konservativ bis fundamentalistisch, machen aufgeklärten MuslimInnen das Leben schwer, fördern Parallelgesellschaften und erschweren eine echte Integration. Dennoch sind sie immer noch die „Dialogpartner“ von Politik und Gesellschaft.

Solange sich das nicht ändert, müssen wir auch hierzulande auf weitere Terroranschläge oder gar Enthauptungen gefasst sein. Für letztere braucht es noch nicht einmal einen Lastwagen oder Bomben. Ein Schlachtermesser genügt. Überall. Jederzeit. Da schützen keine Polizisten und auch keine Absperrgitter - es schützt nur ein Umdenken und der konsequente Kampf gegen den Islamo-Faschismus in all seinen Facetten.

ALICE SCHWARZER

Der Text erschien zuerst in der Welt.

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„Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz“, Hrsg. Alice Schwarzer (KiWi, vergriffen – im FrauenMediaTurm)

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