In der aktuellen EMMA

Brownmiller: Gegen unseren Willen

1975 schrieb Susan Brownmiller eine bahnbrechende Analyse über Vergewaltigung.
Artikel teilen

Susan Brownmiller, geboren 1935, war eine der führenden Radikalfeministinnen in New York. Nach dem legendären öffentlichen Speak-Out am 24.1.1971 in New York („Vergewaltigung ist ein politisches Verbrechen“) kam die Journalistin zu dem Schluss, dass eine umfassende Analyse der Vergewaltigung fehle. Nach vier Jahren Forschungsarbeit erschien 1975 „Against Our Will: Men, Women and Rape“, einer der großen Klassiker des Feminismus. Der Text analysierte Vergewaltigung im Ehebett ebenso wie die Kriegsvergewaltigungen. Brownmiller kam zu dem Schluss: „Bei Vergewaltigung geht es nicht um Sex, sondern um Macht. Vergewaltigung ist ein bewusster Prozess der Einschüchterung, mit dem alle Männer alle Frauen in einem Zustand der Angst halten.“ (Teile des Buches wurden vor seinem Erscheinen auf Deutsch 1977 in vier Folgen in EMMA vorabgedruckt.) Susan Brownmiller wurde als Susan Warhaftig in Brooklyn geboren. Ihre Mutter  war Sekretärin, ihr Vater Verkäufer. Die Eltern schickten die Tochter zweimal in der Woche ins Jüdische Zentrum. Rückblickend sagt sie: „Ich kann wohl sagen, dass der Weg, den ich gewählt habe – gegen körperliche Verletzungen zu kämpfen, besonders gegen den Terror und die Gewalt gegen Frauen – seinen Anfang nahm, als ich in der Hebräisch-Schule von den Pogromen und dem Holocaust erfuhr“, schrieb sie auf der Website des „Jewish Womenʼs Archive“. Brownmillers Essay über Vergewaltigung erschien weltweit – und löste heftige Reaktionen aus. Er prägte die Frauenbewegung tief. 1978 war Brownmiller eine der Begründerinnen von „Women against Pornography“. Sie lebt bis heute in Manhattan.

Frauen werden zu Vergewaltigungsopfern konditioniert. Schon das einfache Lernen des Wortes „Vergewaltigung“ macht sie mit dem Machtgefüge zwischen den Geschlechtern vertraut. Das Reden darüber, auch wenn es mit ner­vösem Lachen geschieht, bestätigt bereits ihren Opferstatus. Als Kinder hören wir es raunen: Mädchen werden vergewaltigt. Natürlich nicht die Jungen. Die Botschaft ist eindeutig. Vergewal­tigung hat etwas mit unserem Geschlecht zu tun.

Es ist etwas Furchtbares, das Frauen zustößt, es ist die Dunkelheit am Ende der Treppe, der ungewisse Abgrund, der sich hinter der nächsten Ecke auftut, und wenn wir nicht sehr aufpassen, kann es auch unser Schicksal werden.

Kaum wahrnehmbar schleicht sich Vergewal­tigung in unser kindliches Bewusstsein ein, und noch ehe wir lesen lernen, ist uns eine Opfer-Mentalität indoktriniert worden. Märchen sind voll von einer heimlichen Drohung, die nur über kleinen Mädchen zu schweben scheint. 

Das süße Rotkäppchen geht seine Großmutter im Wald besuchen. Im Dunkeln lauert der Wolf und wartet auf den Leckerbissen. Rotkäppchen und die Großmutter sind, wie wir erfahren, beide der wölfischen Kraft und Schläue hilflos ausgeliefert. Die großen Augen, die großen Hände, das große Maul: „Dass ich dich besser sehen, packen, fressen kann.“ Der Wolf frisst beide ohne Zeichen von Kampf. 

Doch da naht der Jäger, der wird das ungeheuerliche Unrecht wieder gutmachen. Der gute Jäger ist stärker und schlauer als der Wolf. Einige Schnitte mit einem Messer, und Rotkäppchen und seine Großmutter gelangen, gerettet aus dem Bauch des Wolfes, ins Freie. „Ach, wie war’s so dunkel in dem Wolf seinem Leib!“, ruft Rotkäppchen und denkt: „Du willst dein Lebtag nicht ­wieder allein vom Wege ab in den Wald laufen …“

Die aktuelle Januar/Februar-EMMA gibt es als Print-Heft oder als eMagazin im www.emma.de/shop
Die aktuelle Januar/Februar-EMMA gibt es als Print-Heft oder als eMagazin im www.emma.de/shop

