Bettina Flitners "Rächerinnen" werden als überlebensgroße Fotoskulpturen im Kunstraum Gewerbepark-Süd in Hilden zu sehen sein. Alice Schwarzer eröffnet am Sonntag, den 4.10. die Ausstellung, die in der Vergangenheit viele Skandale auslöste.
1. Oktober 2020
Haben Sie einen Feind? Und was würden Sie mit ihm tun? So hat Bettina Flitner zufällige Passantinnen auf der Straße angesprochen.
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Haben Sie einen Feind? Und wenn ja, was würden Sie mit ihm tun – wenn Sie es ungestraft tun dürften? Diese Frage stellte Bettina Flitner im Jahr 1992 zufälligen Passantinnen auf den Straßen von Köln und Berlin. Für die Visualisierung ihrer Antwort stand den Frauen ein Arsenal von Spielzeugwaffen als Requisiten zur Verfügung, zu denen sie greifen oder sie liegen lassen konnten.
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So entstanden 14 Fotoporträts und 14 überraschende Geständnisse. Alle Frauen hatten einen „Feind“, fast alle träumten vom Töten. Meistens den eigenen Mann oder Vater. Die Arbeit tourt seit Jahrzehnten durch Länder und Kontinente und hat nichts von ihrer Brisanz verloren. Vom 4.10. bis 8.11. stehen die überlebensgroßen Bildskulpturen im Kunstraum Gewerbepark-Süd in Hilden. Alice Schwarzer eröffnet am Sonntag, den 4.10. die Ausstellung. – Neben Flitner sind die „Feindbilder“ von Sandra Pilar zu sehen.
Haben Sie einen Feind? Was würden Sie mit ihm tun?
Die Rächerinnen verfolgen mit dunklen Phantasien und noch dunkleren Erfahrungen ihre „Feinde“. Sie standen im September 1992 auf der Haupteinkaufsstraße von Köln, der Schildergasse. Von dort führten die 14 Porträts wie ein Passionsweg von der turbulenten Einkaufsstraße direkt in die protestantische Antoniterkirche, wo Pfarrer Pick das letzte Foto (die Frau, die noch nicht einmal mehr Kraft zu einer Rachephantasie hat) anstelle des Kruzifix über den Altar hängte. Die Reaktionen blieben nicht aus. „Skandal um Gewaltfotos in der Kirche!“ titelte Bild. Und echauffierte Bürger forderten die sofortige Entfernung der „Hass“-Ausstellung.
Die verschreckte Stadt reagierte prompt und verjagte die Rächerinnen von der Straße. Nun erhielten alle 14 Asyl in der Kirche. Doch auch die Fotografin verlor keine Zeit. Sie protestierte öffentlich und erfolgreich gegen die „Zensur“. Die Rächerinnen durften, klassifiziert als „Kunst“, wieder auf die Straße – und bewegten dort wochenlang Passantinnen und Passanten. Die standen von morgens bis abends in Gruppen um die Fotos und diskutierten heftig. (Darüber existiert ein halbstündiger Dokumentarfilm, u.a. gezeigt im WDR.)
„Skandal um Gewaltfotos in der Kirche!“ titelte Bild.
Dem „Feind“ folgten die „Denkmäler“. Flitners müde, aber wache Heldinnen stehen seit September 1994 überlebensgroß, montiert auf mächtige Stahlgerüste, auf dem Josef-Haubrich-Hof vor der Kölner Kunsthalle. Auch hier waren die Reaktionen so leidenschaftlich, dass die Stadt Köln sich zu einer, zunächst bis Ende 1995 begrenzten, Dauerausstellung der Frauen-Denkmäler entschloss.
