Benjamin will nicht zu Papa

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Seit fast einer Woche weiß Sandra M. nicht, wo ihr Kind ist. Benjamin ist elf Jahre alt und war zuletzt vom Vater, bei dem er lebt, zwölf Kilometer zu Fuß zu ihr gegangen. Sie musste ihrem Sohn sagen, dass er wahrscheinlich nicht bei ihr bleiben könne. Kurze Zeit später stand die Polizei mit dem Vater vor dem Haus. Sandra M. schlug der Polizei vor, über den Balkon mit dem Jungen zu reden. „Ich will nicht mehr zu Papa“, rief der Junge hinunter.

Drei Tage später klingelt ein Jugendamtsmitarbeiter an der Wohnungstür, begleitet vom Gerichtsvollzieher. Beide forderten die Mutter auf, den Jungen herauszugeben. Sandra M. packte ihrem Sohn Kuscheltiere und etwas zu essen und zu trinken ein, sie umarmten einander zum Abschied, dann ging er. Er wurde kurz zum Vater begleitet, dann brachte das Jugendamt den Jungen, der dort nicht bleiben wollte, in ein Heim. 

Benjamin hatte in vorausgegangenen Verfahren immer wieder gesagt, wenn er nicht bei der Mutter leben dürfe, ginge er lieber in ein Heim. Sein Handy ist im offline-Modus, Sandra M. bekommt keine Informationen vom Jugendamt, weil der Vater dies untersagt hat. Er darf das. Im März 2022 war Sandra M. das Sorgerecht entzogen worden.

Ereignet hat sich das alles in einer kleinen Gemeinde in Bayern, Ende Juni 2023. Sandra M. 35, arbeitet als leitende Finanzbuchhalterin, nebenbei studiert sie Betriebswirtschaft. Sie hat drei Kinder, 14, 11 und 7 Jahre alt. Mit den Vätern ihrer beiden anderen Kinder gibt es keine Schwierigkeiten, der Älteste lebt bei seinem Vater, die Jüngste bei ihr. Die Siebenjährige sieht ihren Vater regelmäßig, die Eltern teilen sich das Sorgerecht.

Mit Benjamins Vater ist alles anders. Eine tragfähige Beziehung war es nie, kurz nach der Geburt des Kindes trennte sich Sandra von ihm, nicht zuletzt, weil er sie mit allen Aufgaben allein ließ. Der Vater reagierte prompt – und überzog Sandra mit Anschuldigungen beim Jugendamt und gerichtlichen Klagen. Dass 2013 wegen seiner Gewalttätigkeiten gegen Sandra M. ein unbefristetes Kontaktverbot gegen ihn verhängt worden war, interessierte das Gericht nicht.

Im November 2020 wurde Benjamin zum Vater „umplatziert“, wie es die Behörden nennen, im März 2022 verlor Mutter Sandra das Sorgerecht. Einige Monate lang hatte sie lediglich begleiteten Umgang mit ihrem Sohn. Die Vorgeschichte spielte keine Rolle. Das sei alles Vergangenheit, wurde ihr immer wieder gesagt. Man müsse aber nach vorne schauen. Dabei ist die Geschichte höchst aufschlussreich:

Wenige Tage nachdem sich Sandra M. 2013 von Benjamins Vater getrennt hatte, ging er ihr auf der Straße an den Hals, schubste, bespuckte und beleidigte sie, die Mutter hatte das Kind auf dem Arm. Er entriss ihr die EC-Karte, mit der er gleich darauf Geld abhob. Sandra M. flüchtete im Auto einer Bekannten in deren Wohnung. Sie rief die Polizei, die den Platzverweis erteilte und dem Mann die Wohnungsschlüssel abnahm. Zu einem Strafverfahren kam es nicht. Die Staatsanwaltschaft sprach von „Partnerschaftsstreit“, außerdem sei niemand zu Schaden gekommen, und auch die Anzeige wegen Raubs wurde eingestellt. Die Bekannte sagte nicht als Zeugin aus. Sie war mit dem Mann verwandt. Das Gericht ordnete im Zusammenhang mit dem Gewaltschutzverfahren jedoch eine Begutachtung des Vaters und der Mutter an. Es fiel positiv für die Mutter aus. Sie bekam das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind. Der Vater, bestätigte die Gutachterin, nehme die Bedürfnisse des Sohnes kaum wahr.