Rotkäppchen ist eine Vergewaltigungsparabel. Schreckliche Männer, mitunter Wölfe genannt, streichen durch die Wälder. Frauen sind ihnen hilflos ausgeliefert. „Geh hübsch sittsam und lauf nicht vom Wege ab. Nur keine Abenteuer! Wenn du Glück hast, findest du einen guten, freund­lichen Mann, der dich vielleicht vor bestimmtem Unheil bewahren kann.“ (Mae West sagte einmal: „Komisch, jeder Mann, den ich kennenlerne, will mich beschützen. Ich weiß gar nicht wovor?“) 

In der Klischeeliste der Märchen gibt es wohl einen Hans, der Riesen tötet, Rotkäppchen aber muss nach einem freundlichen Beschützer ­Ausschau halten. Wer noch Zweifel an dieser sublimen Botschaft hegt, der lese nach, wie es Peter erging, als er seinem Wolf begegnete, oder noch besser, wie sich die drei kleinen (männlichen) Schweinchen mit ihrer Überlebenstaktik gegen den bösen Wolf behaupten. Angst vor dem bösen großen Wolf? Sie nicht!

Die unablässigen Bemühungen der Frauen­bewegung um bessere Information der breiten Öffentlichkeit über das Verbrechen dürften mit der Zeit dazu beitragen, dass Frauen bereitwilliger Anzeige erstatten, wenn sie von Männern vergewaltigt werden, die sie kennen. Dann werden solche Fälle auch mit der Ernsthaftigkeit behandelt werden, die ihnen zukommt. Unterdessen geht die Polizei allerdings noch immer davon aus, dass eine Frau, die von einem Bekannten vergewaltigt worden ist, „es sich hinterher anders überlegt hat“. 

Zeugenaussage: „Ich wurde mit 17 von meinem Verlobten vergewaltigt. Es war der Abend, bevor er mit der US-Marine auslaufen sollte. Bis dahin hatte ich, entsprechend den religiösen und gesellschaft­lichen Normen, mit denen wir aufgewachsen sind, versucht, so zu sein, wie er mich haben wollte. Während der ganzen Zeit unseres Verlöbnisses spielte ich die erwartete Rolle, beugte mich seinem Urteil, gab nach in Gesprächen und kleidete mich sogar so, wie er es wünschte. Ich benahm mich, wie es sich gehörte, und ordnete mich unter. Und ich war Jungfrau, und immer, wenn er mich drängte, mit ihm zu schlafen, sagte ich: Nein, noch nicht, das gehört sich nicht. Als wir an jenem Abend miteinander ausgingen, stieß er mich auf den Rücksitz seines Wagens und hielt mich fest. Ich gab auf. War nicht schließlich von mir erwartet worden, mich ihm in allem unterzuordnen?“ 

Zeugenaussage: „In der psychologischen Literatur steht immer wieder, dass der Kampf zum Sexualakt gehört. Im College kannte ich in der Abschlussklasse bestimmt 15 Kerle, die das unheimlich drauf hatten. Je mehr du dich gewehrt hast, je versessener waren sie, mit dir zu schlafen. Und was solltest du schon machen, um 2 Uhr morgens auf dem Parkplatz? Rausgehen und weglaufen? Klar, aber viele Mädchen bringen’s halt nicht.“

Das Verhalten der Frauen in Situationen vor einer Vergewaltigung ist wichtig und bedarf näherer Analyse. Ebenso entscheidend ist das Verhalten der Frauen während der Tat selbst. Wehren sich die Frauen und können sie sich erfolgreich wehren? Aus der Kriminalstatistik des FBI für 1973 ist ersichtlich, dass ein Viertel aller gemeldeten Vergewaltigungen nicht vollendet war. Die Polizei registrierte diese Fälle als Vergewaltigungsversuch und Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Vergewaltigung. Wenn man es positiv wertet, ist das eine verblüffende Zahl. Gewiss wollten die Vergewaltiger die Tat vollenden. Was hielt sie ab?

Zeugenaussage: „Ich wehrte mich. Ich trat dem Kerl in die Eier und machte ihn krankenhausreif. Dabei war ich erst 17. So gab’s keinen Fall von Ver­gewaltigung, aber beinah einen Mordfall. Jedenfalls sagte die Polizei, wenn der Kerl stirbt, wäre ich wegen Totschlags dran. Können Sie sich das vorstellen, ich wollte Anzeige wegen versuchter Vergewal­tigung erstatten, und da sagten sie auf der Polizei: ‚Hast du dem armen Kerl nicht schon genug angetan?‘ Ihre Sympathie war auf seiner Seite. Mich nannten sie einen ausgeflippten aggressiven Hippie.“

Menachem Amir, der sich nur mit Opfern vollendeter Vergewaltigungen befasste – anders gesagt, mit Opfern, die bei der Begegnung unstreitig verloren hatten – und sich dabei an die Polizeiakten hielt, kam zu dem Ergebnis, dass 55 Prozent ein Verhalten gezeigt hatten, das er gefügig nennt, 27 Prozent geschrien und/oder zu fliehen versuchten und weitere 18 Prozent sich mit Tritten, Schlägen oder Werfen von Gegenständen zur Wehr gesetzt hatten. 

