Body Mass Index: Alles Quatsch!

© Ezra Petronio/Beth Ditto
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Bee. Emm. Iii. Mit Hilfe dieser drei Buchstaben werden seit vier Jahrzehnten Millionen – vor allem weibliche – Menschen terrorisiert. Man nötigt sie, panisch Zahlen in ihren Taschenrechner einzutippen und erklärt sie zu verantwortungslosen, undisziplinierten Menschen, sofern die Zahl, die am Ende der komplizierten Berechnungen herauskommt, größer ist als 25. 25, das ist die magische Zahl, die Gut von Böse trennt. Die Schwelle zwischen Normalgewicht und Präadipositas, die niemand, der einen Platz im Leben oder auch nur in einer Lebensversicherung will, überschreiten darf.

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Diese Zeiten dürften bald endgültig vorbei sein. Zu verdanken ist dies einem amerikanischen Mediziner namens Jeffrey Hunger (!) und seiner jüngsten Studie. Diese Untersuchung, so Hunger, sei „der letzte Sargnagel für den BMI“. Dabei steht für denkende Menschen schon seit Jahren fest: Der Body-Mass-Index ist Schwachsinn.

Was soll denn das sein, Körpergröße zum Quadrat?

Für all jene, an denen diese Formel gnädigerweise vorbeigegangen ist, sei sie hier nochmal erklärt: BMI = Körpermasse (vulgo: Gewicht) geteilt durch Körpergröße zum Quadrat. Also: Eine Frau, die 1,70 groß ist und 70 Kilo wiegt, rechnet: 70 durch 1,7². Macht einen BMI von 24,2. Damit schrappt sie nur knapp an einer Exkommunikation aus der Gemeinde der Schlanken & Gesunden vorbei. Denn ein BMI ab 25 gilt bereits als „präadipös“. Dieses Tor zur Hölle würde die 1,70 große Frau bei einem Gewicht von 73 Kilo durchschreiten.

Noch bis 2014 wurden Menschen mit einem BMI über 30 grundsätzlich nicht verbeamtet. Den hätte unsere Frau bei einem Gewicht von 87 Kilo. Nach mehreren Klagen abgelehnter AnwärterInnen wurde die BMI-Schallgrenze auf 35 erhöht. Inzwischen hat das Bundesverwaltungsgericht geurteilt, dass die pauschale Beurteilung der Gesundheit eineR potenziellen BeamtIn aufgrund des BMI nicht mehr zulässig ist. Was zählt, ist der jeweilige Einzelfall.

Auf diese Idee hätte man auch früher kommen können. Was soll denn das bitteschön sein, die „Körpergröße zum Quadrat“? Der Körper ist bekanntlich dreidimensional und ein ziemlich komplexes Konstrukt aus Fleisch, Blut und noch ein paar anderen Zutaten wie Hirn, Herz, Hormonen. Was also kann es aussagen, dass zum Beispiel meine Körpergröße von 1,60 Meter ein Quadrat mit einer Fläche von 2,56 m² ergibt, und warum, in Gottes Namen, soll ich mein Gewicht dadurch teilen?

Das fragen sich außer mir noch mehr Menschen, wie zum Beispiel der bekannte Ernährungswissenschaftler Udo Pollmer. Der schreibt Bücher mit so entspannenden Titeln wie „Esst endlich normal!“ und besitzt aus Prinzip keine Waage. Pollmer ätzt: „Pardon, aber wer aus Körpergewicht und Körpergröße einen Quotienten errechnet, um daraus die gesundheitliche Zukunft eines Menschen zu weissagen, muss völlig plemplem sein. Da kann man ebenso aus dem Schädelumfang und der Körbchengröße einer Ernährungsberaterin deren Intelligenzquotienten berechnen.“

Neue innere Fesseln für die entfesselten Weiber

Erfunden wurde die unsinnige Formel übrigens schon 1832, und zwar von dem belgischen Mathematiker Adolphe Quetelet. Glücklicherweise nahm sie zunächst niemand zur Kenntnis. Seinen Siegeszug trat der Plemplem-Quotient anno 1972 an, als amerikanische Lebensversicherungen nach einem statistischen Instrument verlangten, um aus dem Körpergewicht der AntragstellerInnen auf deren Lebenserwartung zu schließen. Geliefert wurde es ihnen von dem Ernährungswissenschaftler Ancel Keys, der die verstaubte Formel hervorkramte und ihr den Namen Body-Mass-Index gab. 