Für Bettina Flitner, die die Frauen ja nicht nur fotografierte, sondern in oft langen Gesprächen auch die knappen Zitate herauskristallisierte, war schon die Arbeit selbst ein Abenteuer: „Ich bin mit jedem Foto in eine ganze Welt eingetaucht. Und wie erschütternd diese Welt auch war, die Frauen waren fast immer sehr beeindruckend, sehr stark – und manchmal auch anrührend komisch.“
Fotografin Bettina Flitner war in Mestlin, dem einstigen DDR-Musterdorf, und hat die Menschen gefragt: "Was ist die DDR heute für dich?" Die Freude über die Wiedervereinigung scheint durchaus gemischt. Die Menschen trauern IHRER Geschichte nach, egal wie sie war. Den Text über ihren Ausflug ins Gestern schrieb sie hellsichtig schon 2014. Seither ist das deutsch/deutsche Verhältnis nicht besser geworden. Das Verdrängte kommt hoch. - Die Fotos aus Mestlin zeigt Bettina Flitner bis zum 14. Januar 2024 in der Kulturbrauerei Berlin.
2. Oktober 2014 / aktualisiert: 2. Juni 2023
von
Bettina Flitner
Wo genau sitzt eigentlich die Erinnerung? Vorne? Hinten? Tief drinnen? Ich halte den Kopf in der Hand. Er ist in der Mitte durchgeschnitten und man kann das Gehirn sehen. Die roten Windungen laufen nach oben und unten, nach rechts und nach links. Wo aber sitzt die Erinnerung?
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Ich bin nicht allein hier. Karl und Wladimir sind auch da. Und Erich schaut hinter dem Bücherstapel hervor. Und dann liegt da noch ein Auge, ein Ohr, eine Hand. Die verstreute Anatomie eines Menschen. Eines Menschen aus Plastik. Oder Plaste, wie man hier früher gesagt hat. Man kann den Kopf auseinandernehmen und nachsehen, wie er von innen aussieht.
Das kam einer Bücherverbrennung gleich, sagt ein ehemaliger Lehrer
Der Raum ist voll. Schautafeln, Landkarten, Kartenständer, Schulbücher, rote und weiße Holzkugeln für den Chemie-Unterricht und zerlegbare Körpermodelle, das alles liegt hier gestapelt bis zur Decke. „Wenigstens das konnten wir retten“, sagt Claudia Stauss vom Verein „Denkmal-Kultur-Mestlin e.V.“. Nur ein Bruchteil von dem, was gleich nach der Wende aus der Bibliothek des Kulturhauses und 2013 aus dem Schulspeicher auf die Straße flog.
„Das kam einer Bücherverbrennung gleich“, sagt mir später ein ehemaliger Lehrer. Bänke, Tische, Bilder, Statuen, Bücher. Die flogen nur so durch die Fenster in den Container auf dem Marx-Engels-Platz. Der Denkmalverein brachte ein paar Dinge in Sicherheit. Und so steht nun das gerahmte Porträt von Erich Honecker hier, hinter Kinderbüchern und Schaubildern. Die Schrift „Die Sache Lenins siegt und lebt“ liegt zuoberst und „Mein Leben“ von Karl Marx liegt da auch. Ich stehe im Kulturhaus von Mestlin und staune über die staubige Schatzkammer.
Seit drei Tagen wohne ich jetzt hier, in diesem kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern. Und ich werde noch ein paar Wochen bleiben. 25 Jahre nach dem Mauerfall will ich wissen, was von der DDR noch übriggeblieben ist. Und bin bei meiner Suche auf diesen Ort gestoßen.
Mestlin, das erste und einzige sozialistische Musterdorf der DDR. Zwischen 1952 und 1957 wurde hier ein sozialistischer Landtraum erbaut: Das gigantische Kulturhaus fürs Volk, am anderen Ende des riesigen Platzes der Konsum, nebenan der Industrie- und der Lebensmittel-HO, rechts die Schule, daneben der Kindergarten und der Kinderhort, auf der anderen Seite das „Landambulatorium“, das Krankenhaus mit Entbindungsstation, Augenarzt, Operationssaal, Physiotherapie. Ein Dorf mit allem Komfort der Stadt. 180 solcher Vorzeigedörfer sollten es werden. Aber allein der Bau von Mestlin verschlang drei Millionen Ostmark, und so ist es bei diesem einen Dorf geblieben. Die Kulisse steht noch, auch wenn sie bröckelt. Nur, wie sieht es innen aus, in den Menschen?