Die Frauen erklärten bei den Speak-Outs, dass sie überzeugt waren, sterben zu müssen

Bei der ersten öffentlichen Aussprache (speak-out), die von den New Yorker Radical Feminists veranstaltet wurde, erklärte die Mehrzahl der betroffenen Frauen, sie seien nach dem Angriff überzeugt gewesen, dass sie sterben müssten. „Da ging es nicht um eine sexuelle Handlung, die ich über mich ergehen lassen musste, ich hatte das Gefühl, ich würde ermordet“, erinnert sich eine Frau. Bei späteren Veranstaltungen dieser Art kam dieses Thema immer wieder zur Sprache.

Zwei Mitarbeiterinnen vom Boston College, die Dozentin für Krankenpflege Ann Wolber ­Burgess und die Assistentin für Soziologie Lynda Lythle Holmstrom, befragten 80 Vergewaltigungsopfer, die in die Notfallstation des Boston City Hospitals eingeliefert worden waren. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie im American Journal of Nursing. Die Hälfte der Frauen ihrer Erhebung waren mit einer Waffe bedroht worden; weitere 21 Prozent tätlich angegriffen und 12 Prozent hatten sich verbalen Drohungen gefügt. Nach längeren Interviews mit den betroffenen 80 Frauen kamen die beiden Wissenschaftlerinnen einmütig zu dem Schluss: „Die erste Reaktion fast aller Frauen auf die Vergewaltigung war Angst, das heißt, Angst um ihr Leben.“ 

Es kann nicht genug betont werden, dass die Anpassung des Opfers an die vermeintlichen Spielregeln keine Gewähr dafür bietet, dass der Vergewaltiger sich auch daran hält. Mehrere Opfer des Würgers von Boston (darunter Evelyn Corbin und Beverly Samans) sind durch seinen Würgegriff so in Panik versetzt worden, dass sie sich, wie DeSalvo gestanden hatte, bereitwillig fesseln und vergewaltigen ließen. Umgebracht hat er sie trotzdem. Ihr Verhalten hat ihnen nichts eingebracht. 

Im Fall von Richard Speck war es 1966 einem einzigen, allerdings mit einem Messer bewaffneten Mann gelungen, acht Schwesternschülerinnen dazu zu bewegen, sich fesseln und eine nach der anderen aus dem Zimmer holen zu lassen. Die einzige Überlebende des Massakers war eine 23-jährige Philippinin namens Corazon Amurao, die den anderen vorgeschlagen hatte, gemeinsam zu fliehen. Ihre Mitschülerinnen rieten ihr, nicht in Panik zu geraten und nichts zu unternehmen, was den Täter provozieren könnte. Sie waren alle der Meinung, im Nebenzimmer würde „lediglich vergewaltigt“. 

Corazon Amurao versteckte sich unter dem Bett, und Speck verzählte sich im Blutrausch. Alle anderen Mädchen gingen wie Lämmer zur Schlachtbank. Am folgenden Morgen wurden acht Leichen gefunden, aufgeschlitzt und erwürgt.

Im Jahr 1972 wurde ich von der New Yorker Polizeiakademie eingeladen, ein Seminar für Polizeileutnants abzuhalten, die sich auf die Beförderung zum Hauptmann vorbereiteten. Als ich über Vergewaltigung sprach, stieß ich bei allen anwesenden Männern auf Lachen und Feixen. Ein Leutnant rief mir zu: „Sie glauben doch selbst nicht, Süße, dass es so was wie Vergewaltigung gibt!“ „Sie nicht?“ „Neeein!“ kam es fast einstimmig aus dem Saal. 

Monate später ging ich zu meinem Polizeirevier in Greenwich Village und bat den Wachtmeister, mir einige Kriminalstatistiken über Vergewal­tigungen zu zeigen. In jenem Monat waren 35 Anzeigen wegen Vergewaltigung eingegangen, eine Steigerung von zehn Fällen gegenüber dem gleichen Monat des Vorjahrs. Die Polizei hatte zwei Verhaftungen vorgenommen. „Keine sehr eindrucksvolle Aufklärungsquote“, meinte ich. „Ach, machen Sie sich darüber keine Sorgen“, beruhigte mich der Beamte. „Sie wissen doch, was das für Anzeigen sind?“ „Was denn für welche?“ „Das sind Prostituierte, die ihr Geld nicht bekommen haben“, sagte er und klappte das Buch zu.