Schon hier wäre Skepsis geboten gewesen, denn Keys hatte offenbar ein schwer gestörtes Verhältnis zu wohlgenährten Menschen. So genannte Übergewichtige fand er „ekelerregend“ und „aus ethischer Sicht abstoßend“. Berühmt geworden war der Wissenschaftler mit einem Experiment über die Folgen von Mangelernährung, bei dem er seine Probanden drei Monate lang von Wurzelgemüse und Schwarzbrot ernährte, bis sie völlig apathisch und anämisch wurden.

Verdächtig auch das Timing: Fällt die Propagierung des Terror-Instruments nur zufällig auf den Höhepunkt der westlichen Frauenbewegung? Schließlich vertritt nicht nur die feministische Psychoanalytikerin Susie Orbach die äußerst schlüssige These, dass das Patriarchat auf den Ausbruch der Frauen aus ihrer traditionellen Rolle postwendend reagierte, indem sie den entfesselten Weibern mit aberwitzig dürren Schönheitsidealen neue, innere Fesseln anlegte.

44 Jahre und Abermillionen diätende Frauen später, die sich mit Blick auf ihren angeblich zu hohen BMI ähnlichen Hungerkuren unterwarfen wie einst die Probanden von Ancel Keys, wird nun der Body-Mass-Index endgültig zu Grabe getragen. Immer wieder waren in den letzten Jahren Studien zu dem Ergebnis gekommen, dass der BMI weder Muskelmasse noch Fettverteilung des jeweiligen Körpers berücksichtigt – und dass sich überhaupt die Frage stellt, ob die kettenrauchende Kaffee-Kampftrinkerin mit einem super BMI von 19 tatsächlich gesünder lebt als die tiefenentspannte Mollige mit einem BMI > 30.

Bye, Bye BMI. Welcome GMV!

Dank Jeffrey Hunger und seiner Kollegin Janet Tomiyama von der University of California wissen wir nun definitiv: „Ob ein Mensch gesund ist oder nicht, ist weitgehend unabhängig davon, was er auf die Waage bringt.“ Hunger und Tomiyama hatten die Daten aus der jüngsten Erhebung zu Gesundheit und Ernährungsverhalten der amerikanischen BürgerInnen ausgewertet. Sie setzten den Body-Mass-Index in Verbindung mit Werten wie Blutdruck, Blutzucker oder Cholesterinspiegel. 

Und siehe da: JedeR zweite „Übergewichtige“ mit einem BMI über 25 hatte völlig normale Werte. Dafür waren die Blutwerte bei jedem dritten „Normalgewichtigen“ kritisch und sprachen für ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes & Co. Interessanterweise hielten sich aber die „Übergewichtigen“ allein aufgrund ihres hohen BMI im vorauseilenden Gehorsam für „ungesund“. In den USA zahlen „Übergewichtige“ sogar höhere Beiträge in die Krankenversicherung, und auch so manche private Krankenkasse in Deutschland lässt sich den angeblich gesundheitsgefährdenden BMI ihrer Mitglieder vergolden. 

Mediziner Hunger und Psychologin Tomiyama fordern nun also den Abschied vom BMI. „Da werden Gesunde aufgrund falscher Vorstellungen bestraft, während Normalgewichtige unter dem Radar fliegen. Politiker, Arbeitgeber und Versicherungen sollten bessere Kriterien für die Gesundheit ins Visier nehmen.“ 

Bye Bye, BMI. Welcome GMV. Will heißen: Gesunder Menschenverstand.

