Bystander-Syndrom: Der Stoff, aus dem

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Nur etwa jeder siebte schreitet couragiert ein und versucht, von Gewalt bedrohten Menschen zu helfen. Geliebte Kinder sehen weniger weg.

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Der Amoklauf von Erfurt fand erst sein Ende, als sich der mutige Lehrer Rainer Heise dem Täter entgegenstellte. Nach Einschätzung der Polizei wäre die Zahl der Todesopfer sonst vermutlich noch erheblich größer gewesen. Für diese Erkenntnis, wonach das couragierte Einschreiten einer Person der kriminellen Gewalt Grenzen setzen und sie im günstigen Fall sogar völlig verhindern kann, gibt es eine Fülle von wissenschaftlichen Belegen. Besonders eindrucksvoll sind dabei die Untersuchungen amerikanischer Forscher zum sogenannten Bystander-Syndrom.
In einer Serie von Experimenten haben die Wissenschaftler heimlich beobachtet, wie Menschen darauf reagieren, wenn jemand in der U-Bahn zunächst aggressiv beschimpft und dann tätlich angegriffen wird. Auf die von Schauspielern täuschend echt gespielten Szenen reagiert die große Mehrheit mit Wegschauen und Passivität. Nur etwa jeder Siebte versucht dem bedrängten Menschen zu helfen. Wenn aber sofort eine Person die Initiative ergreift und die anderen auffordert, sich gemeinsam der Gewalt entgegenzustellen, ändert sich die Szene. Die Quote derjenigen, die nun zum Einschreiten bereit sind, verdoppelt sich.
Ein einzelner mutiger Mensch kann offenbar beträchtliche Ansteckungswirkung entfalten und auf diese Weise der Gewalt Einhalt gebieten. Durch sein Vorbild entsteht auf einmal eine Kultur des Hinschauens und Sich-Verantwortlich-Fühlens. Verbindet man diese Erkenntnis mit dem, was sich aus der Begegnung des Amokläufers mit seinem Lehrer gezeigt hat, dann lässt sich daraus eine erste These ableiten: Je stärker in einer Gesellschaft die Bereitschaft ausgeprägt ist, sich der Gewalt entgegenzustellen und sich für Menschen in Not einzusetzen, um so weniger Chancen gibt es für gewalttätiges Handeln. Oder anders ausgedrückt: Wenn wir die Entstehung von Zivilcourage fördern, leisten wir wirkungsvolle Gewaltprävention.
Betrachten wir vor diesem Hintergrund die bisherige Debatte des Erfurter Geschehens, dann fällt auf, dass sie sich sehr einseitig auf den Täter konzentriert. Natürlich muss gefragt werden, was den 19-jährigen Robert Steinhäuser geprägt und zu seiner Tat motiviert hat. Erst eine gründliche Analyse der Entstehungsbedingungen seines Amoklaufes versetzt uns in die Lage, Handlungskonzepte dafür zu entwickeln, wie wir das Risiko solcher Gewaltakte reduzieren können. Aber dabei sollten wir nicht stehen bleiben. Voraussetzung für die Entwicklung eines umfassenden Präventionskonzeptes ist auch, dass wir die Frage einbeziehen, woher es kommt, dass manche Menschen sich durch ein hohes Maß an Zivilcourage auszeichnen.
Wenden wir uns zunächst den Tätern zu. In Deutschland hat hier vor allem der Psychiater Lothar Adler umfangreiche Studien durchgeführt. Danach ist zunächst zu beachten, dass es ein breites Spektrum von Amokläufern gibt – vom Akteur eines erweiterten Selbstmordes angefangen über den, der wahllos in eine Menschenmenge schießt, bis zum Täter, der aus Rache ein schreckliches Blutbad anrichtet. Bei allen Unterschieden gibt es aber doch eine Fülle von Gemeinsamkeiten.