Brenda Brown stellte in ihrer Untersuchung fest, dass in Memphis nur ein Prozent aller Ver­gewaltigungsopfer Prostituierte waren. In dem Bericht an ihre Auftraggeber heißt es: „Dies berechtigt zu einigen Zweifeln an der zählebigen, aber bequemen Behauptung, viele Opfer von Vergewaltigungen seien in Wahrheit Prostituierte, die ihr Geld nicht hätten eintreiben können.“ 

Als die Stadt New York eine weibliche Unter­suchungskommission mit der Analyse von Vergewaltigungen beauftragte, kamen die Polizeibeamtinnen zu dem Ergebnis, dass nur 2 Prozent aller Vergewaltigungsanzeigen falsch waren, ein Prozent­anteil, der etwa dem anderer Delikte entspricht. 

Wollen Frauen vergewaltigt werden? Sehnen wir uns nach Demütigung?

Als niederdrückendes Nebenergebnis der Untersuchung bemerkten die Verfasser, die meisten Frauen, die Anzeige erstatteten, seien nicht darüber unterrichtet worden, dass ihre Anzeigen für unbegründet gehalten wurden. Der Polizei beim ersten Verhör unglaubwürdig erscheinende Frauen wurden lediglich als „Nachforschungen von Privatpersonen“ abgeheftet. Es kam auch vor, dass die Polizei eine Frau, die Anzeige erstattete, nach Hause schickte, ohne ihre Aussage zu Protokoll zu nehmen, oder das Verfahren, ohne irgendwelche Ermittlung anzustellen, einstellte. 

Da solche Anzeigen niemals als Vergewaltigungsfälle Eingang in die Polizeiakten finden, folgerten die Autoren der Untersuchung, dass die Gesamtzahl der „unbegründeten“ Fälle weit höher zu veranschlagen sei, als es nach den offiziellen Unterlagen den Anschein hat. „Wahrscheinlich erklärt die Polizei mindestens 50 Prozent der Anzeigen wegen Vergewaltigung für unbegründet.“

Wollen Frauen vergewaltigt werden? Sehnen wir uns nach Demütigung, Erniedrigung und Verletzung unserer körperlichen Integrität? Haben wir ein psychisches Bedürfnis danach, dass man uns Gewalt antut? Muss eine Feministin sich mit einer so absurden Frage befassen? Wir kommen nicht umhin, uns damit auseinanderzusetzen, denn es ist eine Sache der Kultur, in der wir leben, von der wir geprägt sind und zu der jeder sogar seinen Teil beisteuert.

Ich geriet als sehr junges Mädchen an Helene Deutschs Theorie vom weiblichen Masochismus als wesentlichem Element der Weiblichkeit und erotischen Vergnügens. In allen populären Büchern und Zeitschriftenartikeln, die damals den Frauen beizubringen versuchten, ihre weib­liche Rolle zu „akzeptieren“, wurde Deutsch ehrfürchtig zitiert. Seit jener Zeit ist Helene Deutsch für mich ein Symbol für Frauenfeindlichkeit. Meiner Ansicht nach hat sie den Frauen, wie auch Freud, wirklichen – und unermesslichen – Schaden zugefügt. 

Dennoch möchte ich in aller Deutlichkeit betonen, dass die „Psychologie der Frau“ ein Pionierwerk ist. Das tapfere Werk ist die kompromisslose Erforschung des erbärmlichen Sexualempfindens der vom Patriarchat konditionierten Frau. Rigide freudianisch bis zum Schluss, hat Helene Deutsch Vorgefundenes für das Notwendige gehalten, und das ist ihre und unsere Tragödie.

„Alle Frauen wollen vergewaltigt werden.“ – „Keine Frau kann gegen ihren Willen vergewaltigt werden.“ – „Sie wollte es ja.“ – „Wenn du vergewaltigt wirst, entspann’ dich doch und hab deinen Spaß!“ Das sind die tödlichen männlichen Vergewaltigungsmythen, die Schlagworte, die das weibliche Sexualverhalten geprägt und verzerrt haben. Diese Mythen spiegeln die Einstellung der meisten Männer wider, und die männliche Macht gründet sich gerade darauf, dass es ihnen gelungen ist, Frauen von der männlichen Ideologie zu überzeugen. Die Frau zur willigen Teilnehmerin ihrer eigenen Niederlage zu machen, ist halb gewonnenes Spiel.

Eingebunden in eine ausgetüftelte Terminologie, bilden die männlichen Mythen der Vergewaltigung den Grundstock der meisten pseudowissenschaft­lichen Untersuchungen weib­licher Sexualität, und viele sogenannte Experten für Sexualverbrechen führen sie im Munde. Sie haben ihren Niederschlag in der Literatur gefunden; der schmutzige Witz lebt davon. Bewusst verschleiern sie, was Vergewaltigung in Wirklichkeit ist.

