Die nicht existierende Modekrankheit
Erschöpft, verdrossen, leer – jeder hat eine intuitive Vorstellung davon, was Burnout ist. Die inflationäre Verwendung des Begriffs suggeriert zudem, eine ganze Gesellschaft sei psychisch erschöpft. Wenn es also ein Leiden gibt, das zu einer Epoche passt, das zu ihrer Gestaltung und Definition beiträgt, dann ist es am Anfang des 21. Jahrhunderts das Burnout.
Im Mittelalter war es die Pest, in der Renaissance die Melancholie, in der Aufklärung die Syphilis und im frühen 20. Jahrhundert die Tuberkulose. Und jetzt: die emotionale Erschöpfung am Beruf, die negative Einstellung zu dessen Inhalten und Konditionen und der Leistungsabfall am Arbeitsplatz. Laut Schätzungen der Betriebskrankenkassenleiden neun Millionen Menschen unter Burnout. Bezieht man diese Zahl auf die Gruppe der Erwerbstätigen, müsste jeder vierte ArbeitnehmerIn ausgebrannt sein.
Burnout ist demnach eine Epidemie – abereine, für die es keine einheitliche, international gültige Definition gibt. Der Begriff ist eine Metapher, keine wissenschaftliche Kategorie. Er wird immer wieder neu erfunden und mit Inhalten und Emotionen aufgeladen. Er enthält das, was man hineinlegt: Für Frauen ist das oftmals ihre Doppelrolle in Beruf und Familie oder ihre traditionelle Opferbereitschaft, für Männer der Stress am Arbeitsplatz. Doch weder die Internationale Klassifikation der Krankheiten noch das Diagnostische und Statistische Handbuch psychischer Störungen listen Burnout als eigenständige Erkrankung auf.
Es fehlt auch ein allgemein anerkanntes Instrumentarium, um die Störung von anderen Krankheiten abzugrenzen, etwa einer Depression oder einer Angsterkrankung. Trotzdem wird Burnout laufend diagnostiziert. Vor allem HausärztInnen bescheinigen ihren PatientInnen Burnout, Fachärzte eher selten. Das dabei als Burnout zu gelten hat, entscheiden die Mediziner nach Gutdünken – weil sie keine anerkannten diagnostischen Kriterien für die Diagnose haben.
Es gibt auch keine seriösen wissenschaftlichen Belege für ein geschlechtsspezifisches Burnout. Es lässt sich also nicht sagen, Frauen seien häufiger betroffen als Männer. Burnout ist ein berufsbezogener Begriff. Die erste Definition geht auf den Psychoanalytiker Herbert Freudenberger zurück. Anfang der 1970er Jahre arbeitete er bis zu 18 Stunden täglich, was ihm erhebliche psychische und psychosomatische Störungen einbrachte. In feiner Selbstbeobachtung notierte er deren Auswirkungen und schloss daraus, dass die Gestaltung von Arbeitsplatz und Arbeitszeit krank machen kann.
30 Jahre später beansprucht jeder den Begriff, der sich überlastet oder berufsverdrossen fühlt: vom Leistungssportler bis zur Hausfrau. Die Zahl der Definitionen der „Krankheit“ liegt im dreistelligen Bereich. Die meisten Ärzte verstehen unter Burnout einen Zustand aus arbeitsbedingter Erschöpfung, Selbstentfremdung, Zynismus und geringem Leistungsvermögen. Die Betroffenen fühlen sich gestresst und unzufrieden, sind ängstlich und nieder geschlagen, halten sich für minderwertig und ziehen sich aus den sozialen Beziehungen zurück.
Im praktischen Alltag werden noch Dutzende weiterer Symptome zum Burnout hinzugerechnet: etwa verstärkte Anspannung, Schlafstörungen, Unruhe, Konzentrationsschwäche, mangelnde Motivation und reduzierte Arbeitsleistung. Für Dieter Korczak von der GP Forschungsgruppe – Institut für Grundlagen- und Programmforschung in München sind diese Zuschreibungen ein beliebiger Katalog negativer Befindlichkeitsstörungen, die keine Rückschlüsse auf die Ursache der Symptome zulassen. In der wissenschaftlichen Literatur werde die Störung deshalb auch als „randunscharfe Menge“ bezeichnet, so der Medizinsoziologe im Gespräch. Er hat, zusammen mit Christine Kister und Beate Huber, einen HTABericht (Health Technology Assessment) zum Burnout verfasst. Auftraggeber ist das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information.
