Wehrdienst: Bereit zu sterben?
2023 fanden in Deutschland die „Invictus Games“ statt. Das vom Flugzeugbauer Boeing gesponserte Sportereignis hatte ein durchaus honoriges Ziel: Die ausgetragenen Wettbewerbe sollten die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Leid von Kriegsversehrten richten. Darüber berichtete das Aktuelle Sportstudio im ZDF, eingeladen waren Verteidigungsminister Boris Pistorius sowie der britische Prinz Harry, der einst im Irak seinen Militärdienst absolvierte. Zwei weitere Ex-Soldaten traten auf: Einer hatte beim Einsatz in Afghanistan beide Beine verloren, der andere berichtete über seine andauernde posttraumatische Belastungsstörung.
Erst nach 45 Minuten richtete die Moderatorin eine heikle Frage an den Minister: Ob er den Unmut verstehen könne, der in dem vordergründig rein sportlichen, aber nicht ohne Grund von der Waffenindustrie geförderten Event eine Verherrlichung des Militärischen sehe? Pistorius beschwichtigte. Es gehe doch lediglich darum, Solidarität und Respekt „für die Einsatzkräfte zu zeigen“.
Die gesellschaftliche Veränderung beginnt bei der Sprache. Es ist von Helden, Ehre und Tapferkeit auf der eigenen Seite die Rede, jedoch von Soldateska, Söldnern oder Schergen auf der Gegenseite. Busse und Straßenbahnen werben großflächig in olivgrüner Tarnfarbe für den „Arbeitsplatz Bundeswehr“. Mit dem Spruch „Übernimm die Regie“ präsentiert sich die Truppe auf Popcorntüten im Kino. Norddeutsche Schulkassen besuchen Marinestützpunkte, auf Berufsorientierungsmessen und in Sporthallen ist die Armee mit Waffenschauen im Einsatz.
In die Schulklassen drängen rhetorisch trainierte Offiziere und verbreiten ihre Sichtweise einer „veränderten Sicherheitslage“ im Politik- oder Ethik-Unterricht unhinterfragt. In Bayern sind die Lehrkräfte seit dem letzten Sommer gesetzlich verpflichtet, die Werbeauftritte in Uniform zu tolerieren; in anderen Bundesländern beruht dies noch auf Freiwilligkeit. Übrigens: Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat zusammen mit der Deutschen Friedensgesellschaft und Pax Christi eine Popularklage gegen das Gesetz eingereicht.
„Wir sind die Partei der Bundeswehr“, verkündete Ministerpräsident Markus Söder im Januar 2024 vor der CSU-Vorstandsklausur im Kloster Banz. Seine Partei will die ausgesetzte Wehrpflicht schnellstmöglich wieder einführen, und für die Schulen kursieren noch viel drastischere Ideen – angeregt vom Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV). Vorbild ist Lettland, das sich durch die geografische Nähe zu Russland bedroht fühlt und das eigenständige Fach „Verteidigungsunterricht“ eingeführt hat. Im Baltikum beginnt die militärische Grundausbildung schon im Klassenzimmer: Ein Bericht der ARD-Tagesschau zeigt Schülerinnen und Schüler in einer Kleinstadt bei Riga, die auf Turnmatten knien und das Anlegen eines Gewehrs trainieren – immerhin noch ohne Patronen.
Das lettische Beispiel macht deutlich, was auch hierzulande noch kommen könnte. Schon jetzt entwirft der „Operationsplan Deutschland“ der Bundeswehr Korridore für umfangreiche Truppentransporte der westlichen NATO-Verbündeten auf dem Weg zu einer imaginären „Ostflanke“. Logistisch eingebunden sind Flughäfen, Schienen, Wasserwege und Autobahnen, unterstützen sollen „Blaulichtorganisationen“ wie das Technische Hilfswerk, das Rote Kreuz sowie Polizei und Feuerwehr. Für die Verpflegung der durchreisenden „Frontkämpfer“, so die Militärstrategen, habe die einheimische Bevölkerung zu sorgen.
„Wir müssen kriegstüchtig sein. Wir müssen wehrhaft sein. Und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen“, so lautet der genaue Wortlaut des vielzitierten Appells von Boris Pistorius. Dass ein Sozialdemokrat sich trotz der schrecklichen Erfahrungen in der Nazizeit und zwei Weltkriegen einer Sprache bedient, die eher an Aussagen des AfD-Hardliners Björn Höcke erinnert, wäre vor gar nicht allzu langer Zeit undenkbar gewesen.
Im Kern wiederholte Pistorius eine Formel, die zuerst Carsten Breuer, der Generalinspekteur der Bundeswehr, verwendet hatte. Neben der militärischen Aufrüstung sieht der oberste deutsche Soldat zwei weitere Pfeiler der „Kriegstüchtigkeit“: Es brauche einen „gesellschaftlichen Mentalitätswandel” sowie „personelle Einsatzbereitschaft”.
Das dahinter liegende Selbstverständnis deckt sich mit zahlreichen Verlautbarungen aus Wissenschaft und Politik. Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck (CDU) beklagte schon 2014 auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine „Entfeindung“, die fälschlicherweise auf vertrauensbildende Maßnahmen angelegt sei; für angebrachter hielt Gauck Misstrauen und Argwohn. Der Historiker Heinrich August Winkler hatte schon in seiner Rede zum 70. Jahrestag des Kriegsendes 2015 im Bundestag betont, aus den Verbrechen des Nationalsozialismus lasse sich kein „deutsches Recht auf Wegsehen ableiten“. Gerade aus der unrühmlichen Vergangenheit Deutschlands ergebe sich eine moralische Verpflichtung, Waffengänge für vorgeblich ehrenhafte Ziele zu unterstützen. So legitimierte der grüne Ex-Außenminister Joschka Fischer 1999 mit nachweislichen Falschbehauptungen die Bombardierung der serbischen Hauptstadt Belgrad durch NATO-Flugzeuge, ohne Mandat der Vereinten Nationen („O-Ton Fischer: „Nie wieder Auschwitz!“).
Bei dem Bemühen, die „zu pazifistisch“ eingestellten Deutschen auf künftige militärische Konflikte vorzubereiten, schreckt die Kriegspropaganda inzwischen nicht einmal vor der Manipulation der Jüngsten zurück. Auf seinem Kinderkanal auf YouTube zeigte das ZDF 2024 ein Video, in dem verschiedene Waffensysteme gegeneinander antreten: Welcher Marschflugkörper ist der tollste? Der arme Taurus – die Rakete, die bis Moskau fliegen und metergenau treffen kann – wird bemitleidet, weil der (damalige) Kanzler Olaf Scholz ihn nicht fliegen lässt. So wird das Kanonenfutter der Zukunft kriegstüchtig gemacht.
THOMAS GESTERKAMP
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