So handelt es sich bei den Tätern nahezu durchweg um Männer. Bei der Altersgruppe des Erfurter Täters beispielsweise liegt die Quote der registrierten Gewalttaten im Jahr 2000 um das 2,5-fache über der der gleichaltrigen Frauen (1,9 % zu 0,15 %). Im Vergleich zu "normalen Gewalttätern" verfügen Amokläufer auch erheblich häufiger über eine gehobene Ausbildung. Meist sind sie isolierte Einzelgänger, vertrauen sich kaum anderen Menschen an, sind im Kern ich-schwach und unsicher. Dem stehen nicht selten übertriebene Leistungsansprüche gegenüber, denen sie kaum gerecht werden können. Niederlagen, Zurückweisungen und Kränkungen können sie deshalb nur schwer verkraften. Ihre Frustrationstoleranz ist extrem niedrig. Die Schuld an belastenden Vorgängen wird den anderen zugeschoben – der Gesellschaft generell oder denen, die einem Schmerz zugefügt haben. Gegen die richten sich dann ungezügelte Wut und Hass.
Die eigene Schwäche kompensieren die Amokläufer sehr oft dadurch, dass sie sich Schusswaffen zulegen, zu denen sie dann eine geradezu erotische Beziehung entwickeln. "Das Gewehr ist die Braut des Amokläufers", kann man in Abwandlung eines veralteten Militärspruches formulieren. Die Waffe vermittelt das Gefühl von Macht und Überlegenheit. Und vor allem bei den jüngeren Amokläufern, die in den letzten Jahren durch ihre Taten weltweit Entsetzen ausgelöste haben, fällt dabei eines auf: Ihre Tötungsfantasien haben sie an Bildern konkretisiert, die ihnen Computerspiele oder Horrorfilme ins Haus geliefert haben.
Das trifft für die Schüler von Littleton ebenso zu wie auf den Täter von Reichenhall oder den 19-jährigen Robert Steinhäuser. Ihr Amoklauf orientiert sich im Geschehensablauf bis in kleine Details an dem, was ihnen am Bildschirm vorexerziert worden ist oder was sie in Interaktion mit den Spielvorgaben am PC geübt haben. Die Frage, ob dieser teilweise exzessive Medienkonsum als eine Hauptursache der Tat zu bewerten ist oder ob er lediglich die Ausführungsart eines bereits bestehenden Mordplanes beeinflusst hat, kann damit freilich noch nicht beantwortet werden. In der Wissenschaft werden beide Thesen vertreten. Plausibel erscheint zumindest, dass sich derartige PC-Spiele und Filme bei den hoch gefährdeten jungen Männern desensibilisierend auswirken und dazu beitragen, Tötungshemmungen abzubauen sowie den Tatplan zu konkretisieren.
Auf eine Besonderheit der Amokläufer hat Hans-Joachim Neubauer aufmerksam gemacht. Seine Untersuchung zu den Tat-Abläufen zeigt für viele eine weit reichende Übereinstimmung ihres Vorgehens. Sie inszenieren die Tat wie ein Schauspiel, in dem sie gleichzeitig der Regisseur und der Held sind. Bewusst wird als Tatort der öffentliche Raum gewählt. Man braucht Publikum. Der Akteur selber kostümiert sich. Oft wählt er das kriegerische Outfit des Rambo-Kämpfers oder das Image des schwarz gekleideten, maskierten Rächers. Offenkundig legen sie darauf an, mit ihrer Tat berühmt zu werden - einmal im Mittelpunkt des Medieninteresses zu stehen. Diese Fantasie entschädigt für das Loser-Image, unter dem sie im Alltag leiden.
In Erfurt ist diese Inszenierung des großen Show-downs dann jedoch durch die Begegnung mit dem Lehrer Heise unterbrochen worden. Auf einmal steht dem Amokläufer da jemand gegenüber, der nicht in Panik flüchtet, sondern Auge in Auge den Kontakt sucht. Und weil der Täter die Maske abgenommen hat, kann er ihn anreden: "Robert ..." Damit ist der Bann gebrochen. Das Spiel ist aus. Robert Steinhäuser ist zurück in der Realität. Des Mordens müde, bringt er sich um.
Doch was wissen wir eigentlich über die Menschen, die in derart kritischen Situationen Courage zeigen oder, wenn sich andere in Not befinden, couragiert eingreifen? Was sind das für Menschen, die ihre Angst überwinden können und die Kraft haben, in derart kritischen Situationen ihrer inneren Stimme zu folgen und geradezu instinktiv das Richtige zu tun? Auch darüber geben wissenschaftliche Experimente Auskunft. Das berühmte Forschungsexperiment von Milgram ist ja nicht nur dafür genutzt worden herauszufinden, wer den Anordnungen des autoritären Wissenschaftlers Folge leistet und bereit ist, den Gegenüber bis zur Todesgrenze mit Stromschlägen zu quälen. Man hat das Experiment auch dafür genutzt, die Minderheit der Menschen genauer zu untersuchen, die sich den Anordnungen des Wissenschaftlers von Beginn an widersetzt haben.