Meine Adresse: Marx-Engels-Platz 6. Ein Zimmer in einem der 1953 gebauten Wohn- häuser für die Arbeiter und Bauern von Mestlin. Sechs Quadratmeter DDR, die Wände dünn wie Papier. Unter mir der Konsum, der dann „Quelle“ wurde und nun seit Jahren leer steht. Über mir Conny, Mutter von vier Kindern. Conny arbeitet bei der Arbeiterwohlfahrt, Marx-Engels-Platz 4, gleich nebenan. Hinter den AWO-Räumen war früher die Gemeindeverwaltung, die Post, die Sparkasse.
Es ist kühl und dämmrig. Ein modriger Geruch schlägt uns entgegen
Das Früher liegt jetzt hinter einem roten Vorhang. Der ist ganz zugezogen. Ob ich mal dahinter gucken kann, frage ich Agnes, die Kollegin von Conny. Agnes erhebt sich und schiebt den roten Vorhang langsam beiseite, dahinter ist eine Tür. Als sich der Schlüssel endlich dreht und die Tür sich öffnet, wird es plötzlich ganz kühl und dämmrig. Ein modriger Geruch schlägt uns entgegen. Rechts, am Ende des Ganges, zeichnet sich ein Wandfresko ab. Wir gehen dichter ran. „Alles mit dem Volk, alles durch das Volk, alles für das Volk“ steht über dem Bild, auf dem ein Traktor, ein Bauarbeiter und zwei Schüler mit Spaten zu sehen sind. „Ist doch schön, oder?“ murmelt Agnes, mehr zu sich selbst als zu mir.
Eigenartigerweise flüstern wir, als wir den Gang weitergehen. Agnes bleibt drei Schritte hinter mir, als ich vorsichtig weitere Kammern öffne. „Hier saß Frau Kalkhorst“, flüstert Agnes, „die Lampen, die sind noch original“. Im Büro des Bürgermeisters hängen noch die alten orangefarbenen Gardinen. „Und der Geruch, der ist auch noch der gleiche“, wispert Agnes. Links und rechts vom Fenster stehen zwei große Tresorschränke, die Schlüssel stecken noch. Beide sind leer. Nur auf den Brettern pappen noch die mit der Schreibmaschine getippten Aufkleber von Frau Jörres, der Standesbeamtin. Aufkleber, die das Leben fein säuberlich eingeteilt haben nach „Aufgebote“, „Sachen Eheschließung“ und „Sachen Sterbefall“.
Als ich wenig später in der gleißenden Sonne auf dem Marx-Engels-Platz stehe, treffe ich an der Bushaltestelle Alina, 14 Jahre alt. „Was weißt du eigentlich noch von der DDR“, frage ich sie. „DDR? Keine Ahnung“, antwortet Alina. Irgendwas? „Ohje … ok … Die haben in engen Räumen gewohnt … und … hmmm…die hatten nicht so viel zu essen wie wir“, sagt sie. „Und die mussten sich sogar ihre Haare selber schneiden“.
Herr Schulze, bis zur Wende Schuldirektor, ist das Gedächtnis von Mestlin
Herr Schulze winkt mich heran. Er war bis zur Wende Schuldirektor. Dann wurde der Parteigenosse entsorgt. Ein paar Jahre später ist er Bürgermeister von Mestlin. Seit die Gemeindeverwaltung geschlossen wurde, hat der Bürgermeister sein Büro in der Schule. Und so will es das Schicksal, dass Herr Schulze wieder genau da sitzt, wo er vorher auch war: in seinem alten Direktorenzimmer, auf seinem alten Platz.
Die Schule steht neben dem Kulturhaus und ist ebenfalls ein sozialistischer Musterbau. Früher lernten hier 500 Schüler, jetzt sind es höchstens noch 50. Das Fresko an der Außenfassade zeigt einen Lehrer, der wissbegierigen Kindern einen Maiskolben erklärt. Darüber sind fleißige Schnitterinnen zu sehen. Als ich, dem Ruf des Bürgermeisters folgend, das Gebäude betrete, kommen mir ein Mädchen mit Lillifee-Ranzen und ein Junge mit Basecap entgegen. Sie laufen unter der Uhr her, die seit 50 Jahren weitertickt, und an den sozialistischen Wandfresken vorbei, die Kinder aus aller Welt zeigen. Sie laufen an dem Sinnspruch am Eingang entlang, auf dem heute in Schreibschrift steht: „Wissen ist ein Schatz, der den Besitzer überallhin begleitet.“
Bei Herrn Schulze treffe ich den ehemaligen Chemielehrer, Herrn Peters. Er ist 87 Jahre alt und das Gedächtnis von Mestlin. Herr Peters hat 1951 an der Schule angefangen und bis zur Pensionierung hier gelehrt. Er wohnt gleich neben der Schule, in einer der ersten Musterwohnungen in der Ernst-Thälmann-Straße. Er muss seinen Job gut gemacht haben, denn später komme ich mit vielen weißhaarigen Schülern um die siebzig ins Gespräch, die immer noch vom Lehrer Peters schwärmen.