Damals hatten Sandra M. und Benjamins Vater noch das gemeinsame Sorgerecht. Obwohl die Beziehung schon in der Schwangerschaft brüchig war, hatte sie auf seinen Druck hin drei Wochen nach der Geburt die gemeinsame Sorgerechtsvereinbarung beim Jugendamt unterschrieben. Auch die Jugendamtsmitarbeiterin hatte währenddessen ständig vom „Recht des Vaters“ gesprochen.

Dabei gibt es kein automatisches Sorgerecht für unverheiratete Väter. Die Mutter kann die gemeinsame Sorge, die vom Vater beantragt werden muss, mit Begründung ablehnen. Doch geschwächt nach dem Kaiserschnitt und zusätzlich erschöpft, weil der Vater des Kindes ihr bei der Versorgung des Sohnes und im Haushalt nicht half, unterschrieb Sandra M. „Damals hätte ich Unterstützung und juristische Beratung gebraucht“, sagt sie. Sie hatte niemanden. Ihre Eltern leben Tausende von Kilometern entfernt. Unabhängige Beratungsstellen, die sie über ihre Rechte aufgeklärt hätten, kannte sie nicht.

Ausgestattet mit dem Sorgerecht, zieht der Vater immer wieder vor Gericht. Seinen Sohn hat er regelmäßig alle 14 Tage, die Übergaben finden durch Dritte in der Kita oder an einer Tankstelle statt. „Dort sind meistens Leute, und es gibt auch Kameras“, sagt Sandra M.

Er will mehr Umgang, bezichtigt die Mutter der Vernachlässigung. Dass er seit Jahren Hartz-IV-Empfänger ist und keinen Unterhalt für das Kind zahlt, interessiert niemanden. Sandra M. fordert den Unterhalt allerdings auch nicht ein. Sie bekommt Unterhaltsvorschuss vom Jugendamt und kämpft sich in dieser Zeit neben ihrer Ausbildung zur Buchhalterin mit Putz-Jobs durch.

Im Jahr 2017 wird Benjamin eingeschult. Wenig später informiert die Schulpsychologin die Eltern über Auffälligkeiten des Kindes. Ein Kinderpsychiater stellt die Diagnose ADHS und äußert den Verdacht auf atypischen Autismus. Zwei Jahre später wird Benjamin vom Medizinischen Dienst der Krankenkasse der Pflegegrad 3 zugeteilt. 545 Euro bekommt die Mutter nun monatlich für die Versorgung des Kindes. Als der Vater davon erfährt, zeigt er sie wegen „Sozialbetrugs“ an. Das Kind sei nicht krank, die Mutter würde es nur krank machen. Sie habe das Münchhausen-by-proxy-Syndrom – eine psychiatrische Erkrankung, bei der Betreuende die ihnen Anvertrauten gezielt krank machen, um selbst Aufmerksamkeit zu erlangen – zudem würde sie ihm das Kind entfremden. Beim Amtsgericht stellte er einen Antrag auf das Aufenthaltsbestimmungsrecht. „Das hat er sich alles nicht selbst ausgedacht, dafür hat er vermutlich die entsprechenden Portale im Internet besucht“, sagt Sandra M.

Die Folge: Das Gericht bestellt eine Gutachterin, die Sandra M. im Jahr 2020, während der Corona-Zeit, zwei, dreimal zu Hause aufsucht. Die Begutachtung ist freiwillig, doch darüber wird Sandra M. weder von ihrer Anwältin noch von der Gutachterin selbst aufgeklärt.

Auch der Vater wird begutachtet, allerdings einige Monate später, er zögert die Termine immer wieder hinaus. Im Spätsommer 2020 stellt ihr das Gericht das Gutachten zu. Darin steht: Rigider Erziehungsstil. Autoritär. Mangelnde Empathie. Die Kinder haben keine Freiräume. Die Wohnung ist nicht ausreichend möbliert. Auch eine Lehrerin wird als Zeugin für die Erziehungsunfähigkeit der Mutter angeführt. Empfehlung: Entzug des Sorgerechts. Weder auf das erste Gutachten noch auf die Gewaltschutzakte nimmt die Gutachterin Bezug: Sie hatte die Akten gar nicht. Und die spartanische Möblierung hatte ihr Sandra M. erklärt: Wegen des Lockdowns waren die Wohnzimmer- und Schlafzimmermöbel nicht geliefert worden. Die Kinderzimmer seien jedoch vom ersten Tag nach dem Umzug komplett eingerichtet gewesen.