Chantal Louis

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Leben mit dem Monster

Fotocollage aus der Serie "Puppenhaus" von Cornelia Hediger.
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Jana hat das Monster an die Kette gelegt. „Manchmal rüttelt es noch gewaltig, aber dann weiß ich, was zu tun ist“, sagt sie. Jana ist 35 Jahre alt, verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Als sie das erste Mal schwanger war, hat das Monster das letzte Mal so richtig gerüttelt. Was ist, wenn ich zunehme?! Da war sie wieder, diese Scheiß-Panik. Aber Jana hat das Monster im Griff. Bis dahin war es ein langer Weg. Jana arbeitet heute als Therapeutin für essgestörte junge Frauen. Die sollen nicht wissen, dass ausgerechnet die Frau, die Monster verjagt, selbst eins am Hals hat. Deshalb heißt Jana in diesem Text anders als in Wirklichkeit.

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Gerdas Monster hat sich losgerissen. Seither tobt es durch ihr Leben. Das hat Spuren hinterlassen. Die Haut spannt über ihren Knochen und die wachen Augen wirken viel zu groß in ihrem schmalen Gesicht. Gerda ist 55 Jahre alt, verheiratet, studierte Biologin mit Karriere in der Pharmaindustrie. Aber das ist vorbei. Bis vor kurzem war sie in einer Klinik, weil ein Gewicht unter 39 Kilo lebensgefährlich ist. Seit ihrer Entlassung, Gewicht 47 Kilo, fährt Gerda wieder 50 Kilometer Rad am Tag und scheut sich, Kohlenhydrate zu essen. „Manchmal denke ich, ich werde es nicht schaffen“, sagt sie. Gerdas neuer Chef kennt ihr Monster nicht. Deswegen heißt auch sie hier anders als in Wirklichkeit.

Nadines Monster schläft. Oder ist es tot? Schön wäre es! Nadine ist 36 Jahre alt, hat einen fürsorglichen Mann, eine kleine Tochter und einen Job, von dem Nadine prima leben kann. „Mit dem Kotzen bin ich durch“, sagt sie. Nur manchmal, wenn der „innere Druck mal wieder zu groß wird“, wünscht sie sich nochmal das befreiende Gefühl zurück: Essen bis es weh tut – und dann alles raus. Ihrem Mann hat sie von dem Monster nie erzählt. Deshalb will auch sie ihren wahren Namen nicht verraten.

Ich habe Angst, dass mein neuer Chef etwas mitbekommt ...

Dies ist nicht nur die Geschichte von Jana, Gerda und Nadine, sondern die von Millionen erwachsenen Frauen, die auch mit dem Monster leben. Das Monster heißt Anorexia nervosa, Bulimia nervosa oder Binge-Eating-Störung. Das sind die drei großen Formen der Essstörungen. Soweit die Theorie. Die Praxis ist komplizierter. Da treten Mischformen oder ganz atypische Fälle auf, die nicht eindeutig klassifiziert werden können nach den strengen Diagnosekriterien. Dass das Monster nicht nur Teenagerinnen, sondern auch erwachsene Frauen wie Jana, Gerda oder Nadine anfällt, wird nicht nur von den Medien ignoriert. Auch die Forschung zu Essstörungen bei Frauen jenseits der 35 liegt bisher weitestgehend brach.

Kein Wunder: Die Schulmedizin geht davon aus, dass es sich bei den erst seit rund 30 Jahren öffentlich thematisierten Essstörungen um psychische Erkrankungen handelt, die typisch sind für Mädchen in der Pubertät, an der Schwelle zum Erwachsensein. Dann, wenn die „Verletzbarkeit im Leben sehr groß ist.“ So formuliert es Stephan Herpertz, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsklinik Bochum, wo auch Essstörungen behandelt werden. Er sagt: Wenn zum Beispiel eine Frau jenseits der 25 oder 30 an einer Essstörung erkrankt „ist das in der Regel ein Rückfall“. Häufig haben die Frauen „in jungen Jahren schon mal an Anorexie oder Bulimie gelitten.“ Im ersten Jahr nach der Therapie ist laut Herpertz das Rückfallrisiko am höchsten.