Einen ganz anderen Weg zur Erforschung der Genese von Zivilcourage sind die Wissenschaftler gegangen, die sich Ende der 70er Jahre auf die Suche nach Menschen begeben haben, die in der Zeit des Nationalsozialismus unter Inkaufnahme beträchtlicher eigener Risiken Juden gerettet hatten. Die dazu vom Ehepaar Oliner und Eva Fogelman vorgelegten Forschungsberichte beruhen auf den Angaben von knapp 400 solcher Personen. Die Erkenntnisse lassen sich in vier Punkten zusammenfassen:
Gewaltfreie Erziehung fördert den aufrechten Gang. Menschen mit ausgeprägter Zivilcourage hatten ganz überwiegend Eltern, die sie bei Konflikten nicht autoritär oder mit Gewalt zu disziplinieren versucht haben, sondern mit ihren Kindern fair und argumentativ umgegangen sind. Und wenn es bei einigen ausnahmsweise dann doch einmal eine Ohrfeige gegeben hat, dann wurde darüber gesprochen. Liebevolle Erziehung fördert Empathie, fördert die Fähigkeit, Mitleid zu empfinden, und damit auch die Bereitschaft, sich für den leidenden Menschen einzusetzen. Alle Judenretter hatten Eltern, die sehr liebevoll mit ihnen umgegangen sind, die ihnen so ein hohes Selbstwertgefühl vermitteln konnten und sich engagiert mit ihren Kindern über das auseinander gesetzt haben, was richtig und falsch ist. Auffallend ist ferner, dass es sich hierbei nicht um die Gluckenliebe gehandelt hat, die sich auf die eigenen Küken beschränkt. Mindestens einer der Elternteile wird als jemand beschrieben, der sich engagiert für andere Menschen in Not eingesetzt hat und so zum Vorbild für die Tochter oder den Sohn werden konnte.
Ebenso fördert eine ausgeprägte Gleichrangigkeit der Eltern die Entstehung einer innengesteuerten Moral und damit eine stabile Wertorientierung. Insbesondere Forschungen zur Entstehung des moralischen Bewusstseins haben gezeigt, dass die Kraft der inneren Stimme und damit die Stärke des Gewissens wesentlich davon abhängt, wie die Eltern miteinander bei Konflikten umgehen. Wenn in der Familie stets der Vater dominiert, weil er das Geld verdient und über die größte Körperkraft verfügt, fördert das bei den Kindern eine eher opportunistische Grundeinstellung. Man beugt sich den Machtverhältnissen. Recht hat der, der über die stärkeren Ellenbogen verfügt. Wer dagegen innerfamiliär demonstriert bekommt, dass die Position Oberhand behält, die besser begründet wird, wer erfährt, dass es zwischen den gleichrangigen Eltern bei Konflikten ein wechselseitiges Nachgeben gibt, der entwickelt eine starke Orientierung an Grundwerten.
Auch fördert eine Kultur der Anerkennung couragiertes Verhalten. Die Judenretter haben in ihren Lebensberichten deutlich gemacht, dass sie keineswegs immer mutig und hilfsbereit waren. Die Stärke, ihrer Überzeugung entsprechend zu handeln, hatten sie dann, wenn sie in einer Gruppe verankert waren, in der man sich gegenseitig gestützt hat. Ein wichtiges Element war dabei, dass man positiv wahrgenommen wurde, wenn man sich trotz aller Ängste mutig und engagiert verhalten hat. Diese im engeren sozialen Umfeld erlebte Kultur der Anerkennung für moralisch richtiges Verhalten ist danach offenkundig ein zentrales Stabilisierungselement.
Die oben angesprochenen geschlechtsspezifischen Unterschiede zeigen sich im Übrigen auch im Hinblick auf die Positiv-HeldInnen. Hier dominieren die Frauen. Das zeigt sich bei den U-Bahn-Experimenten, bei denen Frauen häufiger als Männer bereit waren, einem bedrängten Menschen beizustehen. Und es bestätigt sich bei den Judenrettern, die trotz eigener Lebensgefahr ihnen völlig fremden Menschen Unterschlupf gewährt oder zur Flucht verholfen hatten. Wenn es dagegen galt, einen jüdischen Freund/eine Freundin zu retten, reagierten Frauen wie Männer gleich.