Da vier von fünf Vergewaltigungen nicht angezeigt werden, darf man wohl mit Fug und Recht behaupten, dass es für Frauen keine leicht zu erhebende Anklage ist. Und wenn Frauen doch Anzeige erstatten, müssen sie sehr bald feststellen, dass die Anklage im Gegenteil schwer zu beweisen ist.

Vor Gericht werden Frauen als Opfer und Täter zugleich behandelt

Für die beklagte Partei dagegen, sei sie noch so schuldig oder unschuldig, ist eine erfolgreiche Verteidigung geradezu ein Kinderspiel – es sei denn, der Beklagte lebt als Neger in den amerikanischen Südstaaten und ist angeklagt, eine Weiße vergewaltigt zu haben.

Wovon soll ein Gericht ausgehen? Da ist die unter Eid gemachte Aussage der Frau, die behauptet, vergewaltigt worden zu sein, und die eidliche Aussage des Mannes, der die Tat leugnet. Es gibt eine Vielzahl von Strafrechtsfällen, in denen ein Gericht „Eid gegen Eid“ abwägen muss, und seit es Gerichte gibt, ist verurteilt oder freigesprochen worden, je nachdem wessen Eid das Gericht Glauben zu schenken beschloss. Vergewaltigung ist das einzige Verbrechen, bei dem das Opfer weiblich, der Täter hingegen männlich ist. Vor Gericht wird das Opfer zur „Belastungszeugin“ – oder krasser noch zur „Anklägerin“. 

Zeugenaussage: „Ich versteh das nicht. Es war, als sei ich die Angeklagte und er der Kläger gewesen. Ich stand doch nicht vor Gericht! Ich sehe überhaupt nicht ein, dass ich etwas Unrechtes gemacht haben soll. Ich habe geschrien und mich gewehrt. Wie kommen sie dazu, ihn für unschuldig zu erklären und zu behaupten, ich hätte mich nicht gewehrt?“

Zeugenaussage: „Sie haben meine ganze Vergangenheit breitgewalzt und mich gezwungen, all ­dieses Auf und Ab noch einmal nachzuvollziehen. Derweil saß er – umringt von seinen Anwälten – schweigend auf der Anklagebank. Natürlich ist das sein gutes Recht, aber es sah halt so aus, als wäre ich diejenige, die vor Gericht stand.“ 

Das Gesetz hält es für höchst unwahrscheinlich, dass ein Mensch freiwillig sein Geld einem Räuber gibt oder sich bereitwillig prügeln, misshandeln und verletzen lässt. Von den Opfern einer Vergewaltigung und anderer sexueller Übergriffe werden all diese Beweise verlangt, weil das Gesetz bisher noch nicht in der Lage war, zwischen einem Akt gemeinsam gewünschter sexueller Vereinigung und krimineller sexueller Aggression zu unterscheiden.

Die meisten Vergewaltigungen werden nicht mit einem Messer, einer Pistole begangen. Weit häufiger wird zu Anfang gewürgt, hart zugefasst, geschlagen, gestoßen, an den Kleidern gerissen, mit Tod oder Entstellung gedroht, oder durch die bloße Anwesenheit mehrerer Täter eingeschüchtert. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass jede einzelne dieser Situationen ausreicht, um ein Opfer vor Schrecken erstarren zu lassen und seinen Widerstandswillen zu lähmen.

Die heute üblichen Kriterien zur Beurteilung von Widerstand oder Einwilligung in einer gewalttätigen oder bedrohlichen Situation haben niemals Angst und Schrecken des Opfers hinreichend zu fassen vermocht. Angst ist eine psy­chische Reaktion und kein objektiv messbares Verhalten, das man sechs Monate später vor Gericht an einer Tabelle ablesen könnte; die Zahl der Freisprüche ist ein Beleg dafür. 

Aus diesem Grund hält die feministische Bewegung es für höchst ungerecht, dass den Opfern von Vergewaltigungen eine besondere Beweislast aufgebürdet wird, dass sie nachweisen müssen, „in vernünftiger Weise“ Widerstand geleistet zu haben, und dass ihr schließliches sich Fügen kein Hinweis für „Einverständnis“ war. Da solche Kriterien auch nicht an das Verhalten anderer Gewaltverbrechen angelegt werden, sollte das Gericht die Möglichkeit erhalten, die Aussage des Opfers als solche zu berücksichtigen, das heißt das, was in ihr zum Ausdruck kommt – nicht mehr und nicht weniger, ein Recht, das auch anderen Opfern zugebilligt wird.