Die Prognosen klingen alarmierend: Die Magersucht zum Beispiel nimmt bei jeder zweiten Betroffenen trotz Therapie einen chronischen Verlauf. Bei den einen läuft es wie bei Jana. Sie haben das Monster an der Kette und meistern ihren Alltag. Bei anderen läuft es wie bei Gerda, die heute von einer Erwerbsminderungsrente und einem Mini-Job lebt. Die Magersucht schränkt das Leben massiv ein. Schlimmer noch: „Bei bis zu 15 Prozent nimmt die Krankheit über einen Zeitraum von 10 bis 15 Jahren einen tödlichen Verlauf“, sagt Stephan Herpertz. Die Sterberate bei Magersucht ist so hoch wie bei keiner anderen psychischen Erkrankung.

Bei der Bulimie ist es noch komplizierter: Hier erlebt etwa jede Dritte einen Rückfall. Doch so ganz genau kann man das nicht sagen, denn die Frauen leben oft jahrelang mit der Krankheit, ohne dass jemand etwas bemerkt.

Meinem Mann habe ich nie etwas davon erzählt ...

Dass eine Frau jenseits der 40 erstmalig eine Essstörung entwickelt, hält der Präsident der „Deutschen Gesellschaft für Essstörungen“ für unwahrscheinlich. Denn: „Mit zunehmendem Alter lässt sich eine Frau in ihrem Selbstbild nicht mehr so leicht erschüttern und Selbstwertprobleme nehmen ab. Insbesondere wird sie auf Stress und Lebenskrisen nicht mit Fasten und Diäten reagieren, was die Vorbedingungen für eine Magersucht oder eine Bulimie sind.“ Sind Frauen jenseits der 40 wirklich nicht so leicht zu erschüttern und spielt ihr Körper tatsächlich keine so große Rolle mehr für ihr Selbstwertgefühl? Will sagen: Sind die Ü40 und Ü50 jenseits von Gut und Böse?

ForscherInnen, die genauer nachfragen, kommen inzwischen zu einem anderen Ergebnis. „Es gibt Rückfälle im Alter“, sagt Barbara Mangweth-Matzek. Aber, und das ist der Psychotherapeutin von der Universitätsklinik für Psychiatrie in Innsbruck wichtig: „Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass Frauen über 40 zum ersten Mal eine Essstörung entwickeln.“ Schon seit einiger Zeit beobachtet Mangweth-Matzek, dass die Essstörungspatientinnen nicht nur immer jünger, sondern auch immer älter werden. Deswegen hat sie sich entschieden, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie wertete die wenigen internationalen Studien aus. Und befragte selbst über 800 Österreicherinnen zwischen 40 und 70 nach ihrem Körpergefühl, ihrem Ess- und ihrem Diätverhalten, sowie nach Symptomen in Richtung Essstörungen.

Erstes Ergebnis: Für ältere Frauen hat das Körperbild eine genau so große Bedeutung wie für junge Frauen – und die meisten Frauen sind mit ihrem Körper unzufrieden, unabhängig vom Alter.

Zweitens: Ein essgestörtes Verhalten ist bei Frauen über 40 genau so verbreitet wie bei Frauen unter 30. Die Wechseljahre sind dabei eine besonders verletzliche Phase. Drittens: Viele dieser älteren Frauen haben eine so genannte atypische Essstörung. Dann sind nicht alle Kriterien von Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa erfüllt. Viertens: Bei der Mehrheit der Befragten ist der Magerwahn ins Gegenteil umgeschlagen. Die Frauen leiden an einer so genannten Binge-Eating-Störung. Sie fressen gegen den Frust.

Was all diese Frauen im mittleren Alter gemeinsam haben: Sie verbindet eine „meist ähn­liche Lebenssituation“, sagt Mangweth-Matzek. In ihrer Beziehung sind sie nicht mehr begehrt, die Kinder sind ausgezogen, der Beruf ist langweilig. „Und dann denken sie: Ich muss was ändern. Dann tue ich doch mal etwas für meinen Körper!“ Daraus muss keine Essstörung entstehen. „Warum es in manchen Fällen passiert und in anderen nicht, darüber herrscht nach wie vor keine 100-prozentige Klarheit“, sagt die Psychotherapeutin. Aber Angst vor dem Altern und die Wechseljahre sind wesentliche Faktoren.

Also auch: die Angst vor dem Verlust der Weiblichkeit und des „Begehrtwerdens“. Dieser Anspruch hat sich heute um 10, 20 Jahre verschoben. Auch Frauen über 60 finden, dass sie begehrenswert sein könnten – wenn sie denn nur schlank wären!