Wie hat Sandra M. auf dieses Gutachten reagiert? „Ich las das und dachte, das bin ich nicht. Man zweifelt an der eigenen Selbstwahrnehmung.“ Sie ruft ihre Anwältin an und die Lehrerin, die ihr angeblich ein so vernichtendes Zeugnis ausgestellt hatte. Diese fällt aus allen Wolken und schreibt einen drei Seiten langen Bericht ans Gericht, in dem sie darlegt, dass sie die im Gutachten vermerkten Äußerungen nie gemacht habe. Im Gegenteil: Sie sehe den großen Einsatz der Mutter für das beeinträchtigte Kind.

Gleich nachdem das Gutachten vorliegt, stellt der Vater einen Eilantrag auf sofortige Herausgabe des Kindes und Übertragung des alleinigen Sorgerechts auf ihn. Beides wird zunächst abgelehnt. Doch im November 2020 kommt es zur Verhandlung. Anwesend sind eine Richterin, eine neue Mitarbeiterin des Jugendamts, die Verfahrensbeiständin und die Gutachterin. Sandra M. wird eine Vereinbarung vorgelegt: Seinen Lebensmittelpunkt soll das Kind beim Vater haben. Das gemeinsame Sorgerecht bleibt. Kurz darauf wird Benjamin, inzwischen neun Jahre alt, zum Vater „umplatziert“. Der hat inzwischen mit seiner neuen Lebensgefährtin ein neues Kind.

Vier Monate später berichtet Sandra M. dem Jugendamt, was sie an ihrem Sohn wahrnimmt: Kaputte Schuhe mit sich auflösenden Sohlen, einen ungepflegten, fast verwahrlosten Zustand, Kleidung, die nicht passt, fehlende Schulsachen, Traurigkeit. Die Schule macht eine Kindeswohl-Gefährdungsmeldung an das Jugendamt. „Die wurde dort abgetan: Die Mutter macht doch gemeinsame Sache mit dieser Lehrerin.“ Weil sich nichts ändert, spricht Sandra M. den Bürgermeister und den Jugendamtsleiter bei einer Veranstaltung an. Kurz danach wird im Haushalt des Vaters eine Familienhelferin eingesetzt.

Über das Gericht setzt Sandra M. durch, dass Benjamin nun in einer anerkannten kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik auch ohne Einwilligung des Vaters untersucht wird. Die Diagnose ADHS bestätigt sich, Autismus kann nicht ausgeschlossen werden, ein anderes Syndrom kommt hinzu. Empfohlen wird die Aufnahme in eine Tagesklinik. Sandra M. stellt einen Antrag auf Herausgabe des Kindes. Wieder wird sie begutachtet. Das Ergebnis weicht kaum vom zweiten Gutachten ab. Bindungsintolerant. Hochmanipulativ. Wieder wird auf das erste Gutachten und die Gewaltschutzakte kein Bezug genommen. Im Frühjahr 2022 entzieht ihr das Amtsgericht das Sorgerecht für Benjamin.

Zunächst hat sie begleiteten Umgang, die Familienhelferin aus dem väterlichen Haushalt ist dabei. Nach drei Monaten sieht sie ihren Sohn allein. Sandra M. zahlt dem Vater Kindesunterhalt, er will, dass sie 40 statt 30 Stunden in der Woche arbeitet. Er, der nie Kindesunterhalt bezahlt hat, führt nun Wörter wie „Erwerbsobliegenheit“ im Mund. Aber das, sagt sie, sind „Nebenschauplätze“. Wichtig ist ihr, dass Benjamin endlich gehört und sein Wille respektiert wird.

enn Benjamin will nicht beim Vater leben. Er hat mehrmals versucht, wegzulaufen, er hat immer wieder gesagt, dass er zu seiner Mutter und der kleinen Schwester will. Sandra M. hofft, dass er sich nicht wieder allein auf den Weg zu ihr macht. „Wenn er in eine offene Wohngruppe kommt und es ihm dort gut geht, ist das in Ordnung. Das Kind gehört mir nicht. Das Kind gehört sich selbst.“ Sie selbst komme mit dem, was ihr angetan wurde, irgendwie zurecht. „Ich stecke vieles weg. Aber dass der Vater seinen Hass auf mich über den Sohn austrägt – das kann ich nicht verzeihen und nicht vergessen.“

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