Genauso vage wie der Begriff ist auch die Diagnose. Der am häufigsten verwendete Fragebogen stammt von Christina Maslach. Dieser Fragebogen messe aber nur das, was von den beliebigen Symptomen und Befindlichkeitsstörungen in die Fragen hineingelegt worden sei, sagt Korczack. Aber ob es sich dabei tatsächlich um Burnout handele, sei unklar, schließlich könne nichts gemessen werden, was nicht zuvor verbindlich definiert worden sei. Der Fragebogen setzt auch nur auf die Selbstauskunft der Betroffenen. Es gibt keine Instrumente zur Fremdbeurteilung.
Wenn Burnout eine arbeitsbedingte Störung sei, so Korczak weiter, müsste es auch Auslöser geben, die sich einem Außenstehenden erschließen. Nur so könne ein reales Burnout – was immer dies laut einer einheitlichen Definition zu sein habe – von einem bloßen Gefühl des Burnouts abgegrenzt werden. Weil diese Störung keine von den Krankenkassen anerkannte Krankheit ist, weichen die Ärzte bei der Behandlung ohnehin auf andere Diagnosen aus. Sie therapieren dann zwar ein nach ihrem Ermessen vorliegendes Burnout-Syndrom, rechnen es aber gegen - über den Krankenkassen als „Depression“ oder eine andere psychische Erkrankung ab. Dadurch werden auch die diagnostischen Zuschreibungen verzerrt.
Auch die Ursachen des Burnouts sind unklar. Ein Erklärungsmodell macht allein die Persönlichkeitsstruktur verantwortlich.Weil die Betroffenen übertrieben opferbereit seien, einem falsch verstandenen Idealismus nachhängen und sich nicht von ihrem Perfektionismus lösen könnten, komme es früher oder später zur emotionalen Erschöpfung. Die Betroffenen scheitern also an ihren eigenen falschen Ansprüchen.
Ein weiteres Erklärungsmodell sieht die Ursache in den veränderten Arbeitsbedingungen. Weil den Arbeitnehmern immer mehr Verantwortung aufgebürdet werde, ihnen gleichzeitig aber immer weniger Unterstützung zuteil würde, fühlten sie sich mit der Zeit „ausgebrannt“. Kritisch seien demnach die Arbeitszeitverdichtung und die veränderten Rahmenbedingungen.
Ein dritter Erklärungsansatz macht die gesellschaftlichen Entwicklungen verantwortlich. Die zunehmende Vereinsamung, die veränderten Kommunikationsformen und die wachsende Anonymität in der Gesellschaft führten mit der Zeit zum Burnout. Eine intakte Familie und ein gutes soziales Netzwerk gelten als heilsam. – Vielleicht spielen aber auch alle Faktoren zusammen.
Der HTA-Bericht fordert, dass eine einheitliche, international gültige Definition und klare Diagnosekriterien für Burnout entwickelt werden. Das wäre auch im Hinblick auf die enormen Kosten nötig, die den Krankenkassen durch die wahllose Zuschreibung entstehen.
Der HTA-Bericht macht aber auch deutlich, dass es offensichtlich eine gesellschaftliche Grundstimmung gibt, nach der die beruflichen Anforderungen schnell als Überforderung wahrgenommen werden. Immer mehr Menschen können belastende Arbeits- und Lebensumstände anscheinend nicht mehr selbst entschärfen. Der Burnout-Begriff bietet diesen Menschen die Möglichkeit zu zeigen, dass sie unter den Arbeitsbedingungen leiden, ohne eine Stigmatisierung befürchten zu müssen. Denn Burnout-Opfer können mit Anteilnahme oder einem mitfühlenden Nicken rechnen, während psychisch Kranke oft ausgegrenzt werden.
Die Autorin ist Molekularbiologin und freie Wissenschaftsjournalistin.