Es wird aber nicht nur die Reaktion des Opfers während der Tat gemessen und gewogen, sondern außerdem die sexuelle Vergangenheit des Opfers gründlich erforscht, und dies unter der Annahme, dass sie Aufschluss über die „Neigung zur Einwilligung“, über Glaubwürdigkeit, Aufrichtigkeit oder Hang zur Verlogenheit der betroffenen Frau zu geben vermöchte. 

Die sexuelle Vergangenheit des Opfers wird vor Gericht erforscht

In der Praxis geht das so vonstatten, dass Informationen über die sexuelle Vergangenheit einer Frau vom Gericht dazu benutzt werden, sich ein moralisches Urteil über sie zu bilden, und in diesem Zusammenhang kommen all die alten Mythen über Vergewaltigung ins Spiel, denn es herrscht weiterhin das Gefühl, eine tugendhafte Frau könne nicht vergewaltigt werden oder bringe sich nicht in Situationen, in denen sie sich einem Überfall ausliefere. 

Das Verbrechen der Vergewaltigung muss von allen hergebrachten Vorstellungen über Sittlichkeit losgelöst werden, denn der Begriff Sittlichkeit setzt voraus, dass es die Pflicht der Frau (nicht jedoch des Mannes) sei, sich aller geschlechtlichen Beziehungen außerhalb der Ehe zu enthalten. Die Mär von der „Unsittlichkeit“ sexuell aktiver Frauen ist nichts als männliche Ideologie, welche die Frau als sein reines Gefäß betrachtet. Formulierung und Begriff „Unbescholtenheit“ müssen als Nachteil und Voreingenommenheit gegenüber einer Klägerin aus dem juristischen Sprachschatz gestrichen werden. 

Eine Reform der geltenden Gesetze und Anfang bei der Formulierung von Tatbeständen zum Schutz gegen sexuelle Aggression müssen einhergehen mit einer Reform der Strafverfolgung. Die Frage, wer die Gesetze interpretiert und wer ihre Übertretung verfolgt, ist ebenso wichtig wie der Inhalt der Gesetze selbst. Gegenwärtig sehen sich weibliche Opfer sexueller Gewaltverbrechen bei der Polizei und vor Gerichten männlichen Autoritätspersonen gegenüber, deren männliche Einstellungen, Wertvorstellungen und Ängste die Verletzte eindeutig auf die Anklagebank verbannen.

Neuere Untersuchungen beweisen, dass weibliche Polizeibeamte ebenso erfolgreich Streithähne beruhigen und Verhaftungen vornehmen wie ihre männlichen Kollegen Und dass sie ihre Arbeit in potenziell gewaltträchtigen Situationen leisten, ohne zu unnötiger Gewalt – die zu Recht als Etikett „Polizeiterror“ verdient – Zuflucht zu nehmen.

Ich werfe nicht gern leichtfertig mit dem Begriff „revolutionär“ um mich, doch eine volle Integrierung der Frau in die städtischen Polizeibehörden – und mit voll meine ich fünfzig zu fünfzig und nicht weniger – ist ein revolutionäres Ziel von größter Bedeutung für uns Frauen. Und wenn wir weiterhin Armeen unterhalten, was vermutlich noch eine Zeitlang der Fall sein wird, so müssen sie auch darin voll integriert werden. Kurz, der gesamte staatliche Machtapparat (ich meine Macht in körperlichem Sinn) muss männlicher Vorherrschaft und Kontrolle entkleidet werden, wenn die Frauen nicht länger kolonisierte Protektorate der Männer sein sollen.

Feministinnen (und alle rechtschaffenen Menschen) müssen darauf hinarbeiten, das Problem Vergewaltigung mit der Wurzel auszureißen. Wenn wir von der grundlegenden Wahrheit ausgehen, dass Vergewaltigung kein Verbrechen irrationalen, spontanen unkontrollierbar triebhaften Ursprungs ist, sondern ein bewusster, feindlicher, gewalttätiger Akt der Demütigung und Inbesitznahme von Seiten eines Möchte-gern-Eroberers; eine Tat, die einschüchtern und Angst verbreiten soll, dann müssen wir in unserem Kulturbereich nach jenen Elementen forschen, die diese Einstellungen fördern und propagieren. Wir müssen die Faktoren untersuchen, die in unserer Gesellschaft den Männern, und besonders den jungen, noch eindrucksfähigen männlichen Jugend­lichen, welche die Hauptgruppe potenzieller Vergewal­tiger bilden, die ideologische und psychische Rückendeckung für ihre Aggressionshandlungen gibt.

Warum sollte Mann, etwas, das er kaufen kann, nicht auch umsonst kriegen?