Mangweth-Matzek geht davon aus, dass viele dieser Frauen sich keine Hilfe holen, weil sie, wie typisch, noch nicht einmal einen Namen für ihr Problem haben. Oder sie schämen sich und schweigen. „Nehmen sie eine Frau in den Wechseljahren, die eine Essstörung entwickelt. Wie soll die denn offen darüber reden können? Es ist doch schon ein Tabu, überhaupt über Wechseljahre zu sprechen“, sagt Mangweth-Matzek.

Betroffene bleiben unsichtbar, weil es keine Debatte gibt. Und es gibt keine Debatte, weil die Betroffenen unsichtbar bleiben. Dabei machen auch in Deutschland Therapeutinnen ähnliche Beobachtungen wie die Österreicherin. Immer häufiger kommen erwachsene Frauen in die Praxen. Frauen, die am Ende des Studiums nicht mehr klarkommen. Frauen, die schwanger sind. Frauen, die gerade ihren Job verloren haben. Frauen, die eine Scheidung hinter sich haben. Frauen in den Wechseljahren. Frauen, die über einen Todesfall nicht hinwegkommen.

Kurzum: Frauen, deren Leben gerade aus den Fugen gerät. Und die mit dem Mechanismus reagieren, den sie schon von Kindesbeinen an gelernt haben: Wenn sie schon nicht ihr Leben kontrollieren können, dann doch zumindest ihren Körper.

Meine Tochter soll nichts davon erfahren ...

Margrit Hasselmann vom „Landesinstitut für Schule Bremen“, die eigentlich Mädchen über die Gefahren von Essstörungen aufklärt, weiß, dass es besonders schwierig wird, wenn der Körper sich im Alter automatisch verändert: „Der Stoffwechsel und der Hormonhaushalt kippen, der Körper wird schwabbelig, die Haut bekommt Falten, der Bauch wird dicker und die Frauen merken plötzlich, dass sie die Kontrolle verlieren“, sagt sie. In solchen Momenten kann eine Essstörung, die eigentlich als überwunden galt, auch wieder aufflackern.

„Es fängt immer mit einer Diät an“, sagt Doris Weipert, Leiterin des „Forums für Essstörungen“ in Wiesbaden. Auch in ihrer Praxis sitzen heute nicht nur deutlich jüngere, sondern auch deutlich ältere Patientinnen als früher. Teilweise leiden diese Frauen seit Jahrzehnten an einer chronischen Magersucht, mit ständigen Aufs und Abs.

Für diese Frauen ist eine Diät wie Schnaps für einen Ex-Alki. Deswegen ist die promovierte Psychologin Weipert so alarmiert über die zahlreichen Ernährungsphilosophien, die aus dem Internet direkt in die Köpfe der Frauen purzeln. „Wir haben keinen entspannten Umgang mit Essen mehr“, beobachtet sie. Stattdessen jagt ein Ratgeber den nächsten. Worte wie „Diät“ kommen darin gar nicht mehr vor. Heutzutage machen Frauen „Ernährungsumstellungen“. Sie essen keine Kohlenhydrate und keinen Zucker mehr, um „etwas für ihren Körper zu tun“. Sie ernähren sich vegan, um „fit zu sein“. Sie trinken nur noch Gemüsesäfte, um sich „innerlich zu reinigen“. Oder sie machen tagelange „Detoxing-Kuren“, um ihre „weibliche Kraft wieder zu entdecken“. Weipert weiß: „Immer dann, wenn das Essverhalten einer rigiden Systematik folgt, bewegen sich die Frauen an der Schwelle zu einer Essstörung.“ Schon länger kursiert sogar ein Begriff für dieses zwanghaft korrekte Essen: Orthorexia nervosa.

Der Diätterror ist also jetzt mit Tarnkappe unterwegs. Damit kehrt sich sein Image ins Gegenteil. Es wird nicht mehr schräg angeguckt, wer im Restaurant an einem Salatblatt nagt, sondern wer sich ein Schnitzel mit Kartoffelpüree bestellt. Was, du isst nicht nur Fleisch, sondern auch noch Kartoffeln!? Willst du dich etwa umbringen?! Isch des wenigstens bio? Noch besser: bio-regional?!

