Caroline Darian: Von Liebe und Hass
Am 1. November 2020 postet Caroline Darian ein Foto ihres sechsjährigen Sohnes auf Facebook. Er trägt eine Corona-Maske, denn die muss er jetzt zum ersten Mal in der Schule tragen. Ihr Vater Dominique Pelicot reagiert sofort: „Mein armer kleiner Tom. Viel Glück bei diesem etwas speziellen Schulbeginn. Dein Opa, der dich lieb hat.“ Tochter Caroline ahnt da noch nicht, dass dies der letzte persönliche Austausch mit ihrem Vater sein wird. Denn einen Tag später bricht die Hölle los.
Am 2. November ruft Gisèle Pelicot ihre Tochter an und berichtet von dem Unfassbaren, das ihr Mann Dominique ihr angetan hat: Er hatte sie, nachdem er sie bewusstlos gemacht hatte, über fast zehn Jahre über hundert mal vergewalltigt und über 80 Männer dazu eingeladen, sie ebenfalls zu missbrauchen. Die Tochter war fassungslos: „Ich breche zusammen. Ich klammere mich an meinen Mann, bin am Boden zerstört. Das Atmen fällt mir schwer.“
Caroline Darian führt bis zu diesem Tag ein ganz normales Leben. „Ich bin 42 Jahre alt, habe einen Beruf, der mich begeistert, einen Ehemann, ein Kind, ein Haus. Mein Alltag dreht sich um meinen Mann, meinen Sohn, meine Arbeit, meine Hobbys, meine Eltern, meine Geschwister und meine Freunde. Alles ist vollkommen banal. Aber niemand weiß den Wert des Banalen zu schätzen, solange er es nicht verloren hat.“
"Wo ist der Vater hin, der mich zur Schule brachte und mich bei allem unterstützte?"
Der einfühlsame Post des liebenden Großvaters, den Caroline Darian gleich am Anfang ihres Buches zitiert, zeigt, wie groß, ja gigantisch der Schock gewesen sein muss. Und wie unfassbar das, was sie an diesem 2. November begreifen musste. Denn ihr Vater Dominique war kein Säufer, kein Schläger, kein Ehemann oder Vater, der seine Familie immer schon drangsaliert oder gar malträtiert hätte. Er war ein fürsorglicher Ehemann und Großvater, der mit seinen Enkelkindern spielte und auch schon seinen Kindern ein guter Vater gewesen war.
Und so sind die ersten 50 Seiten des Buches „Und ich werde dich nie wieder Papa nennen“ von Caroline Darian, das jetzt auf Deutsch erschienen ist, ein Zeugnis der Fassungslosigkeit über das Ungeheuerliche, das sich in dieser scheinbar so normalen Familie zugetragen hat.
Die Tochter: „Ich sehe dich wieder am Steuer deines schwarzen, voll beladenen Renault 25 sitzen, beim Aufbruch in die Ferien. Du reißt Witze, machst Barry White an und nickst im Takt, du singst den Refrain mit und bist genauso aufgedreht wie wir Kinder, die wir eng zusammengequetscht auf der Rückbank sitzen. Dieses glückliche Bild zerspringt gerade.“
Vatertochter Caroline fragt sich: „Wer ist mein Vater wirklich? Wo ist der hin, der mich einst so verhätschelt hat? Wo ist der hin, der mich zur Schule brachte, der mich bei meinen sportlichen Aktivitäten unterstützte, meinem Studium, meinen Projekten und später dann bei meinen beruflichen Entscheidungen? Der sich um seine Enkel kümmerte, mit ihnen spielte, den sein Familienleben auszufüllen schien? Wie kann man so viele Jahre lang ein Doppelleben führen und die Welt täuschen?“
Auf den ersten Schock folgt für Caroline bald der zweite: Es gibt auch Fotos von ihr.
Die Erkenntnis, dass Vergewaltiger keine Monster sind, sondern auch ganz normale Väter, Nachbarn und Kollegen sein können, die ist keineswegs neu. Sie gehörte zu den zentralen Botschaften der Frauenbewegung, als sie in den 1970er Jahren das epidemische Ausmaß des sexuellen Missbrauchs und der sogenannten „Häuslichen Gewalt“ aufdeckte. Alles Verbrechen, die seltener vom bösen Fremden im dunklen Park begangen werden, sondern vom netten Papa und Opa in den eigenen vier Wänden. Doch der Fall Pelicot zeigt wie durch ein Brennglas diese „Banalität des Bösen“.
Auf den ersten Schock folgt für Caroline Darian bald der zweite. Die Polizisten zeigen ihr nach denen von ihrer Mutter Fotos von einer weiteren Frau, die sie zunächst nicht erkennt, nicht erkennen will. Doch ein Polzist insistiert: ‚‘Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen die Frage stelle: Sie haben doch sehr wohl einen braunen Fleck auf Ihrer rechten Wange, genau wie diese junge Frau auf den beiden Fotos, nicht wahr?‘ Ich schaue mir die beiden Fotos noch einmal an. Und dann macht es klick. Ein Prickeln läuft durch meinen Körper, ich sehe Sternchen, Flecken hindern mich, klar zu sehen, es brummt in meinen Ohren. Ich falle nach hinten.“
Caroline Darian muss begreifen, dass der Vater auch sie ausgezogen und fotografiert hat. Er wird im Prozess bestreiten, sie auch missbraucht zu haben, aber die Frage bleibt. Caroline Darian muss sich kurzfristig in der Psychiatrie behandeln lassen. Das Gericht wird Pelicot später „nur“ wegen der „Aufnahme und Verbreitung von Bildern sexuellen Charakters“ seiner Tochter verurteilen.