Herr Peters hat jedes Ereignis, jedes Datum gespeichert. Er hat eine Chronik über Mestlin geschrieben. Wir sitzen in seinem Archiv in einem Raum der Schule und reden und reden. In den 70er Jahren habe er gemerkt, dass es nicht funktionieren kann. „Schade“, sagt Herr Peters, aber die Menschen legten den Egoismus eben nicht ab. Und dann diese Spitzelei. Da hätte man nicht froh werden können. Dieses ewige Umgucken, ob da nicht jemand mithört, der nicht mithören soll … Er hat Plakate, Fotos, Dokumente, Briefe gesammelt. Schrank um Schrank voll mit Schätzen aus vergangenen Zeiten. Da liegen die Veranstaltungspläne für das Kulturhaus von April 1975. Zum Jahrestag des Sieges der ruhmreichen Sowjetarmee! Bürger Mestlins! Schmückt eure Häuser mit Fahnen und Girlanden!
Ich klingle an den Türen der Bürger Mestlins. Ich will wissen, ob sie noch was haben aus der DDR. Irgendeinen Gegenstand, etwas von dem sie sich nicht trennen konnten. Nee, sagen die meisten. Alles weg. Weg. Alles weggeworfen. Wir haben doch alles neu. Ja. Oder? Warten Sie mal. Na, doch. Der Orden. Der könnte noch. Aber wo? Da muss man aber erstmal suchen. Kommen Sie doch morgen wieder.
Es fällt ihr der Name einer DDR-Schauspielerin ein: Marylin Monrow
Am nächsten Tag wieder klingeln. Jetzt gibt’s Kaffee und Kuchen, frischgebackene Kekse, Kassler mit selbstgezogenem Gemüse. Und es liegen fremde Dinge auf dem Tisch: Parteiausweis, NVA-Ausweis, Ausweise, auf denen quer ein „ungültig“ gestempelt ist, Pionierhalstücher, FDJ-Hemden, goldene Sportmedaillen, Briefe, die „mit sozialistischem Gruß“ unterschrieben sind, Fotos, Jugendweihe-Urkunden, Ehrenbanner der SED. Es liegen da Anstecknadeln von DKP, SDAJ, DTSB, DFD, FDJ. Und es fallen Worte, die ich noch nie gehört habe: Spartakiade, Aktivist, Sobotnik, Abschnittsbevollmächtigter, Volkssolidarität, Pionierleiter, Gruppenrat. Und mit diesen Worten steigen auch die verborgenen, die weggepackten Erinnerungen hoch. Es fällt ihr der Name einer DDR-Schauspielerin ein: Marylin Monrow.
Zum Beispiel bei Frau Frank und ihrem Mann. Da sitzen zwei am Küchentisch, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Sie war Lehrerin, für Deutsch, Geschichte und Staatsbürgerkunde. Und Parteisekretärin. „Eine rote Socke, wenn Sie so wollen“, sagt sie und lacht. Na, und er? „Mich wollten die immer haben, Intelligenz hatten die ja schon genug“, sagt der Elektriker mit einem schrägen Blick auf seine Frau. „Aber mir war das einfach zu viel Geschwafel.“ Wie jetzt? Nicht immer alle auf Linie in der Familie? Jetzt lachen beide. Mächtig gefetzt hätten sie sich.