Der Mythos vom heroischen Vergewaltiger, der – angefangen vom erfolgreichen Verführer bis zum Mann, „der sich nimmt, was er will, wenn er will“ – einen falschen Begriff von Männlichkeit vermittelt, wird den Jungen von dem Zeitpunkt an eingeimpft, da ihnen zum ersten Mal bewusst wird, dass Mann sein heißt, Zugang zu gewissen mys­teriösen Riten und Privilegien zu haben, einschließlich des Rechts, sich den Körper einer Frau zu kaufen. Wenn junge Männer erfahren, dass man Frauen für Geld kaufen kann und dass für Sexualakte Preise festgesetzt werden, warum sollen sie dann nicht schlussfolgern, dass etwas, das käuflich ist, auch ohne höflichen Anstand des Geldaustauschs genommen werden kann?

Pornografie ist, wie auch Vergewaltigung, eine männliche Erfindung, dazu bestimmt, die Frau zu entmenschlichen, sie auf ein sexuelles Opfer zu reduzieren, und nicht dazu, die Sinnlichkeit von moralistischen oder elterlichen Zwängen zu befreien. Grundlage der Pornografie wird immer die Zurschaustellung des weiblichen nackten Körpers, der Brüste und Genitalien sein, weil der Mann es so will, dass der nackte Körper die „Scham“ der Frau sei, ihre Intimbereiche der Privat­besitz des Mannes, wohingegen sein Teil das uralte, heilige, universelle, patriarchalische Machtinstrument sei, Insignium seiner Gewaltherrschaft über die Frau.

Pornografie ist Anti-Frauen-Propaganda in unverdünnter Konzentration. Jene, die so schnell Methode und Absicht der mächtigen Propagandamaschinerie des Dritten Reiches durchschauten, die systematisch verbreiteten antisemitischen Karikaturen und Obszönitäten, welche die ideo­logische Grundlage für Massenmord und End­lösung abgaben, genau die gleichen, die von Schwarzen erleuchtet, ihr Bewusstsein durchforschten und endlich begriffen, dass ihre Toleranz gegenüber „Nigger“-Witzen und den Darstellungen schlurfender, Augen rollender, serviler Negergestalten in Filmen nur die Ideologie von der Minderwertigkeit der Schwarzen perpetuierte und die Grundlage zur Fortsetzung der Unterdrückung der Schwarzen bildete – diese Gleichen halten heutzutage inbrünstig daran fest, Hass und Verachtung von Frauen, die in den Obszönitäten der scheinheilig als „erotische“ Bücher und Filme „für Erwachsene“ bezeichneten Machwerke zum Ausdruck kommen, seien eine begrüßenswerte Erweiterung des Rechts auf „freie Meinungsäußerung“, die von der Verfassung geschützt werden müsse.

Der Frauenbewegung ist es gelungen, Vergewaltigung zu einem Verbrechen zu erklären, über das man reden kann und dessen die Frau sich nicht zu schämen braucht. Sie hat damit den ersten Vergeltungsschlag geführt in diesem Krieg, der so alt ist wie die Zivilisation. 

Als wir vor einigen Jahren mit unseren ­Speak-Outs über Vergewaltigung begannen, Konferenzen abhielten, für einen Nachmittag einen kirchlichen Gemeindesaal und für ein Wochenendseminar die Aula einer Highschool und mehrere Klassenräume mieteten, da hielt die Welt draußen, die Welt außerhalb des radikalen Feminismus, das alles für recht lustig.

„Über Vergewaltigung wollt ihr reden? Nicht zu glauben! Das soll ein politisches Verbrechen gegen Frauen sein? Wie kann ein Sexualdelikt politisch sein? Bei euch sind tatsächlich Frauen, die von ihren eigenen Erfahrungen berichten und darüber, was hinterher bei der Polizei, im Krankenhaus und vor Gericht geschah? Das gibt’s doch nicht.“

Und dann verstummte das nervöse Gekicher, das Verwirrung, Angst und Scham verrät, und an seine Stelle trat die dunkle Ahnung, dass die Frauen, indem sie wagten, über das Unaussprechliche zu sprechen, noch einen anderen, vielleicht den wesentlichen Faktor unserer Unterdrückung aufgedeckt hatten: historische Unterdrückung, ein bewusster Prozess der Einschüchterung, der Einflößung von Schuld und Angst.

Innerhalb von zwei Jahren hörte die Welt draußen auf zu lachen, und die Frauenbewegung ging dazu über, außer Speak-Outs, Konferenzen und internen Selbsterfahrungsgruppen „Krisenzen­tren für Vergewaltigungsfälle“ („rape crisis centers“) einzurichten, mit rund um die Uhr besetzten Telefonen, um Vergewaltigungsopfern mit Rat, rechtlichen Informationen und schwesterlicher Solidarität zur Seite zu stehen. Frauen, die vor Jahren vergewaltigt worden waren und nie Gelegenheit hatten, sich mit anderen Frauen darüber auszusprechen, wurde die Möglichkeit gegeben, ihrem unterdrückten Zorn Luft zu machen.

