Knobloch ist gewählt
Sie ist die letzte Überlebende an der Spitze des 'Zentralrates der Juden in Deutschland' – und sie kennt die Schatten- und Lichtseiten ihres Vaterlandes.
Einstimmig hat das Präsidium des Zentralrats der Juden in Deutschland die Münchnerin zur Nachfolgerin von Paul Spiegel gewählt, und damit zur ersten Frau in dieser Position. Als Schwerpunkte ihrer Arbeit nannte Charlotte Knobloch "die Integration der Neuzuwanderer aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion und den Kampf gegen Fremdenhass und Antisemitismus." Beobachter sind sich einig, dass die Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in München und Vizepräsidentin des 'World Jewish Congress' die Kompetenz und Erfahrung für das neue Amt mitbringt.
Mit der Wahl der geborenen Münchnerin wird wohl zum letzten Mal eine Überlebende an der Spitze der jüdischen Gemeinden im Land des Holocaust stehen. Ihre Mitmenschen lernte Charlotte schon als kleines Mädchen auch von ihrer dunkelsten Seite kennen. Von einem Tag auf den anderen wollten nicht einmal die Nachbarskinder mehr mit ihr spielen. Die zum Judentum konvertierte Mutter hielt dem Druck nicht stand und trennte sich von ihrem Mann, einem jüdischen Anwalt, im Jahr 1936. Als 1938 Charlottes Vater auf der Straße von der Gestapo verhaftet wird, ergreift eine fremde Frau mit Kinderwagen die Hand des kleinen Mädchens und geht einfach weiter mit ihr. Und als die Familie einige Zeit später aufgefordert wird, eines ihrer Mitglieder zum Appell zu schicken, ist es die geliebte Großmutter, die sich freiwillig meldet, um die Enkelin zu schützen. Die Großmutter überlebt das KZ Theresienstadt nicht.
Doch das Kind wird von Kreszentia Hummel, dem Dienstmädchen ihres Onkels, mit in deren fränkisches Heimatdorf genommen – und dort als das ihre ausgegeben. Auch von übler Nachrede und Rufen – wie "Schande!" – lassen sich die mutige Kreszentia und ihre Bauernfamilie nicht erschüttern: Sie stehen alles durch, bis die Gefahr vorüber ist. Als Charlottes um Jahrzehnte gealterter Vater Wochen nach der Befreiung seine Tochter abholen will, erkennt sie ihn kaum.
Wie so viele, will auch Charlotte Neuland nach dem Grauen nach Amerika auswandern, zusammen mit Samuel Knobloch, der das KZ Buchenwald überlebt hat und den sie 1951 heiratet. Doch die junge Frau wird schwanger – und das Ehepaar bleibt. Ihr Mann starb 1990, doch ihr bleiben drei Kinder und sieben Enkelkinder, wenn die neue Aufgabe fürs Großmuttersein auch wenig Zeit lassen wird.
Beharrlichkeit ist eine der wichtigsten Eigenschaften von Charlotte Knobloch. In den letzten sechs Jahren überzeugte sie durch ihre Arbeit als Vizepräsidentin des Zentralrats, die ihr offensichtlich Freude machte. Und so schaffte sie den Aufstieg in höchste jüdische Gremien. Seit 1985 steht sie der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern vor, der inzwischen zweitgrößten jüdischen Gemeinde in Deutschland. Religiös wird in München mehrheitlich die orthodoxe Tradition gepflegt und das bedeutet, dass in der Synagoge nur die Männer zählen. Trotzdem ist Knoblochs Position als Gemeindepräsidentin – das heißt in allen weltlichen, also politischen und administrativen Fragen – unangefochten.
Charlotte Knoblochs größter Wunsch, ihr ehrgeizigstes Vorhaben, war die Entstehung eines neuen Jüdischen Zentrums im Herzen der Stadt München. 18 Jahre lang verhandelte und kämpfte sie für das Jüdische Zentrum am Jakobsplatz. Gelungen ist ihr die Realisierung dieses größten Bauvorhabens einer jüdischen Gemeinde in Mitteleuropa, weil sie viele dafür begeistern konnte.
Am 9. November 2003 fand die Grundsteinlegung statt. Damals sagte Charlotte Knobloch: "Heute fühle ich mich heimgekommen – und kann endlich meine Koffer auspacken." Sie ließ sich auch nicht davon irritieren, dass eine Gruppe militanter Neonazis ausgerechnet den Festakt mit einer Bombe hatte sprengen wollen – wichtiger ist ihr die Zustimmung der Stadt und die Zuneigung der Bürger.
Charlotte Knobloch versteht sich als Bürgerin, das heißt als selbstbewusstes Mitglied dieser Gesellschaft, und nicht als Mitbürgerin – wie es oft so gönnerhaft jüdischen Menschen gegenüber heißt. Deutsch und Münchnerisch sind ihre Muttersprache, Beharrlichkeit und Realitätssinn charakteristisch für Charlotte Knobloch. Sie handelt seit jeher nach dem Motto: "Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren." Und so überrascht es auch nicht, dass sie in ihrer ersten Pressemitteilung im neuen Amt rechte Gewalt und Holocaust-Leugnung ins Visier genommen hat: "Lassen wir das Ansehen unseres Landes in der Welt nicht durch Nazi-Parolen zerstören." Und zur Teilnahme des Iran bei der WM sagt die frisch gekürte Zentralrats-Präsidentin: "Ich hoffe auf ein klares Signal der Bundesregierung. Holocaust-Leugner sind keine Staatsgäste."
Die Verantwortung für den 'Zentralrat der Juden in Deutschland' ist für die deutsche Jüdin – oder jüdische Deutsche – zweifellos eine gewichtige Angelegenheit. Aber noch bewegender als ihre Wahl zur Präsidentin des Zentralrates wird vielleicht der 9. November 2006 für sie sein. Denn dann wird Charlotte Knobloch an der Eröffnung der neuen Münchner Hauptsynagoge teilnehmen. Dabei wird sie sich vielleicht an die neben den Türmen der Frauenkirche aufragende Kuppel der 1938 zerstörten Hauptsynagoge erinnern. In diese Synagoge war sie als kleines Mädchen bis zum Sommer 1938 an der Hand ihres Vaters gegangen. Das ist fast 70 Jahre her. Damals lebten 550.000 jüdische Deutsche in diesem Land. Heute sind es 105.000 – aber auch das nur dank des Zuzugs der osteuropäischen Juden, vorher waren es nur noch 30.000. Dass Juden und Nichtjuden trotz dieser Vergangenheit eine Zukunft in Deutschland haben, ist nicht zuletzt Menschen wie Charlotte Knobloch zu verdanken.
Ellen Presser, EMMA 4/2006
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