Tochter Caroline ist entsetzt, dass ihre Mutter ihr nicht zu glauben scheint
Als Gisèle Pelicot erfährt, dass ihr Mann auch die Tochter betäubt und Aufnahmen von ihr gemacht hat, treibt das einen Keil zwischen Mutter und Tochter. Auch die heute als Heldin gefeierte Gisèle Pelicot ist, wie so viele Mütter, nicht davor gefeit, das Unaushaltbare durch Verdrängung aushaltbar zu machen. „Bist du sicher, dass du das auf den Fotos bist?“ fragt sie Caroline. Die ist entsetzt, dass die Mutter ausgerechnet ihr nicht zu glauben scheint.
„In diesem Augenblick begreife ich, dass Mama und ich niemals dieselbe Wahrnehmung seiner Persönlichkeit und seiner Handlungen haben werden. Ich spüre, dass sie sich hinter einer Art Leugnung verschanzt, ein Schutzmechanismus, bei dem ich ausrasten könnte, stünde sie vor mir.“
Entgeistert erlebt die Tochter, wie ihre Mutter auf einen larmoyanten Brief von Dominique Pelicot mit einem Anflug von Mitleid reagiert und ihrem Peiniger sogar eine Tasche mit warmer Kleidung ins Gefängnis bringt. Sie kann es nicht fassen, dass der Vater die Familie weiter manipuliert. Denn genau das, so stellt sich rückblickend heraus, hat er eigentlich immer getan. Das Bild vom treusorgenden Familienvater bekommt nun auch im Rückblick von Tochter Caroline Risse.
Dominique Pelicot machte Schulden und lieh sich ständig Geld von seiner Tochter
Sie erinnert sich, wie der Vater sich ohne zu fragen ihr selbstverdientes Geld von einem Sommerjob „auslieh“. Wie er mit dem von seinen drei Kindern gepumpten Geld mal wieder eins seiner „Unternehmen“ in den Sand setzte. Wie einmal der Gerichtsvollzieher kam und die Wohnung ausräumte, so dass die Familie Weihnachten ohne Möbel da saß. Wie er seine Frau einmal am Hemdkragen hochhob und an die Wand drückte, weil die ihn wegen seiner ewigen Schuldenmacherei verlassen wollte. Und wie sich nach seiner Verhaftung herausstellte, dass er einen gewaltigen Schuldenberg angehäuft hatte, vor dem die von ihm missbrauchte Ehefrau nun auch noch stand.
Das Zerwürfnis zwischen Mutter und Tochter wird größer. „Hör auf, dich zu quälen, dein Vater kann so etwas nicht getan haben. Ich kann das nicht hinnehmen, es würde mich endgültig zerstören“, sagt Mutter Gisèle zu Tochter Caroline, die inzischen überzeugt ist, dass der Vater auch sie vergewaltigt hat. Die Tochter versteht, dass ihre Mutter in den „Überlebensmodus geschaltet hat“, leidet aber darunter, dass ihre Mutter offenbar „die Machenschaften meines Vaters immer noch nicht durchschaut“.
Als ihr Buch in Frankreich erscheint, hat der Prozess in Avignon noch nicht begonnen und Caroline Darian weiß nicht, dass ihre Mutter sich entscheiden wird, ihn öffentlich zu führen und das gegen den Willen des Richters erkämpft. Mutter und Tochter werden Seite an Seite ins Gericht gehen, vorbei an applaudierenden Frauen, die zu Recht den Mut von Gisèle Pelicot feiern.
"Ich bin überzeugt, dass mein Engagement für die Sache der Frauen erst beginnt"
„Ich weiß noch nicht, was mich erwartet, wenn ich das Wagnis eingehen werde, diesen Bericht zu veröffentlichen, aber ich bin überzeugt, dass mein Engagement für die Sache der Frauen erst beginnt“, schreibt Caroline Darian am Ende ihres im April 2022 in Frankreich erschienenen Buches.
Tatsächlich werden Mutter und Tochter die Kraft finden, ihr persönliches Grauen in ein gesellschaftliches Engagement für alle missbrauchten Frauen zu verwandeln. Caroline gründet die Initiative „M’endors pas“ (Betäube mich nicht), mit der sie das Ausmaß der „soumission chimique“, der chemischen Unterwerfung, öffentlch macht. Auch die Tochter gibt damit (potenziellen) Opfern eine Stimme. Sie kämpft nicht nur um das eigene Überleben, sondern auch um Aufmerksamkeit für das Problem und Schutz vor Tätern. Deren Opfer ihre Mutter in einem Ausmaß geworden ist, das die Welt erschüttert hat.
„Heute stehen viele kompetente Verbände, die sich für die Sache der Frauen einsetzen, viel zu sehr allein vor dieser gewaltigen Aufgabe, und die Opfer sind viel zu oft terrorisiert, mundtot gemacht durch die Angst, aber auch gehemmt durch die Last der Scham und der Schuldgefühle“, schreibt sie. „Meine Mutter ist, wie so viele andere Frauen, an nichts schuld. Wehren wir uns gegen das Unerträgliche.“
CHANTAL LOUIS
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