Es hat einen Hauch von Harry Potter, genauer: seines Gegenspielers Lord Voldemort, der so furchterregend ist, dass niemand wagt, seinen Namen auszusprechen. Er heißt deshalb: „Der, dessen Namen man nicht nennt“. Auch in dem „Berliner Manifest“, das jetzt von 200 überwiegend homosexuellen ErstunterzeichnerInnen, von Maren Kroymann bis Volker Beck, unterschrieben wurde, gibt es dieses Phänomen. Das, was hier offenbar nicht beim Namen genannt werden darf, ist: die krasse Homophobie eines nicht unbeträchtlichen Teils der Flüchtlinge, die seit letztem Sommer nach Deutschland gekommen sind.
Manche homosexuelle Frauen und Männer haben Angst
Auch in der hiesigen muslimischen Community ist der Hass auf Schwule und Lesben nachweislich manifester als beim Rest der Bevölkerung in Deutschland. Was so manchem homosexuellen Mann und so mancher homosexuellen Frau verständlicherweise Angst macht. Aber auch das wird in dem Manifest nicht erwähnt. Stattdessen erklären die UnterzeichnerInnen: „Wir wenden uns gegen die Vereinnahmung sexueller Minderheiten durch rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien, Gruppierungen und Publizist_innen.“
Aber von vorn. Am 18. September wird in Berlin gewählt. Die Umfragen prognostizieren der AfD bis zu 15 Prozent der Stimmen, womit die Rechtspopulisten dicht zu Linken (15-17%), Grünen (17-19%) und sogar der CDU (17-20%) aufschließen würden. Selbst die SPD bricht ein und dürfte nicht über 24 Prozent kommen.
Nun ist die AfD auf die Idee gekommen, gezielt um homosexuelle Wähler zu werben (die Wählerinnen sind wie immer mitgemeint). Auf einem AfD-Wahlplakat erklärt ein Männerpaar: „Mein Partner und ich legen keinen Wert auf die Bekanntschaft mit muslimischen Einwanderern, für die unsere Liebe eine Todsünde ist.“
Damit greift die AfD geschickt ein Problem auf, das die Homosexuellen-Szene seit Monaten umtreibt. Denn die Angst vor der Homosexuellenfeindlichkeit so manches Ankömmlings aus traditionell homosexuellenfeindlichen Gesellschaften treibt auch so manchen schwulen Mann und so manche lesbische Frau nicht erst seit dem Attentat von Orlando in die Arme der Rechtspopulisten.
Und dieses Unbehagen ist keineswegs aus der Luft gegriffen. So belegt eine Studie des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), dass zwei von drei Befragten mit türkischem oder marokkanischem Migrationshintergrund „Homosexuelle als Freunde ablehnen“. Eine ganz aktuelle Studie von Emnid und der Universität Münster unter türkischen MigrantInnen ergab: JedeR dritte wünschte sich eine „Rückkehr zu einer Gesellschaftsordnung wie zu Mohammeds Zeiten“, jedeR achte hat ein geschlossenes „islamisch-fundamentalistisches Weltbild“.
Und dann sind da auch die Hilferufe aus den Flüchtlingsunterkünften. Mehr als 130 homo- und transsexuelle Flüchtlinge haben sich allein 2015 hilfesuchend an den Berliner „Lesben- und Schwulenverband in Deutschland“ (LSVD) gewandt. Natürlich ist das nur die Spitze des Eisbergs. Homosexuelle Männer melden, dass sie von anderen Flüchtlingen als „Haussklaven“ zum Putzen benutzt wurden, andere bezeichnen ihre Zeit in der Flüchtlingsunterkunft aufgrund der Misshandlungen durch andere Flüchtlinge als „schlimmste Zeit ihres Lebens“.
Wie kann es da sein, dass nur die AfD das Problem thematisiert? Dass das eine scheinheilige Wahlpropaganda ist – klar. Aber warum fordern die UnterzeichnerInnen des Manifestes nicht gleichzeitig die demokratischen Parteien auf, den Schwulen- und Lesbenhass konservativer oder gar reaktionärer Muslime ernst zu nehmen? Stattdessen werden die Ängste als „islamophob“ abgebügelt. Das ist fatal, denn genau damit treibt man die Menschen in die Arme der Rechtspopulisten.
Aber sie werden mit dieser Angst einfach alleine gelassen
Das sollte sich inzwischen eigentlich auch bis zu den schwul-lesbischen MeinungsmacherInnen in Berlin herumgesprochen haben. Aber auch das Lesbenmagazin L.MAG bringt es fertig, in seiner aktuellen 15-seitigen Titelgeschichte „Lesben zwischen Rechtsruck und Widerstand“ die Gefahr durch einen politisierten Islam und die dazugehörige Homophobie nicht ein einziges Mal zu erwähnen.
Wo also bleibt das Manifest gegen die muslimischen Verbände, deren Haltung zur Homosexualität mindestens so reaktionär ist wie die der AfD? Und wo der Protest gegen das Wahlplakat des Regierenden Bürgermeisters mit einer Muslimin, die Kopftuch trägt, also ein rückwärtsgewandtes Islam-Verständnis verkörpert? (Schließlich trägt in Deutschland nur eine von fünf Musliminnen ein Kopftuch.)
Befragt zu den homosexuellenfeindlichen Übergriffen in Flüchtlingsunterkünften klagte Jouanna Hassoun von Miles, dem Berliner Zentrum für Migranten, Lesben und Schwule: "Wir werden von der Politik damit allein gelassen." Und leider eben auch auch von den VerfasserInnen des „Berliner Manifests“.
Chantal Louis