An der Bushaltestelle auf dem Marx-Engels-Platz hängen Kevin und Liza ab. „Was wisst ihr eigentlich noch von der DDR?“ will ich wissen. „DDR?“ fragt der 17-jährige Kevin überrascht. „Ach du Scheiße. Das hatten wir doch in der Schule … Warte mal … Die hatten keine Autos, nur Pferde und Kutschen“. Und Liza, 16, stöhnt: „Alt. Alte Klamotten, alte Frisuren, alte Filme. Schwarz-weiß.“ Und dann fällt ihr noch der Name einer alten DDR-Schauspielerin ein: „Marylin Monrow hieß die.“
Die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft war schon immer der größte Arbeitgeber in dem Dorf, das jetzt noch knapp 800 Einwohner hat. Und ist es bis heute. Früher waren es 300 Teilhaber, heute sind es noch 20. Aber sie funktioniert immer noch, und sogar gut. Auf dem Weg dahin begegnet mir der Mann, der früher „Scheiß Osten“ hieß. Er hat eine Tischlerei in den ehemaligen Räumen des „Kreisbetriebes für Landtechnik“. Die ist pleite gegangen. Ein überwuchertes Grundstück gleich neben der LPG. „Scheiß Osten“ hieß „Scheiß Osten“, weil er früher immer „Scheiß Osten“ gesagt hat. Jetzt heißt er „Scheiß Westen“.
Was wisst ihr eigentlich noch von der DDR? will ich von kevin und Liza wissen.
Frau Nörenberg-Kolbow ist die Leiterin der LPG und eine resolute Frau. Sie hat Pflanzenproduktion in Rostock studiert, an der „Wilhelm-Pieck-Universität, aber die heißt ja heute anders“. Frau Nörenberg zeigt mir die LPG, da stehen die alten Traktoren, Marke „Aktivist“ und „Brockenhexe“ neben den hochmodernen zehn Mal so breiten Mähmaschinen. Aber die alten sind noch in Betrieb. „Unverwüstlich“, sagt die LPG-Leiterin.
Ob hier noch was auf dem Speicher ist? frage ich wieder mal. Wir steigen die engen Holzstiegen hoch, Frau Nörenberg voran. An dem mit Girlanden dauergeschmückten Saal für Feiern vorbei, und noch eine höher. Dann wird’s dunkel und die Stiegen werden enger. „Hier war ich ja seit 20 Jahren nicht mehr“, murmelt Frau Nörenberg. Durch drei kleine Fenster an der Stirnseite des großen Speichers fällt etwas Licht. Es fällt auf die Fahrtenbücher von 1975. Es fällt auf eine Kiste Glühbirnen vom volkseigenen Betrieb Berliner Glühlampen-Werk. Es fällt auf große Holzstäbe, die mit einem Gürtel zusammengebunden sind, die sind aus dem Jahr 1945. Es sind die Stäbe, mit denen die Großbauern enteignet wurden, die Stäbe, mit denen zur Bodenreform das Land abgemessen wurde. Das alles ist halb mit dickem Staub bedeckt, die andere Hälfte wird von einer Deutschlandflagge zugedeckt.
„Aber das ist, glaube ich, die Westfahne“, sagt Frau Nörenberg und hebt sie kurz an. Ja, ist es. „Och“, sagt Frau Nörenberg, als ich nach hinten ins Dunkel zeige. Da stehen noch weitere Fahnen, sorgfältig zusammengerollt: Die DDR Fahne und zwei rote Fahnen.
An der Bushaltestelle auf dem Marx-Engels-Platz langweilt sich Michi mit seinen Kumpels. Sie sind 14 Jahre alt. Was wisst ihr eigentlich noch von der DDR? „Nichts!“ rufen alle unisono. Ich zeige auf das Straßenschild: „Und Marx und Engels, irgendeine Idee?“ Michi zuckt mit den Schultern „Keine Ahnung, den kenne ich nicht.“ Und er fügt entschuldigend hinzu: „Aber ich wohn’ ja auch noch nicht so lange hier.“
Je länger ich da bin, desto stärker ich eintauche in den Mestliner Dorfalltag, desto mehr werde ich zur Dorffotografin. Die Theater-Gruppe, die im Kulturhaus probt, braucht ein Plakat. Und dann noch schnell für die Ankündigung Fotos für die Schweriner Volkszeitung. Die Schule fängt an und Herr Bölsche, der Reporter des Dorfes, der früher mal VK Bölsche, Volkskorrespondent Bölsche hieß, ist ausgerechnet an diesem Samstag nicht da. Ob ich nicht? Ich kann. Einen Vormittag lang fotografiere ich Kinder in Sonntagskleidern mit viel zu großen Schultüten vor einem Blumengesteck.