Dass sich diese Philosophien des „richtigen“ Essens vor allem an Frauen richten, passt zu der uralten Vorstellung, dass das Weib rein und gesund sein soll. Schon wegen der Kinder. Eva Barlösius, Professorin für Soziologie an der Universität Hannover und Autorin der „Soziologie des Essens“, spricht von einer regelrechten „Ernährungsfrömmigkeit“. Das Essen ist zur Ersatzreligion geworden.

Und so fällt es den essgestörten Frauen auch leichter, sich selbst zu betrügen. Denn sie wollen ja „nur aus gesundheitlichen Gründen fünf Kilo abnehmen“. Und aus fünf werden dann zehn. Und aus zehn werden fünfzehn. Und wenn es nicht weitergeht mit dem Gewichtsverlust, kann frau sich ja immer noch den Finger in den Hals stecken.

Die Abnehm-Gurus, die den Frauen die Ernährungsbotschaften überbringen, betreiben geschickt ein Millionen-Geschäft. Wer einmal an einem „Programm“ mit vielversprechenden Titeln wie „I’ll make you sexy!“ teilgenommen hat, merkt schnell: Hier geht es nicht nur darum, kein Brot und keine Nudeln mehr zu essen. Hier geht es um ein Komplettpaket aus Kochen, Sport und Psycho. DU hast dich für diesen Weg entschieden! DU bist stark! DU schaffst das! Und DU bezahlst! Nicht nur die Tipps für den sexy body, sondern auch das passende Sportequipment, die passenden Küchenutensilien, die passenden Ernährungsersatzprodukte, die passenden Klamotten, die weiterführenden Kochbücher und selbstverständlich: das Langzeitprogramm. Damit aus 15 Kilo Minus nicht in Kürze 30 Kilo Plus werden.

Diese Angebote samt Bestellbutton stehen in den gleichen E-Mails und auf den gleichen Webseiten wie die Kochvideos, die beim Abnehmen helfen sollen. Es ist der digitalisierten Ernährungsindustrie gelungen, zwei Prinzipien zu vereinen, mit denen Frauen seit jeher abgezockt werden: die Diät und die Kaffeefahrt. 

Wie viele Frauen inzwischen auf dem Trip sind, ist ungewiss. Die wenigen Zahlen, die es überhaupt zu Essstörungen gibt, sind in der Regel Berechnungen auf Grund diagnostizierter Fälle. Wie paradox das ist, lässt sich an einem Detail beschreiben. Bis vor drei Jahren wurde laut der Diagnosekriterien DSM-IV eine Anorexie nur dann diagnostiziert, wenn auch die Tage ausblieben. Damit waren ältere Frauen, die ihre Tage gar nicht mehr haben, draußen. Das bei Erwachsenen so verbreitete Binge-Eating war da noch gar keine eigene Krankheitskategorie.

Manfred Fichter, der seit vielen Jahren zum Verlauf von Essstörungen forscht und von 1985 bis 2009 Ärztlicher Direktor der Schön Klinik Roseneck am Chiemsee war, die erste Klinik in Deutschland mit Spezialstationen für Betroffene von Essstörungen, schätzt: 0,5 Prozent der Mädchen und Frauen in Deutschland leiden an Magersucht; rund 1,5 Prozent an Bulimia nervosa; und 1,6 Prozent an einer Binge-Eating-Störung. Diese Zahlen beziehen sich allerdings nur auf die „Risikogruppe der 15- bis 35-Jährigen“.

Manchmal denke ich, ich werde es nicht schaffen ...

In Deutschland leben laut Statistischem Bundesamt derzeit 8.572.468 Frauen in dieser Altersgruppe. Hochgerechnet wären das also 308.608 Fälle. Fichter sagt: „Wenn sie die Dunkelziffer dazuzählen und die Frauen, die auf der Kippe stehen, dann können Sie die bekannten Zahlen verdoppeln, mindestens.“ Und wenn wir die über 35-Jährigen dazurechnen? Dann kämen wir auf Millionen.