Wir riefen Studiengruppen ins Leben, die Gesetzesentwürfe auf neuer Grundlage erarbeiteten und auf Kongressabgeordnete einwirkten, damit sie eine Reform der Gesetzgebung befürworten. Wir entwickelten Anti-Vergewaltigungs-Prospekte in Verbindung mit der Notfallstation eines städtischen Krankenhauses und in enger Zusammenarbeit mit Polizeibeamtinnen neu gebildeter Abteilung zur Bekämpfung von Sexualverbrechen. Mit Flugblättern, Leserbriefen, Aufklebern, Steckbriefen und Kampfparolen wie „Stoppt Vergewaltigung“, „Krieg – Frauen gegen Vergewaltigung“, „Zerschlagt den Sexismus, entwaffnet die Vergewaltiger“ und Kursen in Selbstverteidigung erhoben sich die Frauen und ergriffen die Offensive.

Männer wissen, dass sie kämpfen können. Frauen wissen das nicht

Ich bin der Meinung, dass noch so gute Gesetze gegen Vergewaltigung und deren noch so strikte Anwendung durch verantwortungsbewusste Bürger nicht ausreichen, um das Problem aus der Welt zu schaffen. Die große Grauzone sexueller Ausbeutung bliebe bestehen: Frauen, die weder physisch noch psychisch in der Lage sind, sich zur Wehr zu setzen, werden weiterhin zu Sexualakten genötigt werden, die sie nicht wollen. Dieses Problem geht über die Möglichkeiten rechtlicher Lösungen hinaus.

Die zahlreichen Fälle sexueller Nötigung spiegeln nicht nur die männliche Ideologie der Vergewaltigung, sondern auch eine Lähmung des weiblichen Willens wider, Folge bewusster, wirksamer, destruktiver „weiblicher“ Konditionierung. In einer sexuell aggressiven Situation ist die größere psychische Stärke der Männer entscheidender für den Ausgang des Kampfes als ihre Überlegenheit an Körpergröße und Gewicht. Sie wissen, dass sie kämpfen können. Von Kindesbeinen an haben sie ihren Körper im aggressiven Wettkampf trainiert und sind darin bestärkt worden. Junge Mädchen lernen dagegen, körperliche Auseinandersetzungen, gesunden sportlichen Wettkampf und das Gewinnen zu verabscheuen, weil solche Aktivitäten die konventionelle gesellschaftliche Norm vom angemessenen, damenhaften weiblichen Verhalten gefährden. Im Kampf um die Gleichheit ist der gesunde Geist im gesunden Körper eine unabdingbare Notwendigkeit.

Diese Erkenntnis und die Chance, sie in die Praxis umzusetzen, ist genau das, was Frauen ­bislang aufgrund ihrer Konditionierung nicht gewollt haben. Kein Wunder also, wenn sie bei der Konfrontation mit physischer Aggression die Fassung verlieren und zu jeder Willensäußerung unfähig werden. Wir wurden darauf trainiert, zu weinen, zu schmeicheln, zu bitten und uns nach männlichen Beschützern umzuschauen, aber wir haben nie gelernt, zu kämpfen und zu gewinnen.

Zurückschlagen! Wie seltsam war es, als ich zum ersten Mal in meinem Leben hörte, dass Frauen zurückschlagen können und sollten, dass sie einen natürlichen Vorteil voll ausnutzen sollten, dass es in unserem eigenen Interesse ist zu lernen, wie das zu bewerkstelligen ist.  Vergewaltigung kann beseitigt, nicht nur kon­trolliert oder auf individueller Basis verhindert werden. Doch es ist eine Arbeit auf lange Sicht, sie erfordert Kooperation und Verständnis und guten Willen von vielen Männern wie Frauen.

Es ist meine Absicht gewesen, mit diesem Buch der Vergewaltigung ihre Geschichte und Vergangenheit zu geben. Jetzt müssen wir ihr die Zukunft verweigern.

SUSAN BROWNMILLER

Der Text ist ein Auszug aus: „Gegen unseren Willen“ (1978). Susan Brownmiller: „Gegen unseren ­Willen“ (ebook Fischer Verlag, Ü: Yvonne Carroux, 7.99 €). Einsehbar u.a. im FrauenMediaTurm - Mehr aus der EMMA-Reihe "Feministische Vordenkerinnen" Einsehbar auch im Archiv Frauen­MediaTurm, frauenmediaturm.de

Ausgabe bestellen
Anzeige
'
 
Zur Startseite