Bei den Amokläufern und aller Gewaltkriminalität dominieren klar die Männer. Wenn es dagegen darum geht, Menschen in Not beizustehen oder in einer Risikosituation couragiert einzugreifen, kann man eher auf die Frauen zählen.
Wie entsteht dieses unterschiedliche Verhalten? Eltern reagieren nach wie vor unterschiedlich auf Tränen ihrer Kinder. Während bei Mädchen das Tröst-Verhalten klar im Vordergrund steht, müssen weinende Jungen offenbar weit häufiger mit Ablehnung rechnen. Stil: "Du bist doch keine Memme". Kinder scheinen diese Verhaltensmuster im Umgang miteinander zu reproduzieren. Auch durch Gleichaltrige werden Jungen viel häufiger als Mädchen dazu angehalten, Tränen herunterzuschlucken, Gefühle zu unterdrücken und nach außen cool aufzutreten. Die Vermutung liegt nahe, dass dies bei den Jungen dazu beiträgt, sich nicht nur gegen eigene Gefühle einen Panzer zuzulegen, sondern auch gegenüber dem Leiden anderer Menschen.
Jungen wie Mädchen wurden 1998 vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen im Rahmen einer repräsentativen Jugendstudie dazu befragt, wie wohl ihre Eltern, Freunde und Bekannten reagieren würden, wenn diese erfahren, dass sie auf dem Schulhof jemanden nach einem Streit massiv zusammengeschlagen hätten. Die Mädchen prognostizierten fast durchweg heftigen Tadel von Seiten der Eltern und überwiegend starke Ablehnung durch Gleichaltrige. Von den Jungen dagegen erwartete jeder Fünfte nach einer derartigen Geschichte zumindest von den Vätern Akzeptanz oder gar Lob; eine stark negative Reaktion sahen weniger als die Hälfte voraus. Und im Hinblick auf ihre Freunde und Bekannten prognostizierten sie ganz überwiegend Zustimmung.
Für die Tagträume von Jungen wie Mädchen spielen die Idole eine wichtige Rolle, die ihnen in den Medien angeboten werden. Man träumt davon, so zu werden wie die Helden der Leinwand. Aber das Rollenangebot fällt hier extrem unterschiedlich aus. Den Jungen treten ganz überwiegend Macho-Helden gegenüber, die sich im rücksichtslosen Kampf bewähren, sich mit Gewalt durchsetzen und damit großen Erfolg bei den Frauen ernten. Für die Mädchen dagegen gibt es nur wenig Identifikationsmuster, die gewalttätiges Verhalten in den Vordergrund stellen. Nach wie vor dominieren die Rollen der Geliebten des starken Mannes oder solcher Frauen, die gestützt auf zivile Tugenden Erfolg haben.
Für die Jungen hat die Dominanz der Macho-Angebote im Übrigen eine problematische Konsequenz. Für diejenigen, die sich damit stark identifizieren, ergibt sich das Problem, dass sie sich dadurch weit von der Alltagsrealität der Ausbildung und des Berufslebens entfernen. Denn dort sind neuerdings Teamfähigkeit und kommunikative Kompetenz gefragt, und solche jungen Männer sind erwünscht, die keine Probleme damit haben, eine Frau als Vorgesetzte zu akzeptieren. Das schafft bei den Betroffenen zusätzliche Verunsicherung und Frust. So schließt sich der Kreis.
Christian Pfeiffer, EMMA 4/2002
Prof. Christian Pfeiffer ist Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen
und verantwortlich für mehrere Langzeituntersuchungen bei Jugendlichen und ihren Familien. Von Dezember 2000 bis März 2003 war er niedersächsischer Justizminister.

In EMMA u.a. zum Thema:

Amoklauf in Winnenden (3/2009)

Werden aus Erfurt wirklich Lehren gezogen? (4/2002)

Einsame Cowboys (5/2000)

Schule & Gewalt (5/2000)

Was ist ein richtiger Junge? (5/2000)

Gewaltzone Schule (2/2000)

Jagd auf Lehrerinnen (1/2000)

Wie Jungen zu Killern gemacht werden, Dave Grossman (1/2000)

Gewalt hat ein Geschlecht, Prof. Pfeiffer (1/2000)

Massaker in Montreal: Kein Zufall (2/1990)

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