Was war früher los in unserem Kulturhaus! Wir haben bis in die Puppen getanzt!
Ich gehe mit den Jugendlichen im See schwimmen, mit den Anglern angeln und bei dem gastfreundlichen Ehepaar Biermann verbringe ich meine Nachmittage bei türkischem Tee und Geschichten von früher. Was war hier früher alles los! In unserem schönen Kulturhaus. Wer war nicht alles hier: Bärbel Wacholz, der Gert-Michaelis-Chor, das Polizei-Orchester aus Schwerin. Sogar Karat und die Puhdys. Unten im großen Saal wurde Theater gespielt, rauschende Feste wurden gefeiert. Man saß brigadeweise zusammen und sang: „Der Mais, der Mais, wie jeder weiß, das ist ein strammer Bengel, der Mais, der Mais, das ist die Wurst am Stengel“. Das war das Maisfest. Und dann der Pionier-Fasching, die Namensgebungen, die Jugendweihe-Feiern! Da platzte das Kulturhaus aus allen Nähten. Dafür wurden im Konsum von Rita Staats schon mal ein paar Extra-Portionen Negerküsse zur Seite gelegt. Und der Bäcker Melchert machte 70 Torten mehr und dazu Windbeutel, Schillerlocken, Liebesknochen und Hefeschnecken.
Die Feiern zum 8. März fanden im kleinen Saal statt. Da wurden zum Frauentag die Nelken überreicht. Und die Frauen saßen an langen Tafeln zusammen und ließen sich von den Männern Kaffee und Kuchen servieren. Dann gab’s bulgarischen Rotwein und es wurde bis in die Puppen getanzt.
Am Ende des kleinen Saales fällt, wie bei einer Kathedrale, Licht durch ein Glasbleifenster. Leuchtende Szenen eines heilen sozialistischen Alltags, Feldarbeiterinnen, Schlosser, Zimmermann, Krankenschwester. Alle Teil des großen Ganzen. Dem Fenster fehlt jetzt die untere Hälfte.
Das gehört zur anderen Geschichte von Mestlin. Eine Art Kollektivtrauma, das ich immer wieder zu hören bekomme. Es fängt gleich mit der Wende an. Der Wessi kam und mit ihm die erste Großraumdisco in der Region, ausgerechnet ins Kulturhaus Mestlin. Ein vielleicht nicht so ganz naiver Bürgermeister machte es möglich. Der Wessi schüttete Sand auf das Parkett, er strich die Wände schwarz und übermalte ein Fresco mit Landarbeitern am Eingang. Er riss die Kronleuchter runter und ließ sie auf dem Steinboden zersplittern. Mestlin, das sozialistische Musterdorf, wurde am Wochenende Ziel von Tausenden von Disco-Besuchern aus Hamburg. Sie pinkelten auf den Marx-Engels-Platz und kotzten in die Ernst-Thälmann-Straße. Der Wessi machte sich irgendwann aus dem Staub, und nahm alles mit, was nicht niet- und nagelfest war. Die Mestliner saßen buchstäblich vor den Trümmern ihrer Geschichte.
Die Zeit. Wie lange bin ich jetzt hier? Eine Woche? Zwei? Drei? Die Zeit scheint hier langsamer zu vergehen. Wieso? Weil mehr davon da ist?
An der Bushaltestelle steht die 20-jährige Nicole mit Kinderwagen, darin ist ihre drei Monate alte Tochter. Sie wartet auf den Bus nach Schwerin. Auf Nicoles Hose ist ein schwarzer Aufnäher, auf dem eine Faust ein Hakenkreuz zerschlägt: „Gegen Nazis“ steht darunter. Was weiß Nicole eigentlich noch von der DDR? Sie stöhnt: „Meine Eltern erzählen so oft davon, ich kann’s nicht mehr hören. Das ist Vergangenheit. Und ich, ich lebe im Hier und Jetzt.“