Die große Zahl der „Frauen auf der Kippe“ haben einen Leidensdruck, der sich von dem der jungen Frauen mit Volldiagnose nicht unterscheidet. Nicht nur, weil Essstörungen körperliche Schäden zurücklassen. Und nicht nur, weil Essstörungen oft in anderen psychischen Erkrankungen münden, wie Depressionen. Sondern auch, weil Essstörungen das Sozialleben zerstören.

Das fängt mit kleinen Einschränkungen an: Der Restaurantbesuch mit Freundinnen wird abgesagt. Die Hobbys fallen flach – bloß nicht den Körper zeigen. Typische Begleiterscheinungen wie extremer Sport, permanente Einkäufe, die aufwändige Zubereitung nach zwanghaftem Ernährungsplan nehmen die ohnehin knappe Freizeit voll in Anspruch. Von den Kosten mal abgesehen: Insbesondere Fressattacken fressen Geld.

„Wenn sie am Tag für 50 oder 100 Euro essen und alles wieder erbrechen, geben sie monatlich weit über tausend Euro nur für Essen aus. Viele Betroffene verschulden sich immens“, weiß Stephanie Maier von ANAD, dem „Versorgungszentrum Essstörungen“ in München. Dieser Aspekt falle oft unter den Tisch. Maier leitet ambulante Wohngruppen und therapeutisch betreute Einzelwohnungen, in denen essgestörte Frauen Zuflucht finden. Sie kennt Frauen über 40, die sich nicht einmal, sondern mehrmals am Tag erbrechen. „Solche Fälle hatten wir früher nicht“, wundert sich die Sozialpädagogin.

Essstörungen haben das erste Mal in den 60er und 70er Jahren „dramatisch zugenommen“, erklärt Manfred Fichter. Twiggy lässt grüßen! Es war kein Zufall, schrieb die in England arbeitende amerikanische Psychotherapeutin Susie Orbach schon in ihrem 1984 erschienen Klassiker „Anti Diät Buch“, dass die Propagierung des Magerwahns in dieselbe Zeit fiel wie die aufkeimende Emanzipationsbewegung. Auch Alice Schwarzer sah das schon 1984 so: „Männer machen Karriere, Frauen Diäten. Wir sollen uns dünne machen. In jeder Beziehung“, schrieb sie in dem EMMA-Sonderband „Durch dick und dünn“. Dieses Heft brach in Deutschland das Schweigen. Zusammen mit Orbachs Buch löste der EMMA-Band erstmals eine breite Debatte aus und die ersten Hilfsprojekte für Essgestörte.

Wie fängt es an? „Jedes zweite Mädchen fühlt sich heute zu dick“, warnen Maya Götz und Andreas Schnebel in dem Band „Warum seh’ ich nicht so aus?“, den das „Internationale Zentralinstitut für Jugend- und Bildungsfernsehen“ (IZI) zusammen mit ANAD herausgibt. „Bei jedem dritten Mädchen zwischen 11 und 17 Jahren gibt es Hinweise auf eine Essstörung“, warnte das Robert-Koch-Institut schon 2006 in der KiGGS-Studie. 2006 startete auch die Sendung „Germany’s next Topmodel“, die nachweislich Mädchen zum Hungern verführt. Auch Erwachsene gucken „Germany’s next Topmodel“. Die Sendung unter der Fuchtel von Heidi Klum, die selbst nur sieben Wochen nach der Geburt von Sohn Henry schon wieder für die Dessous-Firma „Victoria’s Secret“ über den Laufsteg stakste.

Das heißt: Jüngere Frauen haben das Problem, dass sie von einer Flut von Bildern meist junger Models mit völlig unrealistischen Körpermaßen schier erschlagen werden. Erwachsene Frauen haben das umgekehrte Problem: Es gibt keine Fotos von älteren Körpern. Das heißt: Auch ältere Frauen sehen immer nur diese extrem jungen, extrem dünnen Models. Mit Körpermaßen, denen die perfektionistischen und ehrgeizigen Essgestörten immer weniger gerecht werden können. Und die Monster zerren an den Ketten. Wie lange werden diese Frauen noch schweigen?  

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