Britinnen auf den Barrikaden

Frauenproteste in London nach dem Mord an Sarah Everard. Foto: Tayfun Salci/Zuma Wire/Imago
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Die 19-jährige Lizzie Wilson stand mit drei Freundinnen im dichten Gedränge eines Londoner Nachtklubs, als sie einen Stich im Rücken spürte. Zehn Minuten später konnte sie sich nicht mehr auf den Beinen halten. Ihre Freundinnen brachten sie sofort ins Krankenhaus. Dort lag Lizzie stundenlang desorientiert und ohne Gefühl in den Beinen. Was war passiert? Jemand hatte ihr K.O.-Tropfen verpasst. Nicht, wie inzwischen üblich, in einem Getränk, sondern via Spritze. Das sogenannte „Spiking“, bei dem Betäubungsmittel in die Getränke von Frauen getropft werden, um sie wehrlos zu machen und zu vergewaltigen, ist überall auf der Welt ein Problem, in Großbritannien ein besonderes. „Rape Drugs“ kursieren dort an den Hochschulen wie anderswo Haschisch, sie sind Teil einer „Rape Culture“, die sich von den Hochschulen über das ganze Land ausbreitet.

Nun also auch noch Spritzen. „Ich dachte, ich könnte nicht mehr schockiert sein, aber das ist ein neuer Tiefstand“, sagte Sue Fish, die Polizeichefin von Nottinghamshire. Seit September registrierte die britische Polizei pro Monat um die 200 Fälle, in denen Frauen die K.O.-Tropfen in den Rücken oder die Beine gespritzt wurden. Laut Guardian gab es Spritzen-Angriffe in Brighton, Swansea, Liverpool und Leeds – alles Uni-Städte.

Die Initiative „Girls Night in“ – die seit Transprotesten nur noch „Night in“ genannt wird – rief im Oktober 2021 in 43 Uni-Städten zum Boykott von Pubs und Klubs auf, sollten sie ihre Sicherheitsmaßnahmen nicht verschärfen. Die 20-jährige Primrose Sparks, die die Proteste organisierte, sagte den Medien: „Früher musste man sich überlegen, ob man ausgeht, wenn man am nächsten Morgen Vorlesung hatte. Jetzt fragen sich Frauen, ob sie überhaupt noch ausgehen können! Trauen wir uns bald gar nicht mehr unters Volk?“

Die Spritzen-Attacken sind ein weiterer trauriger Höhepunkt der Welle der Gewalt gegen Frauen, die durch Großbritannien rollt. Seit dem Mord an Sarah Everard durch einen Polizisten im März 2021 brodelt es in Elizabeths Königreich, die Britinnen sind auf den Barrikaden. Der Polizist Wayne Couzens (48) hatte die 33-Jährige im Londoner Stadtteil Clapham unter dem Vorwand gegen Corona-Maßnahmen verstoßen zu haben, festgenommen, sie vergewaltigt und getötet. Der Polizist hat die Leiche dann mit Benzin übergossen, angezündet und in einen Tümpel geworfen. „Er hat meine Tochter entsorgt, als wäre sie Müll“, sagte Sarahs Mutter vor Gericht. Im September 2021 wurde Couzens, der laut Kollegen, schon lange unter dem Spitznamen „der Vergewaltiger“ bekannt war, zu lebenslanger Haft verurteilt.

Just in dem Monat wurde wieder eine Frau, Sabina Nessa, auf offener Straße ermordet. Die 28 Jahre alte Grundschullehrerin war auf dem Weg von ihrer Wohnung zu einem Pub im Südosten Londons. Einen Monat später wurde wieder eine Frau von einem Polizisten vergewaltigt. Innerhalb eines Jahres sind landesweit 180 Frauen von Männern getötet worden, die große Mehrheit von ihnen vom eigenen Partner. In Großbritannien stirbt jeden dritten Tag eine Frau durch die Gewalt ihres Mannes – genau wie in Deutschland. Londons Bürgermeister Sadiq Khan spricht von einer „Epidemie der Gewalt gegen Frauen und Mädchen“. Auch Camilla schaltete sich ein. Die 74-jährige Ehefrau von Prinz Charles forderte in einer engagierten Rede konkrete Maßnahmen gegen Männergewalt. Sie rief alle Männer dazu auf, sich gegen sexuelle Gewalt zu stellen, die Kultur des Schweigens zu durchbrechen und endlich „mit an Bord“ zu kommen. In einem Bericht von Queen Elizabeth zur „Inspektion der Polizei“ wurde die Gewalt gegen Frauen als Epidemie bezeichnet und empfohlen, sie mit der gleichen Dringlichkeit zu behandeln wie den Terrorismus.

Und Premierminister Boris Johnson? Der gab sich zwar betroffen, versprach über mehr Straßenbeleuchtung und eine Aufklärungskampagne nachzudenken, aber ist dagegen, Frauenhass als „Hassverbrechen“ einzustufen. Die Abgeordnete Stella Creasy von der Labour Partei engagiert sich dafür, dass „Frauen und Mädchen das gleiche Maß an Schutz gewährt wird, das andere bekommen, die allein aufgrund ihrer Herkunft zu Opfern werden“. Die Gruppe forderte damit die Aktualisierung der „nationalen Hassverbrechensgesetze“, um Verbrechen mit dem Motiv „Frauenhass“ zu erfassen.

Nach dem Mord an Sarah Everard hatten Frauen in Clapham die Initiative „Reclaim These Streets“ („Holt euch die Straßen zurück“) gegründet, der sich hunderttausende Frauen im ganzen Land anschlossen.

Ältere Britinnen erinnert das an die 1970er Jahre, als der „Yorkshire Ripper“, der 13 Frauen ermordete, auf freiem Fuß war, und die Polizei an die Haustüren klopfte, um Frauen aufzufordern, zu ihrer eigenen Sicherheit im Haus zu bleiben. Auch nach dem Tod von Sabina Nessa gaben Polizisten den Frauen in Kidbrooke Ratschläge, nachts nicht allein raus zu gehen und sich an gut beleuchtete Wege zu halten. „Wollt ihr uns verarschen?“, erzürnten sich die Aktivistinnen von „Reclaim these Streets“. „Es geht nicht um das Verhalten von Frauen – es geht um das Verhalten von euch Männern! Macht endlich euren Job und geht aktiv gegen Täter vor!“

Das fordert auch die Initiative „Sistah Space“, die 2015 in London von schwarzen Frauen gegründet wurde. Weil schwarze Frauen noch stärker Polizeigewalt ausgesetzt sind, fordern die Sistahs seit Jahren verpflichtende Schulungen für PolizistInnen gegen Rassismus und Frauenhass – und Konsequenzen bei Nichtbeachtung.

Der Brexit hat die Situation noch verschlechtert. Viele der britischen Gesetze beruhen im Bereich der Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitik auf EU-Gesetzgebung, der Arbeitsschutz für Schwangere zum Beispiel. Dieser Schutzschirm ist mit dem Brexit weggeflogen, und mit ihm zahlreiche EU-finanzierte Projekte gegen Gewalt gegen Frauen.

Als die englische Fußballmannschaft im Juli das Endspiel der WM in London verlor, posteten Frauen- und Opferverbände sofort Notfall-Nummern und Adressen von Frauenhäusern. „England verliert ein Fußballspiel und das Erste, woran Frauen denken müssen, ist ihre Sicherheit“, sagten die Leiterinnen von Frauenhäusern den Medien.

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